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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 1836. Wien, Donnerstag, den 7. October 1869

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Singspiel, Oper und Ballet.


0002Ed. H. Die aus dem Französischen übertragene Operette
0003Der Däumling“, im Theater an der Wien zum ersten-
0004male gegeben, hat einen schlechten Eindruck gemacht. Ich hätte
0005speciell von dem Componisten Besseres erwartet. Laurent
0006de Rillé ist in seiner Heimat kein unbekannter, sondern ein
0007recht geschätzter Name und einer der rührigsten jüngeren
0008Musiker überhaupt. Von Statur selbst eine Art Däum-
0009ling, entfaltet Rillé in seinem Eifer als Componist, Dirigent
0010und Schriftsteller eine fast ogerhafte Arbeitskraft. Bei der
0011letzten Pariser Weltausstellung hat er als Commissions-Secre-
0012tär für die musikalischen Concurse der Gesangvereine fungirt und
0013wochenlang den ganzen Tag herumlaufen und die ganze Nacht
0014schreiben müssen. Dieser Zustand ununterbrochenen Transpi-
0015rirens raubte ihm jedoch nichts von der echt französischen
0016Elasticität und Liebenswürdigkeit, welche er und seine Pariser
0017Collegen uns Fremden stets entgegenbrachten. Rilléʼs spe-
0018cielle Leidenschaft sind der mehrstimmige Männergesang und
0019die Männergesang-Vereine (Orphéons). Er hat um deren
0020Aufblühen in Frankreich unstreitiges Verdienst, führt ihnen als
0021Componist reichliche Nahrung zu und hat sogar in einer No-
0022velle, „Le jeune Orphéoniste“, die Herrlichkeit eines solchen
0023Liedertafel-Menschen mit poetischer Verklärung umgeben. Es
0024gibt keinen Gesangverein in Frankreich, der nicht einige von
0025den frisch und dankbar gesetzten Chören Laurent de Rilléʼs 
0026als Lieblingsnummern auf dem Repertoire hätte. Besonders
0027ein Zigeunerchor dieses Pariser Engelsberg („Les enfants
0028dʼEgypte“) erfreut sich großer Popularität; wir haben ihn
0029bei den Concursen der französischen und belgischen Orphéons
0030wol fünfzigmal gehört und könnten diese effectvolle Schilderung
0031wandelnden Zigeunerlebens auch deutschen Vereinen empfehlen.
0032Ein also geartetes und geübtes Talent mußte sich naturgemäß
0033bald auf die komische Operette, als auf sein nächstgrößeres
0034und lohnenderes Feld, hingewiesen sehen. „Der Däum-
0035ling
“ hat dasselbe nicht eben rühmlich betreten. Verfehlt
0036ist fürs erste schon das Textbuch. Wir sind dieser den ge-
0037sunden Menschenverstand verhöhnenden Travestien, die zwi-
0038schen dem naiven Stoffe und seiner modernen Carikirung
0039fortwährend hin- und herspringen, nachgerade satt. Anstatt
0040herzlichen Gelächters erzielen sie höchstens jenes ärgerliche, ge-
0041spannte Lächeln, welches das Raffinement als seine Quelle
0042verräth. Das Märchen selbst möchten wir als Stoff für ein
0043anspruchsloses Singspiel nicht verwerfen. Däumling und der
0044Menschenfresser bieten dem Dichter und Componisten die gün-
0045stigsten komischen Contraste. Der Aufzug des kleinen Däum-
0046lings an der Spitze seiner Brüder, sechs langgewachsener furcht-
0047samer Bengel, wird nirgends seine Wirkung verfehlen. Auch
0048dagegen wäre nicht viel einzuwenden, daß der Librettist den
0049furchtbaren Oger gleichfalls mit sieben Töchtern ausstattet,
0050welche nichts weniger als menschenfresserisch aussehen. Alles
0051Uebrige in der Novität ist geistlose Zuthat von raffinirter Ab-
0052geschmacktheit; eine Anzahl Trinklieder, Bravour-Arien, Lie-
0053besduette müssen die magere Handlung drei Acte hindurch
0054nothdürftig fristen. Das Stück läßt sich anfangs recht hübsch
0055an. Die Couplets der Schwestern beim Nüsselesen, der sich
0056anschließende Walzer Brillantinaʼs und einiges Andere
0057klingt frisch und gefällig. Je weiter, desto affectirter
0058werden Rhythmus und Melodien, desto lärmender das
0059Orchester. Die Sucht, es Offenbach gleichzuthun
0060(sie hat in Frankreich und Deutschland schon viele
0061Opfer weggerafft), bekommt auch im „Däumling“ Oberhand;
0062das Trinklied, der unvermeidliche Cancan, sogar der von
0063Offenbach in der „Vie parisienne“ eingeführte Jodler er-
0064scheinen hier als ebenso viele geschmacklose Nachahmungen. Die
0065widerwärtigste Nummer, ein langes Liebesduett, das seinen
0066Haupteffect in kindischem Mißbrauch von accelerando und
0067ritardando sucht, ist übrigens nicht von Rilléʼs Erfindung,
0068sondern von einem Wiener Capellmeister hineingemeuchelt.
0069In Composition und Aufführung stach die Novität zu ihrem
0070Nachtheile gegen Flotowʼs anspruchslosere „Witwe Gra-
0071pin
“ ab, welche zwar musikalisch auch nur französischer Nach-
0072druck ist, aber doch besserer Nachdruck nach besseren Mustern.
0073Fräulein Geistinger und Herr Swoboda spielen und
0074singen dieses einactige Proverbe ganz vortrefflich. Im „Däum-
0075ling“ war die Darstellung der derb possenhaften Figuren
0076durch Herrn Rott, Herrn Jäger und Fräulein Herzog 
0077sehr wirksam; von den neuen Sängerinnen befriedigte am 
0078meisten Fräulein Medgyeszay (ließe sich der Name nicht
0079irgendwie ins Cisleithanische übersetzen?) durch angenehme,
0080wenn auch kleine Stimme und recht gewandten Vor-
0081trag; das dramatische Talent ist gering, die Aussprache stark
0082ungarisch gefärbt. Fräulein Stubel, welche in jeder Par-
0083tie einen fast übermäßigen Eifer entwickelt, brachte die Titel-
0084rolle in zu derber Wirkung; was den Gesang betrifft, so hätte
0085der Oger an diesem Däumling gerade keine Nachtigall ver-
0086schluckt. Als neuengagirtes Mitglied, das auf allen Theatern
0087unentbehrlich zu werden droht, präsentirte sich ein Vélocipède;
0088als wäre die Seele eines störrigen Esels hineingefahren, warf
0089es eine Reiter ab.


0090Im neuen Opernhause folgten einander zwei sehr ge-
0091lungene Vorstellungen: das neuscenirte Ballet „Flick und
0092Flock“ von Taglioni, und Gounodʼs „Romeo und
0093Julie“. Das Ballet wird mit einer bewunderungswürdigen
0094Präcision getanzt und bietet dem Auge eine Reihe von nur
0095allzu blendenden Sehenswürdigkeiten. Im Scenischen wie im
0096Choreographischen machten sich wesentliche Neuerungen be-
0097merkbar, worunter einige dem Effecte entschieden günstige.
0098So freute es uns vor Allem, daß man zu der Ansicht
0099Wiens nicht mehr das sentimentale „Mailüfterl“ anstimmte,
0100sondern den Straußʼschen Walzer „An der schönen blauen
0101Donau“, dessen wohlerworbene ungemeine Popularität ihn
0102förmlich zum musikalischen Citat stempelt, wo irgend von
0103lieben und vergnüglichen Dingen in Wien die Rede geht.
0104Ferner ist der neu eingelegte, von den Tänzerinnen Stadel-
0105mayer
und Mauthner graziös ausgeführte Jockey-
0106tanz ebenso hübsch erfunden als passend zu der Londoner
0107Ansicht. Die Bal-Mabille-Scene endlich bildet insoferne einen
0108Glanzpunkt des Ballets, als die Straßen-Costüme der Her-
0109ren und Damen mit glücklichstem Humor gewählt sind, wohl-
0110getroffene und doch fein carikirte Porträts, wie man sie auf
0111den besten Blättern des Journal Amusant antrifft. Der See-
0112hafen von Lissa scheint uns etwas gezwungen in die Reihe
0113der europäischen Weltstädte eingefügt; die schöne Decoration
0114(wol die gelungenste von allen Veduten) mag die Idee
0115entschuldigen. Sehr unvortheilhaft finden wir hingegen die Ab-
0116änderung, die mit dem „Jägerballet“ vorgenommen wurde. Wäh-
0117rend nämlich im alten Opernhause das ganze weibliche Balletcorps [2]
0118als österreichische Jäger-Compagnie militärische Evolutionen
0119von imposanter Wirkung ausführte, exerciren jetzt gemeinsam
0120Jäger und fahnenschwenkende Matrosen, eine Zusammenstel-
0121lung, die, an sich sinnlos, den Effect der Jäger empfindlich
0122schwächt. Der neue kriegerische Tanz La Circassienne bietet
0123Fräulein Salvioni Gelegenheit zu fast dramatischer Moti-
0124virung jener heroischen Stellungen, in welchen sie stets am
0125glücklichsten wirkt. Bedeutendes Verdienst um den Erfolg von
0126Flick und Flock“ hat die unerschöpfliche Laune der Herren
0127Frappart und Price, endlich die effectvolle Decorations-
0128Malerei des Herrn Burkhart. Seine „Gnomengrotte“ im
0129ersten Acte wirkt bei aller Buntheit feenhaft; den „Meeres-
0130grund“ im zweiten möchten wir mehr ob gelungener Einzel-
0131heiten loben, als für seine Totalwirkung, wenigstens paßt sie
0132nicht zu den im Hintergrund auftauchenden Städtebildern.
0133Letztere erscheinen zu nüchtern realistisch, zu gleichmäßig gefärbt
0134mit dem das Meer vorstellenden Mittel- und Vordergrund,
0135von dem sie sich zu wenig abheben. Durch die Beleuchtung
0136ließe sich diesfalls viel gewinnen, wie der Versuch mit dem
0137Moskauer Bild zeigt, das durch Verfinsterung der vorderen
0138Bühne außerordentlich gewinnt. Trotz des beengten Bühnen-
0139raumes machten im alten Opernhause diese Dissolving views
0140eine poetischere Wirkung. Den vollständigen Erfolg der ganzen
0141Vorstellung haben wir bereits gemeldet.


0142In GounodʼsRomeo“ waren die Rollen des Ca-
0143pulet und Tybalt durch die Herren Mayerhofer und
0144Pirk neu besetzt. Dem überall tüchtigen Mayerhofer fehlt
0145für den fast zur bloßen Repräsentations-Rolle zusammen-
0146schrumpfenden Capulet die imposante Persönlichkeit seines
0147Vorgängers Schmid. Herr Pirk verbreitet durch sein Auf-
0148treten wenigstens noch immer die beglückende Empfindung
0149über den Verlust des jungen Herrn Wachtel. Die Herren
0150Walter, Rokitansky und v. Bignio waren vortreff-
0151lich; die schwierige Erzählung von der Fee Mab kann nur
0152bei so musterhafter Oekonomie des Athems, wie sie Herr
0153v. Bignio sich erworben hat, zur Geltung kommen. Fräu-
0154lein Ehnn, welche nach ihrer Urlaubsreise zum erstenmal
0155wieder auftrat, erntete als Julie rauschenden und allgemeinen
0156Beifall. An Leidenschaftlichkeit des Ausdruckes blieb sie nicht
0157hinter ihren früheren Darstellungen zurück, speciell erfreute sie 
0158uns durch noch schönere Verwendung der mezza-voce, als wir
0159bisher an ihr gekannt. Durch ihre warme Empfindung und echt
0160dramatische Auffassung übt Fräulein Ehnn jederzeit eine eigenthüm-
0161lich sympathische Wirkung auf den Hörer: sie nimmt sein Interesse
0162nicht für Einzelvorzüge ihrer Kunst, sondern für den darge-
0163stellten Charakter sofort gefangen. Dies unterscheidet sie von
0164anderen, ihr technisch überlegenen Sängerinnen, deren großen
0165Activen an Gesangskunst ebenso große Passiven an Poesie und
0166Grazie gegenüberstehen, Sängerinnen, die man immer loben
0167muß und für die man sich doch so selten interessiren kann.


0168Der Umstand, daß GounodʼsRomeo“ einige Monate
0169vollständig geruht hatte, kam der Vorstellung äußerst förder-
0170lich zu statten. Die Sänger wirkten sämmtlich mit einer Lust
0171und Liebe, die sie beim besten Willen für die übrigen im neuen
0172Hause so unablässig wiederholten Opern nicht mehr aufbringen.
0173Dieses fortwährende Ableiern von drei bis vier Opern, die,
0174wie „Tell“, „Hugenotten“, „Stumme von Portici“, schon im
0175alten Theater ungebührlich abgenützt wurden, muß die Sänger
0176abstumpfen; es übt schließlich eine geradezu demoralisirende
0177Wirkung, wie einige der letzten Reprisen zeigten. Man kann
0178der Direction aus dem noch schmalen Repertoire des neuen
0179Opernhauses keinen Vorwurf machen, denn das Uebersiedeln
0180einer großen Zahl von Opern ist bei den gegenwärtig so hoch
0181gesteigerten Ansprüchen an die Ausstattung eine Riesenarbeit,
0182die nur allmälig bewältigt werden kann. Aber dagegen lassen
0183sich Bedenken erheben, daß die Direction jetzt schon das alte
0184Opernhaus so gut wie verlassen hat. Es wird höchstens ein-
0185mal in der Woche noch geöffnet; für „Faust“ und „Lucia
0186von Lammermoor“. Wer würde aber nicht gerne von der
0187Pracht des neuen Hauses wieder einmal bei Opern
0188wie „Figaroʼs Hochzeit“, „Jessonda“, „Weiße Frau“
0189u. s. w. Auge und Ohr ausruhen, sich musikalisch erbauen?
0190Je mehr es den Anschein gewinnt, als würde dergestalt Alles,
0191was nicht große Ausstattungs-Oper und Ballet ist, der Ver-
0192gessenheit geweiht, desto eifriger müssen wir die Einrichtung
0193eines zweiten selbstständigen Opernhauses nach Art der Pa-
0194riser Opéra Comique anstreben. Eine ähnliche Tendenz
0195sehen wir jetzt in Dresden thätig, wo die gebildetste künst-
0196lerische Partei vorderhand um den geringeren, nothwendigeren
0197Erwerb, den der Trennung von Oper und Schauspiel, kämpft.
0198Die Frage nach dem definitiven Aufbau eines neuen Theaters
0199(abgesehen von dem provisorischen Nothbau) beschäftigt dort
0200auf das lebhafteste die Bevölkerung. Der bewährte Musik-
0201Kritiker der Constitutionellen Zeitung, Ludwig Hartmann, hat
0202das richtige Losungswort gefunden, indem er für den Bau
0203von zwei Theatern plaidirt, deren eines dem recitirenden
0204Schauspiel, das andere der Oper und dem Ballet zu widmen
0205wäre. Er findet in Dresden zwei grundverschiedene Ansprüche
0206an „Theater“ zu constatiren. Thatsache ist, daß die feinere
0207Gattung im Lust- und Schauspiel in dem abgebrannten gro-
0208ßen Hause stiefmütterlich bedacht worden ist und — wegen
0209Mangels an Zeit und Raum für die nöthigsten Proben! —
0210arg vernachlässigt werden mußte. Die Schauspieler empfan-
0211den schwer, daß ihnen neben der Herrschaft der Oper eben
0212nur die Luft zur ephemeren Existenz belassen war.


0213„Wenn nun,“ fährt Hartmann fort, „Raum und Zeit
0214unter zwei Gattungen nicht vertheilt werden können, ohne eine
0215oder die andere zu benachtheiligen, wenn ferner dutzendweise
0216gute und oft sogar die ausgezeichnetsten Kräfte müßiggehen
0217und in bitterem Unmuth klagen, daß eine künstlerische Freu-
0218digkeit, ein reges Fortschreiten in der Bahn zum Höheren gar
0219nicht möglich sei — wir stehen mit den Beweisen zu Dien-
0220sten, daß einzelne Mitglieder monatelang zur qualvollsten Un-
0221thätigkeit verurtheilt waren — was liegt da näher, als die
0222Oper von Schauspiele zu trennen und sie beide, unabhängig
0223von einander, zu pflegen?“


0224Das kleinere, intimere Schauspielhaus, das total von
0225aller Ausstattung und übermäßigen Beleuchtung abzusehen und
0226billigere Eintrittspreise zu stellen hätte, würde die Kunstfreunde
0227schadlos halten, wenn die Thatsache sich wiederholt, daß Aus-
0228stattungsstücke wie „“ oder „Undine“ eine ganze Reihe
0229von Abenden hinter einander die Opernbühne usurpiren. Nur
0230durch solche Zweitheilung hindert man „die Entfremdung des
0231Theaters von dem wahrhaft ästhetisch zurechnungsfähigen Pu-
0232blicum“. Die eigenthümlichen Verhältnisse Dresdens, dieser
0233von vielen tausenden Fremden bewohnten und besuchten
0234„Villa Deutschlands“, bringen es mit sich, daß die Zukunft
0235ihres Theaters mehr als ein blos locales Interesse berührt.
0236Darum dürfte es den für die echte Kunst besorgten und thä-
0237tigen Männern in Dresden nicht unangemessen, sondern nur [3]
0238erwünscht erscheinen, wenn ihre Bemühungen für ein zwei-
0239tes Theater auch von Außen her die publicistische Unterstützung
0240Gleichgesinnter finden.“