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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1744. Wien, Mittwoch den 7. Juli 1869

[1]

Musik.

(„Faust“. — „Der Freischütz“. — Das alte und das neue Opernhaus.)


0003Ed. H. Zwei mit Gästen aufgeputzte Vorstellungen,
0004Faust“ und „Freischütz“, führten uns nach langer Zeit wie-
0005der einmal ins alte Opernhaus. Das arme Kärntnerthor-
0006Theater, arg beschämt von seiner hart daneben prunkenden
0007Schwester, scheint sich wie Aschenbrödel am Herd jetzt enger
0008als je an die Käse- und Salamiläden im Comödiengäßchen
0009zu drücken. Der dem Menschen eingeborne Instinct der Ge-
0010rechtigkeit und des Mitleids, welcher uns Partei nehmen
0011heißt für den Zurückgesetzten, Bedrückten gegen den Mäch-
0012tigen und Glücklicheren, er kommt jetzt auch dem alten
0013Opernhause zu statten. Freilich kann man selbst als Musiker
0014nicht ganz vergessen, was man als Mensch darin erleidet:
0015alle Qualen der Unbequemlichkeit. Durch finstere Gänge schie-
0016ben wir uns zu unserem Sperrsitz vor; dort glücklich ange-
0017langt, können wir weder die Beine ausstrecken, noch unsere
0018Nachbarn hinauswerfen, wenn sie mit seidenbauschiger oder
0019natürlicher Ueberfülle die Hälfte unseres schutzlosen Platzes
0020usurpiren. In Schweiß gebadet, möchten wir nach dem
0021ersten oder zweiten Acte der drückenden Hitze entfliehen
0022und das bedenklich duftende Foyer dieses Theaters auf-
0023suchen, das unter dem poetischen Namen „Cäciliengasse“ links
0024vom Zuschauerraum erbaut ist. Aber wehe dir, frecher Abküh-
0025lungs-Gourmand, wenn du, weit vom Ecksitz, eine Reihe
0026grimmiger Nachbarn aufstehen machen mußt, um hinauszuge-
0027langen! Hast du einmal die Spießruthen dieser entrüsteten
0028Mienen, impertinenten Murmeleien und harten Kniee passirt,
0029du thust es kein zweitesmal an dem Abend. Und dennoch, den-
0030noch — Aschenbrödel hat seine Tugenden. Wir werden bald sehen.


0031Den Aufführungen selbst war wenig Gutes nachzurühmen.
0032Im „Faust“ interessirte die neue Debutantin Fräulein Eleo-
0033nore Hahn als Gretchen. Ihre weiche, gesunde Stimme, der
0034es blos an durchdringend kräftiger Höhe, und ihr natürlicher
0035ansprechender Vortrag, dem es allerdings noch an Leidenschaft
0036fehlt, nahmen schnell für das anmuthige junge Mädchen ein.
0037Gounod’s Margarethe ist eine so überaus dankbare und durch 
0038zahlreiche Musterbilder selbst für Anfänger so vollständig prä-
0039parirte Rolle, daß sie selten einen verläßlichen Maßstab der
0040Beurtheilung darbietet. Im Verlaufe ihres weiteren Gastspie-
0041les wird Fräulein Hahn zeigen, ob sie das vom Publicum
0042ihr so schmeichelhaft bezeigte Wohlwollen auch vollständig zu
0043rechtfertigen vermag. Herrn Müller’s Faust war die unge-
0044nügendste Leistung, die wir von diesem glücklich begabten Te-
0045noristen kennen. In seinem Vortrage vermißten wir die Kunst
0046der Phrasirung und Schattirung, sogar Wärme des Gefühls,
0047die ihm doch in anderen, namentlich italienischen Gesangspartien,
0048nicht abzusprechen war. Noch ungenügender gestaltete sich die
0049dramatische Darstellung, worin kaum eine Ahnung von dem
0050Charakter Faust’s aufdämmerte. War Herrn Müller’s Faust 
0051im ersten Acte nichts weiter als ein unrasirter Renommist, so
0052stand er im zweiten und dritten fast wie ein eleganter Ballet-
0053Tänzer vor uns, in Kleidung, Haltung und Geberde. Wie
0054charaktervoll sah Niemann in dieser (musikalisch ihm sehr
0055ungünstigen) Rolle aus, wie spielte und accentuirte er! Es
0056ist traurig, daß derlei Beispiele so ganz wirkungslos vorüber-
0057gehen können. Das dramatische Talent eines geistreichen Mannes
0058läßt sich freilich nicht schlechtweg nachmachen, aber seine Kleider
0059wenigstens lassen sich nachmachen. Herr Müller, der übri-
0060gens als eines der strebsamsten und bescheidensten Mitglieder
0061gerühmt wird, scheint vor Allem und überall auf den Effect
0062seiner hohen Töne hinzuarbeiten. Mit der Höhe seiner Scala
0063pflegt auch wirklich die Beliebtheit eines Sängers beim Publi-
0064cum zu steigen. Herr Müller ist rasch und ziemlich hoch ge-
0065stiegen — „aber,“ heißt es im „Egmont“, „hast du nie einen
0066Stern sich schnäuzen gesehen?“ Unter den Leistungen des Abends
0067stand Herrn Mayerhofer’s Mephisto obenan; insbesondere
0068das Goldlied im zweiten Acte singt und spielt er vorzüglich.
0069Herr Neumann erreichte als Valentin selbstverständlich seinen
0070Vorgänger Bignio in keinem Punkte, verdient jedoch ob seines
0071redlichen Bemühens, weniger als sonst zu tremoliren und hal-
0072tungsvoller zu spielen, alle Anerkennung. Auch Fräulein Sieg-
0073städt
ist eine Sängerin von unanfechtbarem Fleiße und Eifer
0074bei problematischer Bühnenbefähigung; als Studiosus Siebel 
0075sieht sie geradezu unmöglich aus.


0076Die Vorstellung des „Freischütz“ war äußerst schwach.
0077Schon beim Anblicke des Theaterzettels mochte man die Worte 
0078des Max: „Bange Ahnung füllt die Brust“, citiren. Da gab
0079es lauter Mannschaft ohne Officiere — nicht einmal ein
0080Ordensritter war unter den Mitwirkenden. Fräulein Paum-
0081gartner
sang die Agathe ohne Wirkung; von der Oekonomie
0082des Athmens scheint sie keine Kenntniß, für die Reinheit der
0083Intonation keine Vorliebe zu haben. Dem meist schleppenden,
0084matten Vortrage konnten die prachtvolle Bühnenfigur der Sängerin
0085und ihre correcte Prosa nur wenig aufhelfen. Fräulein Paum-
0086gartner soll übrigens in ihren früheren Rollen weit glücklicher ge-
0087wesen sein. Auf ungefähr gleicher Stufe stand der Max des
0088Herrn Pirk. Dieser für kleinere Partien wohlverwendbare
0089Tenorist, der jüngst den Fischer im „Tell“ mit Beifall sang,
0090reicht an diese Aufgabe weder mit seinen Stimmmitteln, noch
0091mit seiner Kunst, so wenig als Sänger wie als Schauspieler.
0092In größeren Helden- und Liebhaber-Rollen dürften ihm über-
0093dies zwei kleine, außerhalb der Bühne kaum beachtenswerthe
0094Naturfehler hinderlich sein: Herr Pirk stößt ein wenig mit
0095der Zunge an und mit den Augen. An Herrn Hrabanek’s 
0096Caspar fiel uns außer der guten Maske nichts Rühmens-
0097werthes auf. Er sang und spielte die ganze, überdies nicht fein
0098memorirte Rolle (etwa mit Ausnahme des recht gelungenen
0099Trinkliedes) mit einer nachlässigen Gleichgiltigkeit, welche die
0100Verehrer der Oper verstimmen mußte. Von der gesprochenen
0101Prosa Herrn Hrabanek’s verstand man kaum das dritte Wort.
0102So glich denn, von dem trefflichen Orchester abgesehen, die
0103ganze Vorstellung mehr der Jahresprüfung in einer größeren
0104Opernschule.


0105Wie kam es, daß trotzdem das sehr zahlreiche Publicum
0106sich so theilnehmend zeigte, so schnell warm wurde und gleich
0107die Ouvertüre mit einem Jubel begrüßte, wie wir seinesglei-
0108chen im neuen Hause nie gehört? Während in letzterem das
0109Auditorium sich wie eine vornehme, geladene Gesellschaft be-
0110nimmt, kühl und zurückhaltend, glich das Publicum des „Frei-
0111schütz“ einem vergnügten Familien- und Freundeskreise, der
0112sich im Sonnenscheine von Weber’s geliebten Klängen so recht
0113von Herzen erlabt. Die Tugenden Aschenbrödel’s kommen zum
0114Vorscheine: die tiefere, intime Wirkung der Musik, die von
0115einer gewissen räumlichen Nähe derselben untrennbar ist. Die
0116eigentlichen Herzenstöne der Musik gelangen in weiten Räu-
0117men allenfalls bis zu uns, gleiten aber wie zu weit abgeschos[2]-
0118sene Pfeile kraftlos von unserer Brust ab. Opern wie der
0119Freischütz“, mit ihrer familienhaften Traulichkeit, ihrem zar-
0120ten Melodiengespinnste, ihren gesprochenen Erzählungen machen
0121ihre rechte Wirkung nur in kleineren Theatern. Schon
0122Fidelio“ mit seiner viel gewaltigeren Musik verlor im neuen
0123Opernhause an unmittelbarer Gewalt über die Gemüther;
0124für den „Freischütz“, welcher demnächst gleichfalls in den archi-
0125tektonischen Adelsstand erhoben werden soll, bangt uns noch
0126mehr. Der ganze Nachdruck der Aufführung wird offenbar auf
0127die Wolfsschlucht fallen, deren Spectakel schon im alten Hause
0128das Musikalische überwuchern. Es ist eine Versündigung an
0129Weber’s Oper, die als Finale den zweiten Act so trefflich
0130abschließende Wolfsschluchtscene zu einem selbstständigen „drit-
0131ten Act“ aufzublähen. Vor etwa 15 Jahren hatte man in
0132Wien von dieser ästhetischen Barbarei noch keine Ahnung, die
0133scenischen Fortschritte des Kärntnerthor-Theaters und seine
0134immer mehr gegen die Ausstattungsoper gravitirende Tendenz
0135führten dazu, die weit größere Pracht des neuen Hauses muß
0136nothwendig noch weiter führen. Große Opernhäuser, wie sie
0137mit der Scala und San Carlo in Italien, mit der Académie
0138Impériale in Frankreich und jetzt mit dem Wiener Opern-
0139hause in Deutschland Eingang fanden, üben auf die Kunst
0140selbst einen außerordentlichen Einfluß. Die Art zu singen und
0141zu componiren, sogar zu hören und zu beurtheilen wird eine
0142andere. Der Gegenstand ist so wichtig, daß ich, mein letztes
0143Feuilleton ergänzend, wol noch einmal darauf zurückkommen
0144darf. Was dort über das Verhältniß unseres neuen Opern-
0145hauses zur musikalischen Wirkung gesagt wurde, geht nur in
0146Einzelheiten diesen Bau speciell an, überwiegend trifft es alle
0147großen Opernbühnen. Hector Berlioz schrieb einmal im
0148Journal des Debats einen geistvollen Aufsatz „über den Ein-
0149fluß der großen Opernhäuser auf die Gesangskunst“. Er geht
0150darin von der Hypothese eines „musikalischen Fluidums“ aus,
0151welches die Ursache der musikalischen Emotionen sei und wel-
0152ches über eine gewisse Distanz hinaus seine Wärme und Kraft
0153verliert. Man hört zwar in den großen Opernhäusern, aber
0154man vibrirt nicht. Um aber wirklich musikalische Gemüths-
0155bewegungen zu empfinden, muß man selbst mitvibriren mit
0156den Stimmen und Instrumenten. Berlioz erklärt dies mit 
0157dem Beispiele eines Trios oder Streichquartettes, das, in einem
0158geräumigen Zimmer gespielt, die Zuhörer lebhaft be-
0159wegt, rührt, hinreißt. Nun denke man sich, das Zim-
0160mer erweitere sich während dieser Production allmälig zum
0161Saale, so daß die Hörer von den Spielern weiter wegrücken.
0162Das Auditorium wird sofort ruhiger werden, es hört noch
0163immer, aber es vibrirt beinahe nicht mehr, es bewundert noch
0164die Schönheiten des Werkes, aber mit dem Verstande, nicht
0165in Folge unwiderstehlichen Eindrucks. Der Saal dehnt sich noch
0166mehr aus, so weit ungefähr, als ob die drei oder vier Spieler auf
0167der Bühne des Opernhauses und die Zuhörer in den rückwär-
0168tigen Logen en face der Bühne sich befänden. Der Zuschauer
0169hört noch immer, aber vibrirt gar nicht mehr; das musika-
0170lische Fluidum kann nicht bis zu ihm dringen, er wird kalt
0171und obendrein ärgerlich, weil er größere Anstrengungen macht,
0172den Faden der Composition nicht zu verlieren. Umsonst —
0173die Unempfindlichkeit lähmt, die Langweile übermannt ihn,
0174und er hört schließlich gar nicht mehr zu. Berlioz erzählt,
0175wie er kalt geblieben sei (wüthend über seine eigene Kälte)
0176während des ersten Actes von Gluck’s „Orpheus“ in der Pariser
0177Großen Oper. Sollte Gluck wirklich Unrecht haben? Bald
0178darauf führten dieselben Sänger mit demselben Orchester diese
0179Musik im Conservatoriums-Saale auf; da gewann sie ihren vollen
0180Zauber wieder, das Publicum war hingerissen, Gluck hatte
0181Recht. Mozart’sDon Juan“, so glühend und leidenschaft-
0182lich im italienischen Theater, ist kalt in der Großen Oper,
0183die „Hochzeit des Figaro“ noch mehr, Weber’sFreischütz“,
0184Rossini’sBarbier“ büßen auf großen Bühnen ihr feines
0185und geistreiches Wesen ein. Selbst in den eigens für die Große
0186Oper geschriebenen Werken erhalten sich von zwanzig schönen Ideen
0187höchstens vier bis fünf auf der Oberfläche, der Rest geht unter.
0188Und selbst diese Schönheiten erscheinen nur geschwächt und
0189wie verschleiert durch die Entfernung. Diese treffenden, aller-
0190dings etwas zornig vorgetragenen Bemerkungen des geistreichen
0191Franzosen fielen mir ein bei der jüngsten Aufführung des
0192Freischütz“. Und welche praktische Moral ziehen wir daraus?
0193Keine andere, als daß das neue Opernhaus, weit entfernt,
0194sein Repertoire um jeden Preis zu erweitern, sich nur auf
0195Ballette und „große Opern“ beschränken, die Spieloper hingegen 
0196eine feste, pietätvolle Stätte im alten Hause behalten soll. So
0197lange wenigstens im alten Hause, als nicht etwa ein neues,
0198eigens für dieses kleinere, der Kunst nicht minder werthvolle
0199Genre erbaut wird. Vorderhand denken wir uns die Einthei-
0200lung so, daß im neuen Gebäude wöchentlich vier bis fünf
0201Vorstellungen (darunter zweimal Ballet) gegeben und an den
0202übrigen (festen) Tagen ausschließlich kleinere Opern im Kärnt-
0203nerthor-Theater gespielt werden. Die gesammte Literatur
0204der komischen und Conversations-Oper, des musikalischen Fa-
0205milien- und Rührstückes mit gesprochenem Dialog fiele dem
0206Kärntnerthor-Theater zu und wäre mit gleicher künstlerischer
0207Sorgfalt wie die Opern im neuen Hause zu pflegen. Dieses
0208reiche und lohnende Feld wird allmälig seine eigene Ausbil-
0209dung verlangen und für die Hauptpartien sein eigenes Perso-
0210nal; es wird mit der Zeit nicht blos der Lückenbüßer, sondern
0211der gleich geachtete und gleich beschäftigte Rival der „großen Oper“
0212sein. Uebereinstimmend mit dem Anwachsen der Bevölkerung,
0213des Reichthums und Kunstbedürfnisses in Wien, entwickelt sich
0214dann dieser Seitenzweig hoffentlich zu einem eigenen, selbst-
0215ständigen Opern-Institut, welches — sei es nun unter einem
0216Hofdirector oder einem Privatpächter — ungefähr die Stellung
0217der Opéra Comique und theilweise des Théâtre Lyrique 
0218in Paris einnimmt.*) Durch diese Trennung der Kunstgattun-
0230gen würden sich treffliche Künstler und unter ihnen Speciali-
0231täten für einzelne Rollenfächer, es würde sich ein dramatischer
0232Gesangstyl für die heroische und die komische Oper herausbilden.
0233Dieses Endziel schwebt wol noch in weiter Ferne, allein es
0234kann nur vortheilhaft sein, dasselbe jetzt schon ins Auge zu
0235fassen und allmälig darauf loszusteuern.

Fußnoten
  • *)Die Opéra Comique pflegt bekanntlich nicht blos das eigent-
    lich komische Fach (wie die Werke von Auber, Adam etc.), sondern
    auch jene ernsten oder halbernsten Opern, welche — dem älteren deut-
    schen „Singspiel“ analog — gesprochene Prosa enthalten und weder
    Ballet noch große Chormassen verwenden, wie Méhul’sJoseph“,
    Cherubini’sWasserträger“; von neueren Opern „Zampa“, „Lalla
    Rookh“, „Mignon“, „Dinorah“ und andere. Sie beschränkt sich auf
    französische Original-Opern. Das Théâtre Lyrique bringt neben
    einigen großen Opern hauptsächlich die in Paris beliebt gewordenen Stücke
    des deutschen und italienischen Repertoires, wie „Freischütz“, „Entfüh-
    rung aus dem Serail“, „Martha“, „Lucia“, „Traviata“.