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Ueber das musikalisch Schöne
von
Dr. Adolf Kullak.
Die Untersuchungen über das musikalisch Schöne sind mit den ver-
dienstlichen Bemühungen der letzten Zeit keineswegs erledigt. Die Par-
teiungen der Gegenwart, die Zerklüftung jetziger Kunstrichtungen beweisen
dies am besten. Der junge Komponist ist nicht minder übel daran, als
der begeisterte Dilettant. Dieser steht mit seinem Enthusiasmus in der
Schwebe zwischen alter und neuer Anschauung, jener gewiß empfänglich
und erfüllt von dem Gesammtumfange der Kunst, weiß nicht, ob Zopfmusik
oder Zukunftsmusik in den entscheidenden Erstlingen seiner Production
ihm günstiger eine Laufbahn eröffnen. Die Aesthetik der Tonkunst selbst
aber ist eigentlich in dem Bewußtsein, daß sie noch am Anfange ihrer
Forschung stehe, zu ihrem höchsten Resultat gelangt.
Die Musik hat in den Theorien der allgemeinen Kunstlehre von jeher
Unglück gehabt. Hegel’s Genie für das Allgemeine ästhetischer Er-
kenntniß und sein reiches Wissen in den anderen Kunstgebieten wiegen die
Lücken und das Unvollkommne nicht auf, das sich in dem speciellen Theile
der Musik bei ihm vorfindet. Er mag sich wol mit Recht darüber be-
klagen, daß die Unbildung der praktischen Musiker damaliger Zeit ihm jede
tiefere Aufklärung versagt hat. Sein fleißiger und genialer Schüler
Vischer steht in einem ähnlichen Falle. Reicher, kritischer und fleißiger hat
er das Hegel’sche Material gesichtet, verbessert und ergänzt. Aber gerade
die Musik hat der treffliche Autor zum größeren Theile fremden Händen
überlassen müssen und in den wenigen Auseinandersetzungen, die aus seinem
eigenen Geiste geflossen sind, bewegt er sich einestheils befangener als
sonst, anderentheils verweist er auf das, was gerade noch zu thun sei,
wozu er nichts weiter gebe als Andeutungen und Anfänge.
Wenn es nun nicht recht logisch erscheint, den allgemeinen Schön-
heitsbegriff in einer ausführlichen Wissenschaft zu behandeln, während doch
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ein Theil desselben, die Musik, einer genügenden Durchdringung dabei ent-
behren mußte, so hätte man erwarten sollen, daß die speciellen Versuche
einer musikalischen Aesthetik jenes Allgemeine nicht unbedingt voraussetzen
würden. Sie setzen sich sonst von vorn herein einem Irrthume aus.
Wenigstens müßten sie anerkennen, daß die Gefahr eines solchen in der
allgemeinen Aesthetik vorliegen könne, da das Allgemeine in dem Beson-
deren seine Wahrheit hat, und dies Besondere nicht genügend erkannt war.
— Diese Erwartung wird indeß getäuscht. Die Aesthetik der Tonkunst
von Hand sowol, wie die Broschüre von Hanslick über das musikalisch
Schöne stellen sich von Anfang an auf die allgemeinen Vorarbeiten, wäh-
rend sie ihre Resultate vielmehr mit jenen hätten vergleichen sollen. Man
kann nicht eher eine specielle Aesthetik schreiben, bevor mit der allgemeinen
nicht Alles in Ordnung ist. Eine specielle Musikaesthetik kann daher in
ihrem engeren Begriffe gegenwärtig sich gar nicht rein in sich selbst ab-
schließen; das musikalisch Schöne muß von dem allgemeinen Schönen be-
ginnen und wenn dies letztere mit dem Wahren und Guten zusammenhängt
und aus seinen Verhältnissen zu diesen Begriffen erkannt werden muß,
selbst von diesen allgemeinen Ideen noch einmal anfangen.
Dies Letztere ist um so eher nöthig, da bis jetzt noch keine Einheit
in den Anschauungen dieser Begriffe erreicht ist. Zeising’s geistvolle
Forschungen stehen in vielem der Hegel — Vischer’schen Theorie schroff
entgegen. Neigt sich die Letztere mehr der Idee, als dem Schwerpunkt der
Wahrheit und Wirklichkeit zu, so verweilt Zeising mit einer gewissen
Vorliebe in den sinnlichen Forschungen. Und Niemand wird verkennen, daß
z. B. sein Proportionalitätsgesetz ein epochemachendes Resultat ist. Zei-
sing’s Begriffe haben eine wunderbare Logik und sein Standpunkt ist in
vielem so klar und scharf, daß man durch die Deutlichkeit und Schnellig-
keit seiner Resultate überrascht wird. — Nur ist sein Buch so sehr viel
ärmer an Material als Vischer’s Aesthetik, auch vermengt er Fortschritts-
und Rückschrittsgedanken in dem eigentlichen Fundament seines Stand-
puncts so sehr, daß man sich mehr an Vischer’s Autorität anlehnen möchte.
Das Alles ergiebt aber für die Musik ein recht übles Resultat. Wo
ist das Wahre und Richtige? Wird der Musiker bei all seinen speciellen
Sachkenntnissen seinerseits wieder im Stande sein, das Allgemeine tief
genug, um von der Schwierigkeit des Unparteiischen ganz abzusehen, zu
erfassen? Wird man solchen Unternehmen nicht den Vorwurf der Ueber-
schätzung entgegen halten? Und gleichwol muß es geschehen. Die musi-
kalische Aesthetik hat eben so sehr den Zweck auf das Allgemeine noch ein
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mal zurückzugehen, als sie umgekehrt die Besonderheit von jenem Gesichts-
puncte aus zu beurtheilen und ausführlicher zu behandeln hat. —
Die allgemeine Aesthetik geht in den eigentlichen Streitpunkt der
musikalischen Gegenwart nur vorüberstreifend ein. Der Letztere dreht sich
um die Frage, ob die Musik zu ihrem Inhalt und ihrer Idee nur die formelle
oder die poetische Schönheit haben müsse. Es ist seltsam, daß sich zwei
entgegengesetzte Ansichten auf der Grundlage der Vischer’schen Aesthetik
so weit sie vor dem Erscheinen des speciellen Musiktheiles vor kurzem nur
vorhanden war, geltend gemacht haben: Hanslick’s Broschüre erblickt in
der Form die Schönheitside; weniger ausführlich, nur andeutend, ertheilt
mein Aufsatz „die Tonkunst und ihre Factoren“ der poetischen oder
ideellen Seite das ästhetische Hauptgewicht. Es bedarf kaum der Er-
wähnung, daß außer Vischer’s allgemeinen Forschungen, die besonderen
unschätzbaren Verdienste Brendel’s, sowie zum Theil die Richtung von
Marx wesentlich zu meinem Anhaltepuncte dienten. Hanslick’s Partei
ist eigentlich mehr nach dem Erscheinen seiner Broschüre mit literarischen
Namen hervorgetreten, obwol sie vorher in Zeitschriften genugsam ihren
Gegenton behauptet hat. Es scheint als sei sie zu ihrem Selbstbewußt-
sein erst durch seine Abhandlung herangereift. — Zamminer schließt sich
in seinem Buche „die Musik und die musikalischen Instrumente" ganz
Hanslick’s Ansicht an, nicht minder Zeising in seinen obengenannten
Forschungen, um die Richtung der niederrheinischen Zeitung hier
nur kurz zu berühren.
In der Praxis stehen die Richtungen von Wagner, Berlioz,
Liszt, der großen Zahl der Komponisten alten Styls gegenüber. In
der Theorie nicht minder wie in der Praxis herrscht also Gegensatz,
Streit, Uneinigkeit. Es treibt, es gährt, es drängt einer Entwickelung
entgegen, kurz, wir leben in der unbehaglichen Atmosphäre einer Ueber-
gangsepoche. Wo ist das Ziel, wo ist das Wahre und Richtige? Wer ver-
mag hier zu behaupten, daß sein Ueberblick frei und sicher in dem Wirr-
warr der Ideen das Wahre scheide?
Der specielle Theil der Vischer’schen Musiklehre hat ebenfalls die
Frage nicht gelöst. Er hat sie eigentlich noch mehr verwickelt. Vischer
widerlegt Hanslick zum Theil nur. Er macht auf die widersinnige
Tautologie des Letztern aufmerksam, die das musikalisch Schöne in der
Form sucht, mit derselben den Inhalt aber identificirt, so daß ein Wider-
spruch entsteht. „Die Musik solle keinen Inhalt haben, aber die Form sei
am letzten Ende doch ihr Inhalt.“ An anderen Stellen giebt aber Vi
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scher Hanslick wieder Recht, ja neigt sich in gewissem Sinne ihm ein
wenig entgegen.
Sehr richtig hat Vischer erkannt, daß die Schönheitsidee der Musik
von der Erkenntniß der inneren Unendlichkeit des Gefühles abhängt, daß
die Musik eine Ergänzung der Psychologie zu übernehmen habe, ja, daß
diese letztere Wissenschaft sogar die Theorie der Gefühle zum Theil nicht
anders als mit Hülfe der Musik geben könne. So schickt denn Vischer
eine umfassende Erörterung über das Gefühlsleben voraus, bemerkt aber
gleich dabei, dies sei mehr eine Angabe des Terrains, auf welchem der mu-
sikalische Schönheitsforscher nunmehr fleißige Nachgrabungen vorzunehmen
habe. So sind wir denn aufs neue darauf hingewiesen, meinen obener-
wähnten Standpunct festzuhalten und bei den musikalisch-aesthetischen For-
schungen von elementaren allgemeinen Anfängen immer wieder zu beginnen.
Diesen Standpunct habe ich mich bemüht in einer Broschüre festzu-
halten, welche die allgemeine Schönheitsidee der Musik in ausführlicher
Weise zu ihrem Gegenstande genommen hat. Dieselbe ist noch nicht ganz
vollendet, eilt aber ihrem Abschlusse entgegen. Das Vischer’sche Werk über
den speciellen Theil der Musik gelangte dabei gerade als ich die Theorie
über das Gefühlsleben beedet hatte, in meine Hände. Anfangs glaubte ich
meine Untersuchungen seien dadurch völlig überflüssig geworden. Indeß
die Vischer’sche Theorie über denselben psychologischen Gegenstand scheint
mir nicht ausreichend, und da das Gefühl den einen Hauptfactor der
Musik bildet, so müssen nothwendig auch die darauf gebauten Resultate
anders werden, wenn die Grundlage verschieden ist. Aus diesem Grunde
wird meine Abhandlung meiner wissenschaftlichen Ueberzeugung gemäß
bis zu ihrem Abschluß fortgesetzt werden müssen.
Wie es mir scheint ist die Vischer’sche Gefühlslehre mit Bezug auf
die Musik von vorn herein entworfen. Vischer macht wie Carus das
unerklärliche Etwas, das Dynamische zum Hauptfactor des Gefühles,
und läßt diese Kraft an dem Inhalt möglichst nah vorbeistreifen, ohne ihn
aber zu berühren. Dies würde der Instrumentalmust allerdings ent-
spechen. Es ist aber nicht richtig. Das Gefühl muß für sich in seiner
Selbstständigkeit untersucht, nachher seine Natur mit dem sinnlichen Material
zusammengehalten und aus dieser Verbindung ermittelt werden, welches
Wesen dem von der Idee durchdrungenen sinnlichen Material eigenthümlich
sei. Dies Resultat erzielt den wichtigen Inhalt der Musik. Eine mit
Bezug auf die letztere eingeleitete Untersuchung des Gefühles führt zu einer
Kreis-Bewegung des Gedankens, die mit einer Selbsttäuschung sehr nah
zusammenhängt. Außerdem ist die Vischer’sche Theorie nur zum Theil
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richtig. Das Gefühl ist nur in einem sehr weit vorgerückten, krankhaft ro-
mantischen Zustande zu solcher Inhaltsunsicherheit oder Inhaltslosigkeit
gelangt. Vischer giebt nur einen speciellen Fall der Gefühlserscheinungen.
Ihm steht die Hegel’sche Ansicht (Aesthet. I. S. 83) gerade entgegegen.
Hegel sagt, das Gefühl beruhe wesentlich in seinem Inhalte. Alles
Uebrige sei Nebensache. Dies ist falsch von der entgegengesetzten Seite.
Zu welcher Widersinnigkeit dies führt hat am besten die Hanslick’sche
Schrift bewiesen, die sich wesentlich darauf stützt.
Das Gefühl besteht vielmehr aus zwei Factoren, aus der inneren
Bewegung und dem Inhalte. Die Verschiedenheit der Mischungen und
Verhältnisse dieser beiden Elemente ergiebt die Verschiedenheit der Gefühle.
Die Bewegung ist allerdings der überwiegende Factor. Es ist dem Ge-
fühl immer mehr um die Bewegung als um den Inhalt zu thun. Was
die Charakteristik der ersteren betrifft, so ist Vischer’s Darstellung sehr
treffend. Die Specialität des Inhaltes aber läßt er unberührt. Ein
Buch von Wittmaack, „Geschichte der Seelengefühle“, vor kurzem er-
schienen, behandelt einen Theil der Gefühle ausführlich, und geht gleich-
falls im Gegensatze zu Carus auf die Inhaltlichkeit des Gefühls ein.
Meine Darstellung macht den ersten Versuch die gegenseitigen Beziehungen
beider Factoren genauer zu untersuchen. — Hand’s Aesthetik geht auch
auf beides ein, scheidet es aber nicht scharf genug und hält sich zu allgemein.
Nach der Betrachtung des Gefühles muß das Material, der Ton, un-
tersucht werden. Derselbe hat eine zwiefache Bedeutung, eine sinnliche
und eine inhaltlichgeistige. Die bisherigen Theorien untersuchen die
ersteren gewöhnlich sehr genau, gehen über die letzteren aber leichter hinweg.
Sie führen den Zusammenhang des Tones mit dem Gefühl auf seine sinn-
liche Natur zurück. Vischer stellt die Vermuthung auf, die Nerven müß-
ten gleichfalls Schwingungen machen, und die specifische Natur derselben
begründe den physisch pathologischen Zusammenhang mit den Eindrücken
der Tonerscheinungen, die ähnliche Schwingungen hätten. — Vermuthungen
führen zu nichts. Vielmehr muß die inhaltliche Bedeutung des Tones
hervorgehoben werden. — Diesen Gegenstand hat mein in der neuen Zeit-
schrift erschienener Aufsatz: „die Tonkunst und ihre Factoren“, der bereits
oben erwähnt ist, eingeleitet. — Meine gegenwärtige Abhandlung geht
noch einmal wesentlich darauf ein, und weist nach, wie die Natur (im wei-
testen Sinne) dem Tone Bedeutung und Inhalt verleiht. Zwar ist der
Naturbestand ein nicht so nah an die Kunst herantretender wie in den bil-
denden Künsten, doch aber ist er in zweitem Grade vorhanden, und die
Empirie und der Instinct des Gehöres schöpfen unaufhörlich aus dieser
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Quelle. Das Gehör ist im Gegensatz gegen das Auge der Sinn der Ein-
bildungskraft. Der Gesichtssinn ist der Sinn der prosaischen Gewißheit,
wenigstens im allgemeinen. Dem Gehörssinn die Thätigkeit der Einbil-
dungskraft entziehen wollen, heißt seiner Natur Gewalt anthun. — Die
Natur giebt überall den Ton, als Attribut eines Körpers, nirgends als
etwas absolut selbstständiges. So verleiht auch das mit der Phantasie
in Verbindung tretende Gehör dem Tone Bedeutung und Inhalt. —
Drittens aber ist die instrumentale Erweiterung des Tonmaterials in zwei
Richtungen getheilt und die Trennung derselben führt ganz natürlich zu
den Gegensätzen der musikalischen Literatur. Die eine Richtung behandelt
jene Erweiterung im Sinne der inhaltlichen Bedeutung. Die Natur läßt
den Künstler zwar mit Vorbildern im Stiche, aber die menschliche Seelen-
thätigkeit taucht mit der Idee der psychisch-inhaltlichen Sympathie in dies
neue Element und verwendet es in dem Urgedanken der Natur. Oder
aber, die instrumentale Erweiterung läßt sich nur vom zeitlich plastischen
Standpuncte aus verwenden. Ihre sinnlichen Verhältnisse gestatten, ab-
gesehen von der Inhaltlichkeit, im Sinne geistiger Architektonik, einen
Kunststandpunkt. — Dies ergiebt eine andere Gattung von Musik. —
Es bedarf keiner weiteren Andeutung, wie die Modernität in der Vereini-
gung beider Seiten, aber überwiegenden Rücksicht des Inhaltes besteht,
die ältere Classicität gleichfalls beide Seiten vereinigte, aber das Ueber-
gewicht auf Seiten des sinnlich formellen Stoffes geltend machte. —
Meine Broschüre geht auf Alles dies genauer ein und ich muß hier der
Kürze halber auf sie verweisen. — Ich fasse nur dies Eine noch zusammen,
wie das Gefühl aus Bewegung und Inhalt dem Tone gegenübersteht, der
gleichfalls beide Bedeutungen vereinigt; wie die Gefühlsbewegung nicht
ganz in der Tonbewegung aufgeht, sondern nur im allgemeinen; denn
die Tonformen ergeben sich aus specifisch sinnlichen, für sich bestehenden
Gesetzen. Die Inhaltlichkeit des Tones ergänzt sich aber mit dieser nicht
ganz präcisen Uebereinstimmung und macht die Musik zu einer der Poesie
zuhülfe kommenden Kunst, welche die Unzulänglichkeit des lyrischen Theils
auszugleichen als höchste Aufgabe hat, nebenbei jedoch den Standpunct
einer zeitlich plastischen Kunst gleichfalls zuläßt.
Die weiteren Ergebnisse behält sich meine Abhandlung vor.