Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1725. Wien, Freitag den 18. Juni 1869

[1]

Eine Geschichte des Wiener Concertwesens.

[2]


0002In wenigen Tagen erscheint bei Braumüller eine „Ge-
0003schichte des Concertwesens in Wien
“. Gar Mancher
0004dürfte den Kopf schütteln, wenn er da einen einzelnen Zweig
0005des Musiklebens Einer Stadt in ziemlich starkem Octavband
0006sich ausbreiten sieht. Der Verfasser eines Buches besitzt selten
0007ein unbefangenes Urtheil über den Werth und Reiz des Themas,
0008welches ihn lange Zeit emsig beschäftigt hat. Um so stärker
0009fühlt gerade er den Drang, den Gegenstand seiner Wahl zu
0010schützen und zu rechtfertigen. Steht er vollends mit einem
0011ihm besonders werthen Kreise in so langem und regem Ver-
0012kehr, wie der Autor jener Concertgeschichte mit den Lesern 
0013der „Neuen Freien Presse“, so sind es diese zuerst, denen er
0014Plan und Grundgedanken seiner Arbeit vorlegen möchte. Sein
0015Buch ist nur ein längeres Verweilen auf demselben Gebiet,
0016das Leser und Verfasser schon so oft in diesen Blättern zu-
0017sammengeführt hat.


0018Das öffentliche Concertwesen — ein Product des vorigen
0019Jahrhunderts, entsprungen theils aus der Entwicklung der
0020Kunst selbst, theils aus den Erweiterungen des geselligen Lebens
0021— hat eine zweifache hohe Bedeutung: eine specifisch 
0022musikalische und eine culturhistorische. In letzterer
0023Hinsicht bietet der rege Zusammenhang der Concerte mit der
0024Geselligkeit in verschiedenen Zeiten und Formen eine reiche
0025Ausbeute von Sittenbildern. Blicken wir doch in das öffent-
0026liche und intime Musiktreiben zu Haydnʼs Zeit bereits wie in
0027eine fremde Welt.


0028In dem Maße, als das Concertwesen sich organisirte
0029und ein großes Publicum heranbildete, hat es allerdings an
0030seinem ehemaligen Zusammenhang mit der Geselligkeit und
0031dem Familienleben eingebüßt, dafür ist es um so wichtiger ge-
0032worden für rein künstlerische Vertretung der Musik. Das
0033Concertwesen, welches mit Ausschluß der eigentlichen Theater-,
0034Kirchen- und Ballmusik die gesammte musikalische Production
0035umfaßt und darstellt, darf quantitativ und vollends qualitativ
0036sich des reichsten Kunst-Inhaltes rühmen. Seitdem auf Grund
0037einer entwickelten Instrumental-Virtuosität Haydn, Mozart,
0038Beethoven ihre höchsten Ideen in der Orchester- und Kammer-
0039musik niederlegten und alle deutschen Meister diesen Bahnen
0040folgten, bildet das Concert die Hauptstätte der Musik als
0041solcher, als Sonderkunst. In diesem Maße eigenberechtigt und
0042selbstständig tritt die Tonkunst blos im Concertsaale auf,
0043überall sonst wirkt sie nur in Verbindung mit anderen Kün-
0044sten, als Theil eines Ganzen oder äußeren Zwecken dienend.
0045Es kann diese künstlerische Bedeutung nicht schmälern, wenn
0046Richard Wagner in seinem „Bericht über die Reform des
0047Münchener Conservatoriums“ auch das deutsche Concertwesen
0048kurzweg in Bann thut. In seinem bekannten Zerstörungs-
0049Paroxysmus hat Wagner bereits alle Monumente und An-
0050siedlungen der Tonkunst geschleift bis auf seine eigenen; kein [3]
0051Wunder, daß er auch das Concertwesen als „eine künstliche
0052Treibhauskunst ohne alle Nachwirkung“ abthut und bei dieser
0053Gelegenheit versichert, man verstehe es bei uns nicht einmal,
0054die Symphonien und Oratorien der Meister richtig zur Auf-
0055führung zu bringen.


0056Ganz anders haben die ehrlichsten und gründlichsten Den-
0057ker schon zu einer Zeit geurtheilt, wo die Concerte noch in der
0058Kindheit lagen; ich erinnere nur an Forkel und Nägeli. „Bei
0059dem unleugbaren Verfall der Kirchen- und Theatermusik,“
0060schreibt Forkel im Jahre 1783, „sind nun Concerte das einzige
0061übrig gebliebene Mittel, wodurch Geschmack sowol verbreitet, als
0062auch der höhere Endzweck der Musik noch bisweilen erreicht
0063werden kann.“ Er erkennt den öffentlichen Concerten eine große
0064und wichtige Mission zu, die er freilich seinem und dem
0065Standpunkte der Zeit gemäß etwas einseitig in die Pflege der
0066Vocalmusik, namentlich der „Oratorien geistlichen und morali-
0067schen Inhalts“ legt. Dreißig Jahre später hatte die Instru-
0068mental-Musik bereits eine solche Höhe erreicht, daß Nägeli mit
0069gleicher Wärme für ihre Ueberlegenheit Partei ergreifen und
0070die Concerte hauptsächlich als die Pflegestätte der Instrumental-
0071Musik preisen konnte. Letzterer vindicirt er — gegenüber der
0072größeren Popularität der Vocalmusik — „die höhere Bedeutung
0073für die Geweihten der Kunst, die über dem Volke stehen“.
0074Selbst in den schlimmsten Tagen der Verflachung unseres
0075Concertwesens hat die Bedeutung des letzteren kein Einsichts-
0076voller in Frage gestellt. So äußert A. B. Marx in Berlin 
0077im Jahre 1827 gar heftig seine „Unbefriedigung an dem
0078gegenwärtigen Inhalt“ des Concertwesens, jedoch nicht ohne
0079dessen „voraussichtliche Bedeutung und Wichtigkeit“ zu betonen.


0080Eine Geschichte des gesammten Concertwesens in Europa 
0081gäbe die wichtigsten und lehrreichsten Beiträge zum Verständ-
0082nisse der Musik und ihres Zusammenhanges mit dem Cultur-
0083leben verschiedener Völker und Zeiten. Was ein solches Ge-
0084sammtbild im Vergleiche zu meinem enger umgrenzten Ver-
0085suche an Großartigkeit und Stoffreichthum gewänne, würde es
0086vielleicht wieder einbüßen an unmittelbarer Anschaulichkeit und
0087Lebenswärme. Uebrigens hat eine so lange, reiche, zusammen-
0088hängende Kunstentwicklung, wie die Concertgeschichte Wiens,
0089mehr als blos locale Bedeutung. Wurzelnd in einem echt 
0090musikalischen Volke, erwachsen aus dem persönlichen Zusam-
0091menwirken von Meistern wie Gluck, Haydn, Mozart, Beetho-
0092ven, dann weiter blühend in immer reicherer Fülle und Pflege,
0093gibt gerade das Concertleben von Wien nicht blos ein statt-
0094liches Bild für sich, sondern obendrein ein Spiegelbild der
0095gesammten gleichzeitigen Musikcultur. Dieser Zusammenhang
0096Wiens mit dem Musikleben des Auslandes ließ mich deßhalb
0097ohne Bedenken manchen flüchtigen Blick über die Heimatgren-
0098zen hinaus thun.


0099Die Geschichte der Concerte in Wien theilt sich wie von
0100selbst in vier Hauptperioden, deren erste (Epoche: Haydn-
0101Mozart) die letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts ein-
0102schließt, während die zweite (Beethoven-Schubert) von 1800 
0103bis 1830, die dritte (Liszt-Thalberg) von da bis zum Revo-
0104lutionsjahr 1848 reicht, worauf die vierte und letzte die
0105nachmärzliche Zeit, also die letzten zwanzig Jahre, behandelt.
0106Wenn ich diesen chronologischen Abgrenzungen noch beson-
0107dere, deren künstlerischen Inhalt charakterisirende Aufschriften
0108beifügte („Patriarchalische Zeit“, „Association der Dilettanten“,
0109„Virtuosenzeit“ und „Association der Künstler“), so sollten
0110damit keineswegs „pikante“ Aperçus, sondern in Wahrheit
0111sachgemäße Schlagworte gegeben werden. Wie alle Schlag-
0112und Stichworte, sind auch diese Nebentitel nicht von unan-
0113fechtbarer Genauigkeit, vielmehr haben sie mit den Definitionen
0114ästhetischer Begriffe das gemein, daß sie zugleich zu weit und
0115zu enge sind. Nur Einen aus den die Physiognomie einer Kunst-
0116epoche charakterisirenden Zügen können solche Ueberschriften
0117herausgreifen; sie dienen als nützliche Erkennungszeichen und
0118Haltpunkte, sobald man nicht mehr davon erwartet, als sie
0119leisten wollen und sollen.


0120Die Bezeichnung der ersten Periode als „patriarchalische
0121Zeit“ findet ihre Rechtfertigung in der Darstellung der wesent-
0122lichen Factoren jener Concert-Epoche: der fürstlichen Capellen,
0123des Mäcenatenthums, der Liebhaber-Concerte und Dilettanten-
0124Vereine, endlich des ersten stabilen Concert-Institutes in Wien,
0125der Gaßmannʼschen „Tonkünstler-Societät“. Haydn und Mo-
0126zart sind die sichtbaren Oberhäupter der Tonkunst in jener
0127ersten Periode, welche sich in runden Zahlen von 1750 bis
01281800 datiren läßt. Daß die Mittheilungen über die Anfänge 
0129unseres Gegenstandes nicht weiter zurückreichen, erklärt sich
0130einmal aus der Dürftigkeit der Quellen, sodann aus dem
0131modernen Ursprung des Concertwesens, welches erst bei einer
0132vorgeschrittenen Entwicklung des Instrumentalspieles möglich
0133und mit den Compositionen Bachʼs und Haydnʼs wirklich
0134wurde. Das siebzehnte Jahrhundert kannte Concerte eigent-
0135lich nur in der Form von Tafelmusik. In der zweiten Hälfte
0136des achtzehnten Jahrhunderts
hatte man Concerte, aber noch
0137kein Concertwesen.


0138In der zweiten Periode (1800—1830) sehen wir an
0139Stelle der fürstlichen Höfe und reichen Protectoren allmälig
0140ein „Publicum“ sich bilden und aus begeisterter „Association
0141der Dilettanten“ große Concert-Institute: die „Gesellschaft
0142der österreichischen Musikfreunde“ und die „Spirituel-Concerte“,
0143erblühen. Beethoven ist die Heldengestalt, welche diesen Zeit-
0144raum vom Anfang bis nahezu aus Ende durchschreitet —
0145zuletzt, leider nur eine kurze Spanne Zeit, begleitet von dem
0146geistesverwandten Lyriker Franz Schubert. Daß Beide erst nach
0147dem Tode ihre volle Würdigung fanden, darf den Geschicht-
0148schreiber nicht hindern, die Wiener Concert-Epoche von 1800 
0149bis 1830, an welcher sie persönlich bedeutend mitwirkten, als
0150die Periode Beethoven-Schubert zu bezeichnen. Denn nicht
0151blos als die Schöpfer unvergänglich über die gesammte Musik-
0152welt leuchtender Tondichtungen, sondern gleichzeitig als die ein-
0153heimischen und mit dem Wiener Musikleben persönlich empor-
0154gewachsenen Künstler verherrlichen Haydn, Mozart, Beethoven 
0155und Schubert die beiden ersten Epochen unserer Concert-
0156geschichte.


0157Zur „Virtuosenzeit“ par excellence gestaltet sich die
0158dritte Periode (1830—1848), dieser musikalisch luxurirende,
0159üppige Entreact zwischen zwei Revolutionen. Liszt und Thal-
0160berg, diese beiden glänzendsten und eigenthümlichsten Sterne
0161der Virtuosität, sind die rechten Taufpathen dieser Epoche:
0162Beide gehören Oesterreich an durch ihre eigene Wiege und die
0163ihres Ruhmes. Inzwischen geht das große Concertwesen ab-
0164wärts, die Dilettanten von ehemals regieren es mit schwacher,
0165die Anforderungen der Zeit nicht mehr erreichender Hand.
0166Schimmernde Sumpflichter in der Musik, der Journalistik,
0167der Geselligkeit, daneben morgendämmernde Lichtstreifen ver[4]-
0168kündigen gegen Ausgang der Periode das Zusammenbrechen
0169des alten Oesterreich, die Auferstehung eines neuen.


0170Die vierte und letzte Periode (1849—1869), die Zeit
0171gereiften politischen und künstlerischen Ernstes, erzeugt in
0172Wien auch eine Reform des Concertwesens und im Publicum
0173eine bemerkenswerthe Vertiefung des Geschmackes. Sie besei-
0174tigt das längst wankend gewordene Regime der associirten Di-
0175lettanten und setzt an deren Stelle die Association der Künst-
0176ler. Diese fungirt nunmehr als ausschließlich bewegende Kraft
0177des großen Concertwesens, namentlich durch die Gesellschafts-
0178und Philharmonie-Concerte. Die kleine Salonmusik und das
0179Virtuosenthum treten in den Hintergrund gegen die großen
0180Orchester-Productionen, denen sich endlich auch stabile Vereine
0181für vollen (gemischten) Chorgesang beigesellen. Zur Bezeich-
0182nung des künstlerischen Inhaltes dieser Epoche, welche in
0183Pflege und Wiedergeburt der classischen Meister am bedeu-
0184tendsten erscheint, erschien mir das anspielende Schlagwort
0185„Musikalische Renaissance“ am meisten empfehlenswerth.
0186Große schöpferische Genies wie Haydn, Mozart, Beethoven 
0187besitzt Wien gegenwärtig so wenig als Virtuosen von der
0188epochemachenden Bedeutung eines Liszt und Thalberg. Den
0189Fortgang in der Kunstgeschichte hätte die Ueberschrift: „Epoche
0190Mendelssohn-Schumann“ vielleicht am besten bezeichnet, und
0191thatsächlich blühte in Wien der eigentliche Cultus dieser beiden
0192Meister nachmärzlich — aber nur in dem (diesfalls verspäte-
0193ten) Wien, nicht in der Musikwelt überhaupt. Mendelssohn 
0194gehörte 1848 nicht mehr dem Leben, Schumann nicht mehr
0195der Vollkraft seines Schaffens an. Ueberdies standen sie per-
0196sönlich in keinem Zusammenhange mit den Wiener Musik-
0197zuständen. Insoferne erscheint diese neueste Epoche als eine
0198keinesfalls „schreckliche“, aber musikalisch „kaiserlose Zeit“,
0199welche durch das Wegbleiben bestimmter Namen auf dem Titel
0200und durch den Hinweis auf die modernen Renaissance-Bestre-
0201bungen am bündigsten charakterisirt wird.


0202Der Umschwung unserer Concert-Verhältnisse in den letz-
0203ten zwanzig Jahren war ein entschiedener und fernhin wahr-
0204nehmbarer. Insbesondere seit 1859 hat jedes Concertjahr sich
0205wenigstens durch Eine denkwürdige musikalische That verewigt.


0206Der neue, reichere Gehalt unseres jetzigen Concertlebens,
0207die musikalische Substanz desselben ruht großentheils in den
0208uns früher ganz verborgen gebliebenen Werken Sebastian Bachʼs
0209(„Matthäuspassion,“ „Johannespassion,“ H-moll-Messe, Canta-
0210ten, Clavier- und Kammermusik), in der erneuerten Pflege der
0211lange vernachlässigten Händelʼschen Oratorien, in dem unaus-
0212gesetzten Cultus des späteren Beethoven, in der richtigen Werth-
0213schätzung Franz Schubertʼs und der Belebung seines Nach-
0214lasses, endlich in der allmäligen Erkenntniß und Pflege Robert
0215Schumannʼs.


0216Es ist nicht sowol einseitige Pflege eines Lieblings-Com-
0217ponisten oder einer bestimmten Stylgattung, was unsere Con-
0218certprogramme charakterisirt, als ein berechtigter Eklekticismus.
0219Wir pflegen zunächst jene Anzahl „classischer“ Werke in der
0220Musik, die eben darum, weil sie classisch sind, d. h. eine ge-
0221wisse Vollendung des Inhalts und der Form erreicht haben,
0222von den neuhinzukommenden nicht mehr verdrängt werden dür-
0223fen. Andererseits — es ist nicht lange her — erblicken wir
0224keine Ketzerei mehr darin, wenn in unseren großen Orchester-
0225Concerten neben Haydn, Mozart und Beethoven einmal ein
0226anderer Name erscheint. Wir verlangen von den Concert-
0227Instituten, daß sie neben der ununterbrochenen Pflege der
0228älteren Meisterwerke auch das Leben der Gegenwart abspiegeln.
0229Von diesen beiden neben einander wirkenden Tendenzen ist
0230jedoch jedenfalls die nach der classischen Vergangenheit
0231die allgemeinere, stärker betonte. Sie stimmt zu
0232der geringeren schöpferischen Kraft, welche die Neuzeit gegen
0233frühere Musikperioden charakterisirt. Wenn diese oft wieder-
0234holte Klage über den schwächeren, abgeleiteten Charakter der
0235modernsten Musik-Literatur nicht in ungerechte Verkennung
0236überschnappen soll, so muß gleichzeitig mit demselben Nach-
0237drucke eine andere höchst werthvolle und gerade unserer Zeit
0238eigenthümliche Seite musikalischer Thätigkeit betont werden.
0239Dies ist der warme, verständnißvolle Eifer, mit welchem die
0240Jetztzeit die große Erbschaft früherer Epochen antritt, sie sam-
0241melnd und sichtend mit neuem Studium durchdringt, zu neuem
0242Leben erweckt und segensreich über alle Welt ausspendet. Kein
0243Bach, Beethoven oder Schubert wandelt mehr leibhaftig unter
0244uns: allein um ihre Geister haben wir ein größeres Verdienst,
0245als die glücklichere frühere Epoche. Wie sorglos nachlässig ver-
0246fuhren unsere Voreltern mit den Partituren ihrer Meister,
0247selbst mit der Aufführung ihrer Schöpfungen! Die herrlichen
0248Ausgaben der Werke Bachʼs, Händelʼs, Mozartʼs, Beetho-
0249venʼs, Schubertʼs, welche neuestens in rascher Folge in Deutsch-
0250land entstanden, sie sind auch Monumente, sind Monumente
0251des Musikgeistes unserer Periode. Die billigen Volksausgaben,
0252welche die Tondichtungen dieser Meister bis in das
0253bescheidenste Dachstübchen verbreiten, die classischen Or-
0254chester-Concerte, die allenthalben in Tönen ihr Evan-
0255gelium predigen, wie die trefflichen historischen und
0256kritischen Musikschriften unserer Zeit es in Worten thun, sie
0257sichern den musikalischen Ruhm unserer, der sogenannten Epi-
0258gonenzeit. Diese Tendenz nach Wiederbelebung der musikalischen
0259Schätze der Vergangenheit erinnert lebhaft an die idealen Be-
0260strebungen jener Epoche des Humanismus und der Wieder-
0261erweckung von Kunst und Wissenschaft des Alterthums, welche
0262in der Culturgeschichte kurzweg „die Renaissance“ heißt. Diese
0263musikalische „Renaissance“ ist allerdings nicht das einzige,
0264alles Uebrige absorbirende Pathos der Gegenwart, sie ist nur
0265eine ihrer Tendenzen, und zwar eine der vornehmsten. Es ver-
0266hält sich damit analog wie mit dem Original, der Renaissance
0267im 14. Jahrhundert in Italien. „Die Wiedergeburt des Alter-
0268thums ist in einseitiger Weise zum Gesammtnamen des Zeit-
0269raumes überhaupt geworden,“ betont nachdrücklich J. Burk-
0270hardt, der treffliche Geschichtschreiber der Renaissance. Wie
0271damals die Renaissance nur in der Concurrenz mit anderen
0272Kräften, „im Bündniß mit dem neben ihr vorhandenen Volks-
0273geist“, so hat auch unsere moderne musikalische Renaissance
0274nur mit und neben den eigenthümlichen Bildungen unserer
0275Musikperiode einen so prägnanten Ausdruck und einen so mäch-
0276tigen Einfluß gewonnen.


0277Blickt man schließlich vom Ende wieder zurück zum An-
0278fange, so gewahrt man in der Entwicklung des Concertwesens
0279das Fortschreiten von patriarchalisch-aristokratischer Unfreiheit
0280der Kunst bis zu deren vollständiger Demokratisirung.


0281Dies wären ungefähr die Grundlinien des ganzen Gemäl-
0282des, dessen Ausführung ohne Zweifel viel zu wünschen lassen wird,
0283das jedoch mit der Priorität wol auch den Anspruch auf einige
0284Nachsicht für sich hat.


0285Dr. Eduard Hanslick.