0003Ed. H. Von allen Novitäten, welche Wien im Fache der
0004Oper seit langer Zeit erlebte, ist die bedeutendste und glän-
0005zendste das neue Opernhaus selbst. Auch das Alte erscheint neu
0006darin. Die Neuheit künstlerischer Eindrücke ist allerdings für
0007den Beurtheiler nicht ohne Gefahr. Wie jedes große, compli-
0008cirte Werk dichtender, malender oder musikalischer Kunst wieder-
0009holte Betrachtung fordert und jedesmal neue Eigenthümlichkeiten,
0010sei es auf der Licht- oder Schattenseite, enthüllt, so will auch
0011unser Opernhaus — nicht blos als architektonische Schöpfung,
0012sondern als lebendiger theatralischer Organismus — studirt
0013sein. Selbst die Macht der Gewöhnung muß als beruhigendes
0014Element hinzutreten, Sänger und Zuhörer, wie die
0015Kritiker haben den ersten, befremdenden Eindruck noch zu ver-
0016winden. Müssen wir uns doch oft an die Sprechweise fremder
0017Schauspieler erst gewöhnen, ehe wir sie ganz würdigen und
0018liebgewinnen, wie viel mehr an das Organ eines neuen Thea-
0019tergebäudes. Nach dem ersten Eindrucke und rein musikalisch
0020gesprochen, scheint mir das Organ unserer neuen Oper stark,
0021aber nicht distinct, nicht fein abgestuft, es läßt wenig indivi-
0022duelle Durchgeistigung zu, ist packend in wuchtigem, energischem
0023Vortrage, verschwommen im zarten und zierlichen. Ein pracht-
0024volles Haus, aber kein tadelloses musikalisches Instrument.
0025Die beiden Vorstellungen („Stumme von Portici“ und „Sar-
0026danapal“), welche mich unschuldig Verspäteten zum erstenmale
0027in die Wunder des neuen Theaters einführten, ließen dessen
0028Bedeutung für dramatischen und musikalischen Effect wenig-
0029stens in den Hauptzügen erkennen. Der Ruhm und die Gefahr
0030des neuen Opernhauses liegen in seiner Größe. Mit unwider-
0031stehlicher Macht gibt es all dasjenige wieder, was zu seiner
0032vollen Wirkung eine colossale Bühne, einen weiten Zuschauer-
0033raum und alle Hilfsmittel vorgeschrittener Beleuchtungs- und
0034Decorationskunst beansprucht. Dem Auge bietet es den vollen
0035decorativen Zauber der Scene, dem Ohre die eigentlich dema-
0036gogischen Wirkungen der Musik. Um jenes unersetzliche intime
0037Verhältniß des Hörers zur Musik und den darstellenden Cha-
0038rakteren, welches kleinere Räume so wohlthätig befördern, ist
0039es hingegen in dem neuen Opernpalast geschehen. In der
0040„Stummen von Portici“ erschienen mir (von der neunten
0041oder zehnten Reihe des Parquets) die darstellenden Personen
0042so klein, in so ungewohntem Mißverhältnisse zu der enormen
0043Höhe der Bühne, daß ich anfangs eine Kindervorstellung zu
0044sehen glaubte. An diesen Personen, die, scheinbar meilenfern
0045von mir, sich in weitem Raume verloren, konnte kein rechter
0046Antheil aufkommen. Die Individualität der eigentlichen Träger
0047der Handlung verschwindet, nur das Gewühl und Gewimmel
0048des Volkes, die Action der Massen wirkt mit voller, bisher
0049ungeahnter Gewalt. Die Mimik der stummen Fenella war
0050gewiß meisterhaft, ich vermuthe das von Fräulein Salvioni;
0051im alten Kärntnerthor-Theater sah und wußte ich es. Ein schwa-
0052cher Trost nur, daß mir neben Fenella das gefürchtete Mienen-
0053spiel ihres Verführers, des jungen Herrn Wachtel, gleicher-
0054weise entging.
0055Wie mit der feineren Motivirung der Mimik und Action
0056im neuen Hause, geht es auch mit dem zarteren Geäder des
0057musikalischen Vortrages. Alle Sänger schienen sich anzustrengen;
0058wo aber die Nuancen übertrieben werden müssen, da gibt es
0059keine Nuancen mehr. Von den Singstimmen sind es nur die
0060hohen und hellen, also vornehmlich die Soprane, denen das
0061Opernhaus günstig ist. Tiefere Stimmen von weichem, rundem
0062Klang, wie Bignioʼs schöner Bariton, oder etwas gedeckte,
0063umflorte Tenorstimmen, wie Adamsʼ, kommen nicht zu rech-
0064ter Geltung. Dasselbe versichert man von Walterʼs Tenor,
0065ja sogar von der ehernen Stimme Beckʼs. Organe von mehr
0066scharfem, schneidigem Tone, selbst mit etwas näselndem oder
0067schnarrendem Beiklang können mit der Akustik des neuen Hau-
0068ses am meisten zufrieden sein. Die Fräulein Tellheim
0069und Siegstädt, sogar Herr Campe dringen erstaunlich
0070gut durch; am effectvollsten vielleicht Herr Müller. Man
0071kann nicht sagen, daß das Gebäude den Ton schwach oder klein
0072wiedergibt, allein es nimmt ihm die Wärme, das musikalische
0073Herzblut. Das neue Opernhaus schallt gut, aber es klingt
0074nicht gut. Dem Ton hinkt ein kleines Echo nach, das, in so
0075großen Räumen kaum ganz zu vermeiden, doch den feineren
0076Musiksinn stört. Dieses Nachhallen bemerkt man am deut-
0077lichsten in zwei Extremen: im Recitativ, wo die etwas
0078verspätet zurückgeworfene, von dem directen Schall sich ablö-
0079sende Schallwelle von anderen Tönen nicht oder nur unzu-
0080länglich absorbirt wird, dann bei rauschenden, schnellen En-
0081sembles, wo die vielen zurückgeworfenen Schallwellen sich zu
0082unklarem Geräusche kreuzen. Die langsameren Tempi, die im
0083Vergleich zum Kärntnerthor-Theater (namentlich in der „Stum-
0084men“) jetzt bemerkbar sind, bestätigen, daß die Capell-
0085meister diesen Uebestand in der That empfinden und ihn
0086möglichst zu mildern bedacht sind. Die Singstimmen klingen
0087immerhin besser als das Orchester, dessen tiefe Lage ein Nach-
0088theil ist, der gleichfalls a priori mit der Construction jedes
0089Opernhauses zusammenhängt. Im Orchester selbst klingen wie-
0090der die Blas-Instrumente besser als die Geigen und das
0091Blech weitaus besser als das Holz. Als bei der ersten Ballet-
0092musik der „Stummen“, im Bolero, die Klappentrompete mit
0093ihrem C-dur-Motiv einsetzte, war dies der erste vollkommen
0094schöne, farbige Ton aus dem Orchester. Wo im neuen Hause
0095das ganze Orchester zusammenwirkt, da schimmern die Klänge
0096des Blechs nicht sanft hindurch, wie das natürliche Incarnat
0097der Haut, sondern quellen hervor wie blutunterlaufene Strie-
0098men. Im ersten Finale von „Tell“ verzehrt die Posaune wie
0099ein gefräßiges Feuer erbarmungslos Stimmen und Instru-
0100mente, Alles mit einander. Welche akustische Mißstände speciell
0101in der Construction unseres neuen Opernhauses liegen, außer
0102jenen, die es mit allen großen Theatern gemein hat (über-
0103mäßige Höhe und Tiefe des Bühnenraumes, weite, den Ton
0104verschlingende Prosceniumslogen, tiefe Position des Orchesters,
0105Luftstrom der Heizung etc.) vermag ich nicht zu beurtheilen. [2]
0106Vielleicht vermögen es Akustiker von Fach ebensowenig, denn
0107die Akustik in ihrer praktischen Anwendung steckt noch voll
0108Mysterien, und am allermeisten die Akustik der Gebäude. Daß
0109ein Gebäude gut oder schlecht akustisch sei, weiß man (abge-
0110sehen von den ersten fundamentalen Bedingungen) meistens
0111erst, wenn es ganz fertig und dem Patienten nicht mehr zu
0112helfen ist. Man hat mehr als einmal Gebäude von anerkannt
0113trefflicher Akustik zu ähnlichem Zwecke sklavisch copirt, und siehe
0114da! die akustische Eigenschaft stellte sich aus unbekannten Grün-
0115den trotzdem nicht ein. Hier hat die Wissenschaft Hand in
0116Hand mit scharfsinnig beobachtender Empirie noch ein weites,
0117fruchtbares Feld vor sich.
0118Die starke Seite des neuen Opernhauses kommt nirgends
0119so überwältigend zum Ausdrucke, wie in dem Ballet „Sarda-
0120napal“. Die Novität ist in diesen Blättern bereits von mei-
0121nem geehrten Collegen A. M. eingehend beurtheilt worden; ich
0122wüßte nur bestätigend beizufügen, daß man ein prachtvolleres
0123Schauspiel kaum in irgend einem Theater Europas finden
0124wird. „Sardanapal“ im neuen Opernhause überragt an blen-
0125dender Ausstattung, an malerischer Wirkung, an Exactheit der
0126Tänze und Massen-Evolutionen Alles, was ich an Balleten
0127in der Pariser Großen Oper, im Coventgarden-Theater zu
0128London und dem im Balletfach ihnen zunächst stehenden Ber-
0129liner Opernhaus zu sehen Gelegenheit hatte. Dieser Schärpen-
0130tanz bei vielfärbig einfallenden Lichte, dieses stürmische Ama-
0131zonen-Ballet, diese malerische Schlußgruppe auf Sardanapalʼs
0132Scheiterhaufen — sie bilden fast ein Non plus ultra choreo-
0133graphischer Augenweide. Und hätte dies Bild selbst wirklich
0134vor ähnlichen nichts voraus, als daß sein imposanter Rah-
0135men (das Opernhaus) so neu und blendend ist, so wäre schon
0136dies Eine für die Wirkung einer Ausstattungs-Production ent-
0137scheidend.
0138Die Wirkung von „Sardanapal“ stellt außer Zweifel,
0139daß der neue Prachtbau in erster Linie ein Ballethaus
0140par excellence ist, in zweiter Linie ein Opernhaus, und
0141zwar nur für große Opern (in der französischen Bedeutung
0142des Wortes), welche auf Massenwirkung und Decorations-
0143Effecte bei entscheidendem Vortreten von Chor und Ballet be-
0144rechnet sind. Was das neue Opernhaus in diesem
0145Fache zu leisten vermag, hat die gestrige Aufführung
0146von Rossiniʼs „Tell“ bewiesen. Die Oper wurde
0147mit durchaus bekannter Besetzung gegeben, verdiente aber trotz-
0148dem, wie eine Novität besprochen zu werden. Wir hören ja
0149alte, auswendig gekannte Opern mit Antheil immer wieder,
0150wenn ein fremder Künstler darin gastirt, und die Kritik ver-
0151säumt in solchen Fällen niemals die Pflicht der Berichterstat-
0152tung. Der Künstler, der sein epochemachendes Gastspiel jetzt
0153in Wien eröffnet hat, ist das neue Opernhaus. Das Haus
0154„und die artistische Direction“, muß man beifügen, denn diese
0155hat mit jeder ins neue Theater übersiedelnden Oper eine neue
0156große Aufgabe zu lösen, mit neuen, dankbaren, aber schwierig
0157zu handhabenden Mitteln. Nur Unkenntniß oder Uebelwollen
0158vermöchte die großen Verdienste der Direction um die Sceni-
0159rung von Opern wie „Tell“ und „Die Stumme“ zu leug-
0160nen. Für die Solopartien bedarf das neue Haus allerdings
0161noch mancher Verstärkungen, die nicht so schnell zu beschaffen
0162sind. Aber das Zusammenwirken von Chor, Orchester und
0163Ballet, das Costüm- und Decorationswesen verdienen größtes
0164Lob; in der Anordnung des Scenischen bewährt Dingelstedt
0165eine überaus geschickte und erfahrene Hand. Die Mise-en-
0166scène des „Wilhelm Tell“ ist eine wahre Sehenswürdigkeit.
0167Die Costüme sind von großer historischer und localer Treue,
0168nicht nur Geßler und Rudolph der Harras, eine Menge Cho-
0169risten und Statisten frappiren als malerische Charakterfigu-
0170ren. (Nur der ballmäßige Anzug Fräulein Rabatinskyʼs
0171im letzten Acte scheint mir nicht passend, sowie ihr modernes
0172Costüm im vierten Acte der „Stummen“.) Herr Brioschi
0173hat zu „Wilhelm Tell“ eine Reihe von effectvollen, treu nach
0174der Natur aufgenommenen Landschaftsbildern geliefert, welche
0175das Publicum mit lautem Beifalle begrüßte. Man weiß nicht,
0176ob man der ersten Decoration mit dem Dorfe Brunnen
0177und den Mythensteinen im Hintergrunde, oder dem Markt-
0178platze in Altdorf oder endlich der wahrhaft poetischen Rütli-
0179Decoration mit dem Vierwaldstädtersee in Vollmondbeleuch-
0180tung den Vorzug geben soll. Was die Ausstattung und Sce-
0181nirung betrifft, möchte ich die Regie nur vor zwei Gefahren
0182warnen. Einmal vor der Ueberfüllung der Scene mit Perso-
0183nen, sodann vor dem Mißbrauche mit Beleuchtungs-Effecten.
0184In allen Volkscenen der „Stummen“ und des „Tell“ ist
0185die Bühne mit Menschen so vollgepfropft, daß sich keine
0186Gruppen bilden können, vielmehr ein unübersichtlicher
0187Knäuel entsteht. Auch muß man sich eine Steige-
0188rung frei lassen, wie sie nach der ersten Scene im
0189„Tell“ gar nicht mehr möglich ist, und die Wir-
0190kung der Massen nicht gar zu schnell abnützen.
0191Von den Beleuchtungs-Effecten, die wir in den besproche-
0192nen Vorstellungen sahen, waren manche von bester Wirkung,
0193andere aber grell und unnatürlich. Das roth einfallende Licht
0194am Schlusse des ersten Actes von „Wilhelm Tell“ ist weder
0195nothwendig noch der Scene günstig, und die spectakelhafte Be-
0196leuchtung der Gletscher im letzten Acte hat der schönen Deco-
0197ration weit eher geschadet als genützt. Jedenfalls sind derlei
0198Lichteffecte, gut oder schlecht, Reizmittel stärkster Art, mit wel-
0199chen man sparen sollte. Die Leistungen der Solosänger im
0200„Tell“ sind längst bekannt und gewürdigt. Obenan stand
0201auch diesmal die durchaus maßvolle, edle Darstellung des
0202Tell durch Herrn v. Bignio, welcher in den Damen Ra-
0203batinsky, Gindele, Tellheim und den Herren Schmid,
0204Mayerhofer und Draxler die lobenswürdigste Unter-
0205stützung fand. Herr Müller wirkte als Arnold mehr durch
0206seine günstigen Stimmmittel, als durch musikalisch tadellosen
0207oder seelenvollen Vortrag. Dieser Sänger dürfte im neuen
0208Hause bedeutende Erfolge erzielen, umsomehr sollte er darauf
0209bedacht sein, seine Stimme zu schonen und seinen Geschmack zu
0210läutern. Das Publicum, welches sich im neuen Opernhause
0211meist sehr kühl verhält, ging in der „Tell“-Vorstellung
0212muthig aus dieser Reserve heraus und spendete reichlichen
0213Beifall.