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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1799. Wien. Dienstag den 31. August 1869

[1]

Musikalisches aus München.

(Orig.-Corr. der „Neuen Freien Presse“)

München, 29. August.


0004Ed. H. München darf sich mit einigem Stolz die einzige
0005deutsche Stadt nennen, die durch die Ankündigung einer ein-
0006zelnen Theater-Vorstellung Hunderte von Fremden aus allen
0007Theilen Deutschlands und weiter her anzulocken vermag. Wie
0008im vorigen Jahre Wagnerʼs „Meistersinger“, früher noch
0009Tristan und Isolde“, so ist es jetzt das „Rheingold
0010desselben Componisten, das einen Schwarm von Fremden her-
0011beigelockt hat. Diese Namen bezeugen, daß München seine
0012musikalische Attractionskraft zu mindestens gleichen Theilen mit
0013Richard Wagner theilt, und es steht als eine für Wagner 
0014rühmliche kunsthistorische Thatsache fest, daß von allen deut-
0015schen Opern-Componisten nur er eine so aufregende Neugierde
0016auf große Entfernungen hin zu erwecken vermag. Die Musiker,
0017welche „Rheingolds“ oder der „Meistersinger“ wegen eigens
0018nach München reisen, wissen, daß sie etwas in seiner Art Un-
0019gewöhnliches, Eigenthümliches hören und sehen werden, Com-
0020position und Aufführung von so besonderer Art, daß diese
0021möglicherweise auch ein Unicum und aus München beschränkt
0022bleibt. Die mit größten Kosten und unsäglicher Mühe vorbe-
0023reiteten ersten Vorstellungen Wagnerʼscher Opern erreichen hier
0024in der That etwas von der Wirkung der olympischen Spiele:
0025das Zusammenströmen einer großen Fremdenmenge zu einem
0026ganz ausnahmsweisen theatralischen Fest. Schon die General-
0027probe (vorgestern) spielte vor einem Parterre von künstlerischen
0028und literarischen Notabilitäten. Es verlohnte sich wol, die
0029Eintretenden zu mustern, welche durch die enge Pforte sich in
0030den halberleuchteten Saal drängten. Da kommt zuerst Liszt 
0031im schwarzen, zugeknöpften Abbé-Kleid, das ihm so natürlich und cha-
0032rakteristisch steht, als hätte er nie ein anderes getragen. Die stark ver-
0033blühte, aber noch immer interessante Blondine am Arme Lisztʼs
0034ist die Gräfin Kalergis-Muchanoff, einst berühmt durch
0035Schönheit und diplomatischen Einfluß, neuerlich durch die
0036Dedication der anrüchigen Judenthum-Broschüre von R. Wag-
0037ner. Die mächtige, breitschulterige Gestalt, welche hinter Liszt 
0038auftaucht, gehört dem genialen russischen Novellisten Iwan
0039Turgenieff
; ein prachtvoller Kopf mit dichten weißen Haa-
0040ren, unter denen die tiefschwarzen Augen um so feuriger her-
0041vorleuchten. Er kommt von Baden-Baden, natürlich mit Ma-
0042dame Viardot-Garcia, der berühmten Sängerin, deren
0043geistvoller Umgang den russischen Dichter seit Jahren voll-
0044ständig zu fesseln scheint. Manuel Garcia, der berühmten
0045Schwester nicht minder berühmter Bruder, sitzt ihr zur Linken.
0046Er hat den Ruf des ersten Gesanglehrers und Stimmphysio-
0047logen der Gegenwart. Mit ihm kommt aus London der durch
0048seine Häßlichkeit noch mehr als durch seine Kritiken berühmte
0049Musikschriftsteller Chorley. Wer nennt all die anderen Na-
0050men! Henselt und Leschetitzky aus Petersburg, Joachim 
0051sammt Frau aus Salzburg, Herbeck, Goldmark,
0052v. Lützow, L. A. Frankl und viele andere Künstler und
0053Schriftsteller aus Wien, eine Unzahl deutscher Musiker, Capell-
0054meister und Journalisten, worunter die ganze äußerste
0055Linke der Wagnerʼschen Partei, das rothe Jacobinerthum der
0056Musik, fast vollständig vertreten ist. Nur Wagner selbst und
0057sein eifrigster Apostel Bülow, die gefeierten Helden der vorjäh-
0058rigen „Meistersinger“-Aufführung, weilen ferne. Früher innigste
0059Freunde, stehen sie einander jetzt fremd, ja feindlich gegenüber.
0060Die traurige Ursache dieser Entzweiung ist jetzt ein öffentliches
0061Geheimniß, sie hat Bülow wie mit einem Zauberschlag hier
0062alle Sympathien wieder zugewendet. Er will nicht mehr nach
0063München zurückkehren, das an ihm eine schwer zu ersetzende
0064künstlerische Kraft verliert.


0065Diese große Schaar berühmter und unberühmter „Rhein-
0066gold“-Pilger sieht sich seit heute Morgens auf das peinlichste
0067überrascht und enttäuscht. Die für heute Abend angesagte Vor-
0068stellung — die Morgenblätter bringen noch wohlgemuth den
0069Theaterzettel des „Rheingold“ — ist plötzlich abgesagt. Auf
0070Befehl des Königs, wie es heißt, der mit der Generalprobe
0071nicht zufrieden gewesen sein soll. Wann die Oper zur Auffüh-
0072rung kommen wird, ist noch gänzlich unbekannt. Wir wollen
0073einräumen, daß die Generalprobe noch nicht ganz vollkommen
0074war, wenn sie uns auch im Großen und Ganzen befriedigend
0075erschien; allein den Hunderten von Fremden, die eigens für
0076diese seit vielen Wochen annoncirte Vorstellung hiehergereist,
0077spielt man mit solchem Aufschub einen schlimmen Streich. Sie
0078hatten es gewiß vorgezogen, eine nicht bis ins letzte Detail
0079ausgefeilte Aufführung als gar keine zu sehen. Der ebenso
0080liebenswürdige als um das Münchener Theaterwesen hochver-
0081diente Intendant Baron Perfall ist unschuldig daran. Der
0082größte Theil der Fremden dürfte nicht in der Lage sein, aufs
0083Unbestimmte hin den Aufenthalt hier zu verlängern; nur We-
0084nige fügen sich Schmerlingʼs Devise: „Wir können warten.“


0085Wenn nicht die neue Oper selbst, so haben die fremden 
0086Musiker doch eine andere bemerkenswerthe Neuigkeit hier ken-
0087nen gelernt: die vollständige architektonische Reform der Bühne
0088und des Orchesters. Die Beschreibung der ebenso großartigen
0089als praktischen und einfachen Einrichtung, des Decorations-
0090und Maschinenwesens (ohne Dampfmaschine) würde uns zu
0091tief in rein technische Details führen. Aber den epochemachen-
0092den ersten Versuch einer neuen Gestaltung des Orchesters 
0093müssen wir erwähnen. Das Orchester ist nämlich so tief ge-
0094legt, daß man von den Parterresitzen keinen einzigen der Mu-
0095siker sieht, sondern höchstens hin und wieder den Tactstab des
0096Dirigenten. Der ästhetische Gewinn, über die Köpfe der Mu-
0097siker hinweg eine vollkommen freie Aussicht auf die Bühne zu
0098haben, ist nicht hoch genug anzuschlagen. Er scheint uns mit
0099dem etwas gedämpfteren Klange des Orchesters, der übrigens
0100den Sängern sehr zu statten kommt, nicht zu theuer bezahlt.
0101Die Schallkraft des Orchesters erschien uns allerdings etwas 
0102schwächer als sonst, aber nicht zu schwach. Die Akustik ist herr-
0103lich, läßt den Charakter jedes einzelnen Instrumentes distinct
0104hervortreten und verbindet die verschiedenen Klangfarben zu
0105schönster Harmonie. Eine zweckmäßige Verbesserung ist auch
0106das terrassenförmig angelegte Podium im Orchester: das tiefere
0107für die Bläser und Schlag-Instrumente, das höhere für das
0108Streichquartett. Die Idee zu dieser Reform ging von Baron
0109Perfall aus, die Ausführung ist das Verdienst des wahr-
0110haft genialen Mechanikers Brand aus Darmstadt. Die von
0111ihm herrührende neue Einrichtung des Münchener Theaters
0112sollte von allen Bühnentechnikern studirt und insbesondere die
0113eben geschilderte Neugestaltung des Orchester-Raumes überall
0114nachgeahmt werden.


0115Nachschrift. Soeben höre ich, daß die Intendanz ent-
0116schlossen ist, Wagnerʼs „Rheingold“ am nächsten Dienstag oder
0117Mittwoch aufzuführen, in welchem Falle ich nicht ermangeln
0118werde, Ihnen Bericht zu erstatten.