Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2777. Wien, Samstag, den 18. Mai 1872
[1]Musik.
(Die Schubert -Feier. — Italienische Oper.)
0003Ed. H. Wien hat am 15. Mai mit der Enthüllung des
0004Schubert -Denkmals ein schönes Fest gefeiert. Es ist würdig,
0005mit jener prunk- und prahllosen Herzlichkeit begangen worden,
0006welche die echte, verständnißvolle Empfindung beglaubigt. In
0007einer grünen Bucht des Stadtpark es, von Bäumen beschattet,
0008von Blumenbeeten eingefaßt, sitzt nun componirend der mar-
0009morne Schubert . Endlich einmal ein Monument, das man
0010nicht nur betrachten kann, ohne überritten und überfahren zu
0011werden, sondern das den Beschauer freundlich zu bequemem
0012Verweilen einladet. Es fügte sich schön, daß der Frühling
0013seinen goldigsten Sonnenschein, seinen farbigsten Blumenflor,
0014seinen süßesten Akazienduft als Sendboten schickte zu dem
0015kleinen Feste im Stadtpark e. Da steht denn wirklich das
0016Schubert -Denkmal als greifbare Thatsache, während das
0017Monumentproject für seine großen Vorgänger in Wien eine
0018täglich fragwürdigere Gestalt annimmt. Nahezu sechzig Jahre
0019sind es, daß unsere „Gesellschaft der Musikfreunde“ zum
0020erstenmale öffentlich ein Denkmal proponirte „für die drei
0021Musikheroen Haydn , Gluck und Mozart “. Die Betheiligung
0022fiel so lau aus, wie der Aufruf selbst, so daß das Unter-
0023nehmen fürs erste als aufgegeben betrachtet wurde. Bald
0024nachher hatte die Gunst des Schicksals dieses musikalische
0025Kleeblatt zu einem vierblätterigen entfaltet, einem wahren
0026Glückssymbol für die Tonkunst in Wien , und als man 1841
0027durch ein großes Musikfest das „längst projectirte Monument
0028in der Karlskirche“ einen Schritt vorwärts brachte, da hieß
0029es bereits „für Haydn , Gluck , Mozart und Beethoven“.
0030Ein Jahr nach Beethoven ’s Tod, noch ehe man die ungeheure
0031Bedeutung dieses Verlustes recht erkannt hatte, war auch der-
0032jenige heimgegangen, der inzwischen still und unerkannt
0033Beethoven ’s Erbschaft angetreten: Franz Schubert. Wie-
0034derum tauchte vor einigen Jahren die Seeschlange der „Mo-
0035numentfrage“ an die Oberfläche, und siehe da, das Denkmal er-
0036hielt abermals einen Annex: man nannte Schubert als neu
0037hinzukommenden, nicht abzuweisenden Unsterblichkeits-Aspiranten.
0038Wenn wir nur hoffen könnten, daß das so fortgeht, mit Ver-
0039gnügen ließen wir die fünf geduldigen Tondichter noch ein
0040kleines Decennium auf ihr Monument warten. Vorderhand
0041ist aber kein Sechster in Sicht, und so that man sehr wohl
0042daran, nicht länger zu warten und zuerst den jüngsten der
0043großen Meister, den einzigen geborenen Wiener unter ihnen,
0044Franz Schubert, in Marmor zu bilden.
0045Der Ruhm, diesen Entschluß rasch gefaßt und auf eigene
0046Faust ausgeführt zu haben, gebührt dem Wien er Männer-
0047gesang-Verein, welcher damit nicht blos Schubert , son-
0048dern zugleich sich selbst ein rühmliches Denkmal gesetzt hat.
0049Herbeck und der verstorbene Schierer gaben vor zehn
0050Jahren die erste Anregung; wir brauchen blos zu sagen, daß
0051des Letzteren Nachfolger in der Vorstandschaft des Vereines
0052Nikolaus Dumba heißt, um jede Frage überflüssig zu
0053machen, wem wol an der letzten Ausführung des Planes das
0054größte Verdienst zufällt. Es dürfte kaum ein zweites Beispiel
0055geben, daß ein musikalischer Privatverein dergestalt die Ehren-
0056schuld des ganzen Vaterlandes einlöst und seiner Hauptstadt
0057ein solches Geschenk macht. Die Art, wie man die Mittel
0058dazu beschaffte, ist nicht minder schön und selten, als die
0059That selbst: das Schubert -Denkmal ist (einige freiwillige
0060Privatbeiträge abgerechnet) aus den Concert-Erträgnissen des
0061Vereines bestritten worden. Die Beiträge sind nicht, wie sonst
0062üblich, durch bewaffneten Hausbettel zusammengebracht worden,
0063auch nicht durch jene Mischung von Furcht und Eitelkeit, sich
0064in der Wiener Zeitung an den Pranger der Wohlthätigkeit
0065gestellt zu sehen, wo Herr A. natürlich mit keinem geringeren
0066Betrag erscheinen kann, als den sein Standesgenosse oder intimer
0067Feind Herr B. gezeichnet hat — Schubert ’s Lieder (wie
0068Dumba in der Festrede sagte) haben Stein auf Stein gefügt
0069zu diesem Monumente.
0070Die Festlichkeit der Denkmals-Enthüllung hat an dieser
0071Stelle bereits ein anderer Berichterstatter ebenso vollständig
0072wie lebhaft geschildert. Die musikalische Gedenkfeier folgte zur
0073Abendstunde in dem festlich beleuchteten, mit Schubert ’s
0074Colossalbüste geschmückten großen Musikvereinssaale. Das
0075Programm des Concertes ging von dem Gedanken aus, einen
0076Mikrokosmus der beispiellosen, über alle Gebiete der Tonkunst
0077sich ergießenden Productivität Schubert ’s zu geben. Die Sym-
0078phonie, das Streichquartett, das Clavierstück, der Männerchor
0079und das Lied waren repräsentirt. Die kirchliche und die dra-
0080matische Composition auch mit einzubeziehen, war nicht leicht
0081thunlich; das Lied hingegen hätte reichlicher vertreten sein
0082sollen, als durch ein einziges Stück („Die Allmacht “), welches
0083obendrein in seinem arienhaften, hochgespannten Pathos von
0084dem Typus des eigentlichen Schubert -Liedes weit absteht. Die
0085Chöre wurden von den Chormeistern Weinwurm und
0086Kremser, die beiden Sätze der unvollendeten H-moll-
0087Symphonie von Director Herbeck dirigirt, dessen große
0088Verdienste um das Aufblühen des Vereines, wie um die Ver-
0089breitung Schubert ’scher Musik das Publicum durch laute Be-
0090grüßung anerkannte. Wer auch nur die ersten acht Tacte der
0091H-moll-Symphonie oder die Instrumental-Einleitung des
0092„Gesanges der Geister“ gehört, der mochte in den Ausruf
0093einstimmen, welchen Beethoven auf seinem letzten Krankenlager
0094gethan: „Fürwahr, in diesem Schubert steckt der göttliche
0095Funke!“ Dieser Funke hat sich ohne Frage zumeist an Beet-
0096hoven ’s Flamme entzündet; in seiner musikalischen Conception
0097und Ausdrucksweise erscheint Schubert keinem Componisten
0098so nahe verwandt, wie dem Schöpfer der Pastoral-Symphonie .
0099In seiner Total-Erscheinung, als Künstler wie als Mensch,
0100erinnert er aber weit mehr an Mozart . Zuerst in der unbe-
0101greiflichen Leichtigkeit und Fruchtbarkeit seines Schaffens;
0102Beethoven producirte weniger und schwerer. Was so oft von
0103Mozart gesagt ist, daß zu Musik wurde, was nur seine
0104Hand berührt hat, es gilt ebenso von Schubert . Wie Mozart
0105gehört er zu jenen intensiv musikalischen Naturen, in welchen
0106das specifische Talent alle übrigen Fähigkeiten, Interessen und
0107Beziehungen gleichsam absorbirt. Von lebhaftem Antheil an
0108der Politik, von eifriger literarischer Beschäftigung oder
0109Neigung zu philosophischen Meditation wie bei Beethoven
0110finden sich keine Spuren bei Schubert . Er machte, von seiner
0111Musik abgesehen, den Zeitgenossen nicht den Eindruck einer
0112geistig bedeutenden Persönlichkeit.
0113Unablässig und überall in musikalisches Schaffen ver-
0114sunken, erfindend und überlegend, blieb er doch frei von jeder
0115Grübelei, frei von dem menschenscheuen, mißtrauischen Wesen
0116Beethoven ’s. Offenen, heiteren Sinnes, voll treuherziger
0117Kindlichkeit, leicht erregt, sanguinisch, ein Kind der Stimmung,
0118erinnert er an das liebenswürdige Naturell Mozart ’s, dem er
0119in seiner Lebensweise gleicht und leider auch in seinem
0120frühen Tod. Wie Mozart , so excellirte Schubert auch
0121in allen Gattungen der Instrumental-Composition; aber der
0122Schwerpunkt Beider liegt doch in der Vocalmusik, in der
0123unbegreiflichen Fülle reizender und zugleich ausdrucksvoller
0124Melodie. Schubert , der seine Lieder in Privatkreisen selbst
0125sang, besaß vor Beethoven den Vortheil, daß er selbst Sänger
0126war und deßhalb auch immer sangbar schrieb. Ganz eigen[2]-
0127thümlich hingegen ist Schubert das Schicksal, welches sein
0128Liederruhm ihm bereitet hat. Indem er mit Liedern seine
0129Carrière begann und seine größten Erfolge feierte, hat
0130Schubert lange Zeit — sie reicht über sein Leben hinaus —
0131nur als Lieder-Componist gelten müssen. Man hat
0132ihm den durch seine Unentrinnbarkeit so fad gewordenen
0133Beinamen des „Liederfürsten“ gegeben. Als hätte er
0134in seinen Instrumental-Werken nicht eine ebenso glänzende
0135Genialität geoffenbart! Freilich wurde der größte Theil
0136dieser Schöpfungen erst nach Schubert ’s Tod bekannt. Für
0137ihre Verbreitung und Anerkennung hat zuerst Robert Schu-
0138mann als Schriftsteller mächtig gewirkt, ihm zunächst Her-
0139beck als Concert-Dirigent und Hellmesberger als
0140Quartettspieler. Seitdem spielt und studirt man immer eifri-
0141ger, preist immer gerechter diese reizenden, genialen Tondich-
0142tungen, ja man geht mitunter in dem Nachholen des versäum-
0143ten Lobes etwas zu weit. Wenn man sich nicht begnügt,
0144Schubert ’s außerordentliche Begabung, seine Naturkraft jener
0145Beethoven ’s gleichzuschätzen, sondern ihn als Instrumental-
0146Componisten schlechtweg auf gleiche Höhe mit Beethoven
0147stellen will, so begeht man zu Gunsten eines Großen eine
0148Ungerechtigkeit gegen einen Größeren. Niemand würde lebhafter
0149dagegen protestirt haben, als Schubert selbst, der mit Ver-
0150ehrung zu Beethoven emporblickte. In ihrem melodiösen
0151Zauber, ihrer hinreißenden Jugendlichkeit sind Schubert ’s
0152Instrumentalwerke einzig, aber selbst wenn sie aus lauter
0153Prachtmomenten bestehen, sie können den musivischen Bau nie
0154ganz überwinden. In der Form an die großartige Breite
0155Beethoven ’s erinnernd, mangelt ihnen doch die zusammen-
0156haltende Kraft, der organisch aus Einem Mittelpunkt auf-
0157strebende und festgegliederte Bau, welcher bei Beethoven ’s
0158Symphonien im Hörer das Gefühl der unwiderstehlich fort-
0159drängenden inneren Nothwendigkeit erzeugt. Die glänzenden
0160Darstellungsmittel, der sinnliche Klangreiz überwuchern bei
0161Schubert häufig den geistigen Gehalt, und so sehr wir seinen
0162Reichthum in Melodie, Harmonie und Rhythmus bewundern,
0163wir vermissen doch häufig die vollständige Durchdringung und
0164Gleichberechtigung dieser Elemente, welche ein Kennzeichen des
0165Classischen und nur die Frucht vollendeter Meisterschaft ist.
0166Schubert erreicht im symphonischen Styl ebensowenig die
0167künstlerische Vollendung Beethoven ’s, als dieser im Liede mit
0168Schubert zu rivalisiren vermag. Im Liede hat Schubert eine
0169neue Welt erschlossen, ähnlich wie Mozart in der Oper,
0170Beethoven in der Symphonie. So viel Schönes gerade im
0171Liede die neueste Zeit uns gebracht hat, Schubert steht hierin
0172noch immer übertroffen, unerreicht. Ein schönes Wort,
0173womit ein neuerer Schriftsteller (Ehlert ) die Lieder Schubert ’s
0174charakterisirt, lautet: Würde ein höheres Wesen, mit mensch-
0175lichen Dingen unbekannt, sich vertraut machen wollen mit
0176Allem, was unser Herz bewegt, ich wüßte keinen Rath, das-
0177selbe schneller in den Besitz einer grenzenlosen Uebersicht
0178menschlichen Seins zu versetzen, als indem ich ihm die Lieder
0179Schubert ’s zeigte. Hier findet sich Alles aufgezeichnet, was
0180wir an Wonnen und Klagen besitzen. Sei müde oder aufge-
0181regt, krank oder übermüthig vor Gesundheit, sei glückselig oder
0182unselig, sei welchen Alters und welchen Volkes du willst:
0183Franz Schubert wird dein Herz bewegen!
0184Nehmen wir Abschied vom Stadtpark und lenken unsere
0185Schritte gegen das Strampfer-Theater, wo Patierno mit un-
0186nahbaren Händen dem Rossini schrecklich Opfer bringt. Er
0187sang gestern seine Glanzrolle, den Otello , vor sehr schwach
0188besuchtem Hause, aber unter stürmischem Beifall. Solch
0189starke Stimme scheint ansteckend zu sein; Patierno ’s Kraft-
0190gesang verleitet nicht nur die Mitspielenden zu ähnlichen Ver-
0191suchen (wie zum Beispiel Jago -Bertolasi in dem Duett mit
0192Otello sich bis zum Zerspringen forcirte), auch seine Ver-
0193ehrer im Parterre und auf der Galerie suchen es ihm gleich-
0194zuthun im Fortissimo des Bravo-Schreiens. Die „Otello “-
0195Vorstellung gelang etwas besser als jüngst der „Ernani “;
0196trotzdem können wir unser erstes Urtheil höchstens in Einzel-
0197heiten etwas mildern. Der Gesammt-Eindruck der Franchetti ’-
0198schen Gesellschaft bleibt immer ein unkünstlerischer; sie enthält
0199kein einziges Mitglied, das durch vollendete Gesangstechnik,
0200seelenvollen Vortrag oder dramatisches Spiel uns auch nur
0201für einen Moment tieferes Interesse abzwingen könnte. Die
0202bewegende Kraft des Ganzen ist handwerksmäßige Routine,
0203der dramatische Ausdruck besteht in einem unvermittelten
0204Wechsel von Phlegma (worin die Liebesduette zwischen Pa-
0205tierno und Signora Fossi das Alleräußerste leisten) und
0206Wuthausbrüchen. Wir constatiren gerne, daß an dem un-
0207günstigen Eindruck das für große Opern ganz unge-
0208eignete Local mitschuldig ist. Die kleine Strampfer ’sche
0209Bühne, welche eigentlich nur aus einem Vordergrund
0210besteht, ohne Tiefe und Perspective, eignet sich nur für das
0211Conversationsstück, allenfalls für Operetten-Vorstellungen einer
0212graziös lispelnden französisch en Truppe mit Stimmchen à la
0213Matz-Ferrari . Wenn auf dieser Bühne die bescheidene
0214Zimmer-Decoration dem Marcusplatz weichen muß, wie im
0215ersten Act des „Otello “, so streift die Wirkung ans Lächer-
0216liche. An der Stelle, wo allenfalls ein Sofa ganz passend
0217stünde, ragt dicht hinter dem Rücken der Sänger die Marcus-
0218kirche empor, und wer den Rücken des Herrn Patierno kennt,
0219weiß, wie wenig da vom Marcusdom übrigbleibt. Ebenso-
0220wenig wie die scenischen, vermag dieses Theater mit seinen
0221sehr bescheidenen Chor- und Orchesterkräften die musikalischen
0222Anforderungen einer großen Oper zu erfüllen. Der Cavaliere
0223Julius Sulzer, welcher in Italien den Ruf eines geschickten
0224Capellmeisters genießt, wendet gewiß alle erdenkliche Mühe
0225auf das Einstudiren, aber die Disciplinirung einer ungeübten,
0226für solche Aufgaben nicht geschulten Mannschaft kann nicht
0227das Werk weniger Tage sein. Wir haben alles Mitgefühl
0228mit den schweißtriefenden Musikern, sowie mit den Choristen,
0229welche (überdies keine Sylbe Italienisch verstehend) in ängst-
0230licher Aufregung der Winke des Dirigenten harren. „Santo
0231spirito Cavaliere!“ Von den Solosängern ist jedenfalls
0232Patierno den Uebrigen überlegen. Außer seiner ungewöhn-
0233lich starken Stimme wüßten wir jedoch kaum etwas an ihm
0234zu rühmen, als seine sehr deutliche Aussprache und effectvolle
0235Behandlung der Phrase. Wem die Begriffe stark und schön
0236identisch sind, der mag auch den Timbre von Patierno ’s
0237Stimme bezaubernd finden. Wir erinnern uns nicht, daß
0238Homer den Stentor , dessen Stimme so stark war, wie die
0239von 50 Männern zusammen, deßhalb als die schönste Tenor-
0240stimme in der griechisch en Belagerungsarmee gepriesen hätte.
0241Wechselnde Färbung und Nuancirung des Tones, Schmelz und
0242Innigkeit in der Cantilen vermissen wir bei Patierno ebensosehr
0243wie jede Spur von dramatischem Talent. Otello ist seine
0244beste Rolle, nicht nur weil sie reichliche Gelegenheit zu Kraft-
0245ausbrüchen bietet, sondern weil sie mit der äußeren Erschei-
0246nung des Sängers noch am besten harmonirt. Als weißer
0247Liebhaber ist er ganz unwahrscheinlich; wenn er als brauner
0248Wütherich in Turban und Kaftan auftritt, da glaubt man
0249ihm. Für die Coloraturstellen dieser Partie reicht seine Tech-
0250nik beiweitem nicht aus, die raschen Scalen brachte er mit
0251Hilfe eines Schüttelfrostes holprig genug heraus und wurde
0252damit immer etwas später fertig als das Orchester. In dem
0253Duette mit Jago erzielte er durch schrankenlose Entfesselung
0254seiner Stimmkraft außerordentlichen Effect. Von dem
0255Publicum stürmisch hervorgerufen, erschien Patierno Hand in
0256Hand mit dem Impresario Herrn Franchetti, welcher in
0257Frack und Cylinder sich zwischen Otello und Jago sehr nied-
0258lich ausnahm. Das ist etwas ganz neues und macht uns [3]
0259begierig, ob nicht nächstens auch Patierno ’s Erzieher, sein
0260Musiklehrer, sein Beichtvater, sein Hausarzt u. s. w. aus
0261der Coulisse hervortreten und sich dankend verneigen werden.
0262Die Opernvorstellungen im Strampfer-Theater versetzen
0263uns in eine kleine italienisch e Provinzstadt. Dort mag man,
0264musikalisch ausgehungert und unverwöhnt, solche Aufführungen
0265hochwillkommen heißen. In Wien , wo kaum die Silbertöne
0266Adelina Patti ’s verklungen und die Zuhörer durch die regel-
0267mäßigen Stagiones im Hofoperntheater an eine gute italie-
0268nisch e Oper gewöhnt sind, haben so mangelhafte Darstellun-
0269gen des abgespieltesten Repertoires keinen Sinn. Eine vorzüg-
0270liche italienisch e Sängergesellschaft schätzen wir als einen Ge-
0271nuß und durch ihren Einfluß auf die deutsch en Sänger als
0272einen Gewinn; eine wälsche Oper um jeden Preis ist kein
0273Bedürfniß für Wien . Gibt es hier wirklich genug Leute,
0274welche zufrieden sind, wenn überhaupt italienisch gesungen
0275wird („gesungen“ im weitesten Sinne), so soll uns das freuen
0276aus rein menschlicher Theilnahme für den sorgenvollen Im-
0277presario. Aber aus künstlerischem Gesichtspunkte, den allein
0278die Kritik doch zu wahren hat, scheint es uns schwierig, die
0279Berechtigung solcher Unternehmungen für Wien aufzufinden.