Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 1859. Wien, Samstag, den 30. October 1869

[1]

Hofoperntheater.


0002Ed. H. AuberʼsFra Diavolo“ ist nach mehr-
0003jähriger Ruhe neu einstudirt und vorgestern dort aufgeführt
0004worden, wo er nicht hingehört: im neuen Opernhause. Es
0005war vorauszusehen, daß das niedliche Genrebild in dem weiten,
0006luxuriösen Rahmen unseres großen Operntheaters viel von
0007seinem Reize einbüßen werde. Die feinen Details der Musik
0008und des Dialoges gingen verloren, das Ganze erhielt eine
0009fremdartig steife, prätentiöse Physiognomie. Musikalische Lust-
0010spiele wie „Fra Diavolo“, welche auf dem munteren Zu-
0011sammenspiel von drei bis vier Personen beruhen, auf schwacher
0012Orchester- und Chorbesetzung und bescheidenster Scenerie,
0013schöpfen den besten Theil ihrer Wirkung gerade aus dieser
0014Anspruchslosigkeit. Sie brauchen ein kleines Theater. In ein
0015grandioses Gebäude versetzt, erregen sie ungefähr die Empfin-
0016dung, als betrachte man ein blühendes Gärtchen durch das
0017Teleskop. Die jüngste Vorstellung der „Mignon“ im alten
0018Opernhause hätte der Direction den deutlichsten Fingerzeig
0019geben können. Wie mühelos und natürlich sangen und spiel-
0020ten die Künstler, wie vergnügt und theilnehmend folgte ihnen
0021das Publicum! Der nähere Rapport zwischen Darstellern und
0022Zuschauern übte sichtlich den glücklichsten Einfluß auf beide
0023Theile. Man vergaß die Unbequemlichkeit der engen Sitze und
0024der hohen Temperatur über dem lang entbehrten Gewinn:
0025feiner zu hören, deutlicher zu sehen und unmittelbarer zu
0026empfinden. Damit wollen wir keineswegs die Hauptschuld an
0027dem Mißerfolg „Fra Diavoloʼs“ auf das Locale wälzen; mit
0028der gegenwärtigen Besetzung, die ja nicht entfernt an jene der
0029Mignon“ reicht, wäre „Fra Diavolo“ auch im alten Hause
0030kein Magnet geworden. Aber besser hätten sich dieselben
0031Leistungen, besser hätte sich die ganze Oper hier doch ausge-
0032nommen. Herr Labatt, ein Tenor von leicht ansprechendem,
0033gesundem und markigem Brustton, ist uns vom vorigen Sommer
0034her als Vasco de Gama in recht guter Erinnerung. Er 
0035hätte sich in einer ähnlichen Heldenrolle als neuengagirtes
0036Mitglied einführen sollen, statt in einer Spielpartie, für welche
0037ihm die nöthigsten Schauspielertalente abgehen. Im ersten Acte sah
0038Herr Labatt aus nicht wie ein vornehmer Marquis, sondern wie
0039ein Oberkellner auf einem Sonntags-Vergnügungszug, im dritten
0040Act nicht wie ein Räuberhauptmann, sondern wie ein hoch-
0041zeitlich geputzter Barbier von Sevilla. Zwar pflegen sämmt-
0042liche Herren Tenoristen (wahrscheinlich mit einziger Ausnahme
0043Niemannʼs) zu vergessen, daß Fra Diavolo schließlich, sei-
0044nem Berufe und Namen getreu, als furchtbarer Bandit er-
0045scheint, gleichsam im bequemen Mord-Hauskleide nach abgewor-
0046fener lästiger Cavaliers-Toilette — aber so balletmäßig ge-
0047schniegelt und geputzt wie Herr Labatt ist noch keiner seiner
0048Vorgänger aus der Abruzzenhöhle getreten. Im Spiele war
0049Herr Labatt größtentheils gesucht und stutzerhaft, im gespro-
0050chenen Dialog incorrect und von lästiger Schönrednerei. An-
0051spruchslose Natürlichkeit, Witz und Grazie, das Lebens-Ele-
0052ment solcher Rollen, vermißten wir an diesem Fra Diavolo,
0053dessen Mienenspiel überdies durch einen bedauernswerthen Na-
0054turfehler beeinträchtigt wird. Die Kritik ist in Bezug auf kör-
0055perliche Mängel eines Schauspielers in einer peinlichen Lage;
0056sie soll hinter jedem falschen Tone eines Sängers scharf hin-
0057terher sein, aber beileibe nichts davon merken, wenn die Na-
0058tur selbst bei Erschaffung desselben falsch gesungen hat. Der
0059eigentlich musikalische Theil der Leistung war weitaus der be-
0060friedigendste, und wessen Ansprüche in der Spieloper nicht
0061weiter gehen, der konnte mit Herrn Labattʼs Fra Diavolo zu-
0062frieden sein. Den Klang seiner auch in der Tiefe ausgiebigen
0063Stimme haben wir bereits gerühmt; in der Coloratur be-
0064wegt sich Herr Labatt noch überwiegend naturalistisch, verfügt
0065jedoch über eine geschickte Behandlung der voix-mixte. Der
0066Vortrag war überall zutreffend und anständig, mitunter sehr
0067gefällig (wie in der zweiten Barcarole), nirgends jedoch zün-
0068dend durch Geist oder rührend durch tiefere Empfindung. Kein
0069Zweifel, daß Herr Labatt in heroischen Partien mehr Effect
0070machen wird; den Fra Diavolo hätte zum Vortheile des Gan-
0071zen besser Herr Walter übernommen, der die Rolle längst 
0072einstudirt und durch seinen George Brown und Wilhelm
0073Meister ein vorzügliches Anrecht darauf hat. Die Zerline 
0074Fräulein Tellheimʼs ließ das Publicum sehr gleichgiltig.
0075Fräulein Tellheim soll sich an dem Abende unpäßlich gefühlt
0076haben, und diesem Umstande ist es wol zuzuschreiben, daß die
0077Sängerin mitunter bis zur Unhörbarkeit schwach sang, und
0078dies Schwäche nicht immer rein. Das kann zeitweilig dem
0079besten Sänger passiren. Aber was der ganzen Auffassung und
0080Darstellung sonst noch abging, können wir kaum für Nach-
0081wirkungen eines Schnupfens halten, umsoweniger, als Fräulein
0082Tellheim verwandte Rollen in ganz ähnlicher Weise vorträgt:
0083an der Oberfläche zierlich und lackirt, innerlich kühl, kränklich,
0084empfindungslos. Den Ausdruck ungeschminkter Natürlichkeit,
0085wahrer, herzlicher Empfindung vermißte man fast durchwegs;
0086selbst in Tracht und Haltung widersprach Fräulein Tellheim 
0087dem Bilde eines einfachen Bauernmädchens. „Ich bin doch
0088nur eine arme Magd,“ singt Fräulein Tellheim vor dem Schlafen-
0089gehen, bindet dabei einen feinen Spitzenschleier um und legt sich
0090mit den zierlichsten Schuhen zu Bett. Was ein wahres, realistisches
0091Talent aus dieser dankbaren Scene zu machen weiß, das hat
0092einst am glänzendsten Jenny Lutzer gezeigt, von den fran-
0093zösischen Darstellerinnen gar nicht zu sprechen. Herr Pirk 
0094(Lorenz) paßte insoferne gut zu seiner Zerline, als auch bei
0095ihm nur die höheren Töne vernehmbar waren; die kleinen
0096Couplets im dritten Act sang er übrigens mit Empfindung.
0097Sehr wirksam, ohne Uebertreibung gab Herr Mayerhofer 
0098den Lord Kockburn, gut secundirt von Fräulein Gindele,
0099die als blonde Lady vortrefflich aussah. Auch dem Banditen-
0100paar Campe und Lay läßt sich Gutes nachsagen. Den
0101Wirth (ich glaube „zur blauen Flasche“ in Lerchenfeld)
0102gab Herr Brandstöttner. Das Orchester unter Herrn
0103Dessoffʼs Leitung klang fein und discret, so lange die
0104Blechinstrumente aus dem Spiele bleiben; gegen den Alles
0105verschlingenden Schall der letzteren scheint es im neuen Hause
0106kein Mittel zu geben. Von den (aus der „Stummen von
0107Portici“ zusammengestellten) Decorationen machte die erste
0108einen recht malerischen Eindruck; hingegen bot im dritten Acte [2]
0109die mit Versetzstücken überfüllte Bühne ein höchst unruhiges,
0110confuses Bild.


0111Von den Mängeln der Aufführung absehend, können
0112wir für die Oper selbst der Direction nur dankbar sein.
0113Sie hat noch keine Runzeln, diese frische, reizvolle Musik,
0114welche am 8. Januar des künftigen Jahres ihren 40. Ge-
0115burtstag feiert. Scribeʼs vortreffliches Textbuch, das die Ro-
0116mantik des Räuberlebens mit der feinen Komik des Lustspiels
0117trefflich ineinanderflicht und eine ganz neue drastische Figur,
0118den reisenden Engländer, in die Oper einführt, findet in
0119Auberʼs Musik eine durchaus meisterhafte Illustration.*) 
0129Wir lieben und bewundern diese Oper nicht blos wegen ihrer
0130blühenden und geistvollen musikalischen Erfindung, sondern fast
0131ebensosehr um all desjenigen willen, was Auber darin zu
0132vermeiden gewußt hat und was unsere heutigen Singspiel-
0133Komponisten nicht mehr zu vermeiden verstehen. Was für
0134dröhnende, reich mit Blech gefütterte Arien bekäme Fra
0135Diavolo heutzutage zu singen, welch herzbrechende Harfen-
0136Arpeggien und Violoncell-Soli würden über die schlafende Zer-
0137line gebreitet! Auber, welcher heroische Scenen und drama-
0138tische Knalleffecte besser als Andere zu componiren verstand
0139(siehe die „Stumme“ und die „Ballnacht“), hält sich im
0140Fra Diavolo“ durchaus maßvoll an die einfachsten Formen
0141der Romanze und des Strophenliedes, und weiß selbst in den
0142größeren Ensembles, wie in dem B-dur-Quintett des ersten
0143Actes, dem allerliebsten Terzett: „Allons, ma femme, allons
0144dormir“, dann im Finale des dritten Actes den musikalischen
0145Conversationston mit bewunderungswerthen Stylgefühl zu 
0146wahren. Hin und wieder erscheint auch ein dürres, dürftig
0147harmonisirtes Motiv oder ein banales Trompeterstückchen,
0148Alles aber stets so anspruchslos, natürlich und zum Ganzen
0149passend, daß man nicht ärgerlich werden kann.


0150Die Wiederaufnahme des „Fra Diavolo“ und die be-
0151vorstehende von Mozartʼs „Entführung aus dem Serail“
0152sprechen für das lobenswerthe Bestreben der Direction, das
0153Fach der komischen Oper nicht ganz verkümmern zu lassen.
0154Bei dem besten Willen dürfte sich jedoch eine ausgiebige Re-
0155pertoire-Bereicherung nach dieser Seite hin kaum durchführen
0156lassen ohne einige neue Acquisitionen im Sängerpersonal.
0157Relativ erscheint es allerdings lobenswerth, ja mitunter be-
0158wunderungswürdig, was unsere überwiegend für das tragische
0159Fach gebildeten und verwendeten Künstler nebenbei in der
0160Spieloper leisten. Wir erinnern an Fräulein Ehnn und
0161Herrn Walter in „Mignon“. Fräulein Rabatinsky, in
0162Spiel und Rede noch mit mancher Schwierigkeit kämpfend,
0163ist trotzdem eine Philine, um die uns jede deutsche Bühne be-
0164neiden kann und wahrscheinlich schon beneidet. Die Sänge-
0165rinnen Tellheim und Gindele leisten in der Spieloper
0166sehr Verdienstliches, wenn ihnen nicht Hauptrollen, auf wel-
0167chen das ganze Gewicht der Oper ruht, zugetheilt sind. Herr
0168Beck hat durch seine meisterhafte Darstellung des Wasser-
0169trägers bewiesen, wie sehr er sich auch in den Ton des Rühr-
0170stückes und Familiendramas einzuleben versteht. Herr Müller 
0171endlich darf sich als Postillon von Lonjumeau eines wohlver-
0172dienten Erfolges rühmen. Demungeachtet kann man nicht
0173verlangen, daß diese Künstler in der Spieloper ebenso gut
0174und ebenso gern singen, wie in ihrem eigentlichen Fach, der
0175großen Oper. Das fortwährende Wechseln zwischen zwei
0176so verschiedenen Stylarten ist eine starke Zumuthung
0177und von vornherein ein stillschweigendes Ersuchen
0178um Nachsicht. So lange das Hofoperntheater nicht
0179einige neue Mitglieder gewinnt, vermag es eine Reihe
0180der anmuthigsten komischen Opern nicht zu geben. Der komi-
0181schen Oper ist es eigen, daß sie nicht blos anständig agirende 
0182gute Sänger, sondern specifische Talente braucht. Erscheint
0183sie in Bezug auf Stimmkraft, auf Ausstattung, Chöre und
0184Orchester überaus bescheiden, so hält sie sich für diese Ent-
0185sagung auf einer anderen Seite schadlos: sie verlangt zwei
0186bis drei hervorragende Darsteller, die schon durch ihren Geist
0187und ihre Persönlichkeit interessiren. Die komische Oper stellt
0188eine geringere Quantität von Ansprüchen, aber sie besteht viel
0189unerbittlicher darauf, als die musikalische Tragödie. Welch
0190glänzenden, anhaltenden Succeß erlebte hier vor einigen Jahren der
0191Schwarze Domino“, als Fräulein Artôt die Angela sang.
0192In Berlin entzückt ähnlicherweise die Lucca in solchen, nur
0193durch sie erfolgreichen Opern. Wir müssen auf den „Schwar-
0194zen Domino“, die „Krondiamanten“, „Teufels Antheil“, „Don
0195Pasquale“, „Nordstern“, „Liebestrank“, „Regimentstochter“
0196u. s. w. ganz verzichten, weil diese Opern nur durchgreifen
0197können, wo die weibliche Hauptrolle nicht blos von einer
0198„braven“ Sängerin, sondern von einem entschiedenen Talent
0199dargestellt wird, von einer Persönlichkeit, welche den Hörer
0200lebhaft interessirt und fesselt. Eigentlich haben wir für Opern
0201wie die genannten noch immer keinen Ersatz für Fräulein
0202Wildauer. So viel sie auch aus höheren Gesichtspunkten
0203zu wünschen übrig ließ, sie war doch ein Talent. Andere
0204komische Opern, wie „Czar und Zimmermann“, „Wild-
0205schütz“ etc., waren wieder ihres Erfolges sicher, so lange wir
0206einen Baßbuffo von dem Talent und der unversiegbaren Laune
0207Hölzlʼs besaßen. So nothwendig wie ein Baßbuffo ist uns
0208schließlich ein richtiger Spieltenor mit specifischer Begabung
0209und Bildung für das musikalische Lustspiel. Ist es der
0210Direction ernstlich zu thun um ein wirklich lebendiges, nicht
0211blos scheinbares Aufblühen der komischen Oper, so wird sie
0212sich der Nothwendigkeit einiger neuer Engagements nicht ent-
0213schlagen können. Dann erst wird sie die Genugthuung er-
0214leben, daß eine Reihe älterer und neuerer Spielopern zum
0215Lieblings-Stelldichein eines Publicums wird, welches einen lang-
0216entbehrten Genuß doppelt hochzuschätzen versteht.

Fußnoten
  • *)Der Kern der Geschichte ist nicht Scribeʼs Erfindung. „Fra
    Diavolo, Chef des Brigands dans les Alpes“ erschien als Spectakel-
    stück von Cuvellier und Franconi in Paris schon im Jahre 1808 und
    war eine Bearbeitung der früher sehr beliebten Oper „La Caverne“
    von Lesueur. Unter dem Titel: „Die Räuber in den Abruzzen“ wurde
    diese berühmte Spectakel-Pantomime im Theater an der Wien im
    Jahre 1822 zum erstenmale mit beispiellosem Erfolge gegeben.
    AuberʼsFra Diavolo“ erschien 1830 in Paris und noch im selben
    Jahre in Wien.