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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4536. Wien, Freitag, den 13. April 1877

[1]

Musik.

(Concerte. — Caroline Ungher.)


0003Ed. H. Das gleichzeitige Zusammentreffen zweier Con-
0004certe am selben Abend ist meistens ein Gegenstand heimlicher
0005Freude für das Herz des Kritikers. Eines davon darf er sich ja
0006schenken. Ausnahmsweise und desto lebhafter bedauerten wir
0007eine solche Concurrenz am letzten Samstag, nämlich des
0008Concerts von Sarasate und Door mit der Produc-
0009tion der Sing-Akademie. Diese Gleichzeitigkeit hätte
0010unbedingt vermieden werden sollen, denn die Zahl passionirter
0011Concertbesucher ist zur Stunde nicht gar so groß, daß man
0012jedem Concert gleichsam einen Aderlaß appliciren, einen Ab-
0013fluß verschaffen müßte durch ein zweites. Im Gegentheil, es
0014verlieren dann sicherlich beide Unternehmungen etwas von
0015ihrem Publicum. Das Programm der Sing-Akademie bot
0016eine Reihe von Novitäten, die Firma Door und Sarasate 
0017garantirte virtuose Ausführung; hier lockte das Wie, dort
0018das Was. Diesmal half einigermaßen das Wo. Die beiden
0019Concerte rivalisirten nämlich im selben Gebäude, ja Thür an
0020Thür, so daß in ihrer Musikleidenschaft oder in ihrem Pflicht-
0021gefühl bedrängte Gemüther nur aus dem kleinen Musikver-
0022einssaale in den großen hinüberzugehen brauchten, um von
0023jeder der beiden Tafeln die besten Bissen zu erhaschen.


0024Wenn man von Sarasate’s Programm etwas
0025opfern muß, so verzichtet man noch am leichtesten auf seinen
0026Vortrag Beethoven’scher Tondichtungen; da thut es
0027mancher deutsche Musiker ihm zuvor, während im eigent-
0028lichen Bravourspiel den Spanier sehr Wenige erreichen. Wir
0029siedelten uns also, während Sarasate mit dem Beethoven’-
0030schen Violin-Concert begann, in der „Sing-Akademie“ an.
0031Diese eröffnete ihre Production mit Mendelssohn’s 
0032Kirchenmusik in F-moll: „Aus tiefer Noth schrei’ ich zu dir“,
0033welche mit Clavierbegleitung und dem befremdenden Beisatz
0034neu“ gegeben wurde. Das Stück, welches wir bereits im
0035Jahre 1860 in der Sing-Akademie gehört haben, übersteigt 
0036einigermaßen die Leistungsfähigkeit des Vereins, sowol was
0037den Chor (namentlich in der Fuge) als das Tenor-Solo
0038betrifft. Desto besser kam Taubert’sKönig von Thule“
0039heraus, ein Chorlied, das zwar Niemandem sonderlich warm
0040macht, aber immerhin durch den Klangreiz einfacher, wohl-
0041gesetzter Harmonien wirkt. Eine interessante, auch wirklich
0042neue Novität brachte Herr Weinwurm in Gade’s 
0043Bildern des Jahres“. Es sind dies vier, im Charakter der
0044Vier Jahreszeiten“ gehaltene Gedichte, halb lyrisch, halb be-
0045schreibend, von Andersen, für Frauenchor mit Alt-,
0046Sopran- und Tenor-Solo gesetzt. Eine sinnige, fein empfun-
0047dene Composition, welche durchwegs die erfahrene, zarte
0048Hand des Meisters verräth und überall befriedigt, wo nicht
0049die poetische Schilderung den vom Componisten gewählten
0050bescheidenen Mitteln allzu viel zumuthet. Sehr anziehend
0051durch hübsche charakteristische Züge ist die vierhändige
0052Clavierbegleitung, welche die Herren Landskron und
0053Pottje vortrefflich ausführten. Für den Vortrag der
0054Gesang-Soli wurden die Fräulein Kner, Beck 
0055und Herr Dr. Trutter lebhaft applaudirt. Es folgten
0056zwei neue, gar nicht anspruchsvolle, aber desto ansprechendere
0057Chöre von Engelsberg: „Waldmädchen“ und „Weißt
0058du noch?“ Beide wirken durch die natürlichste Verschmelzung
0059von poetischer Textauffassung und selbstständigem musikali-
0060schen Reiz. Wir freuen uns des unerschöpflichen Melodien-
0061quells unseres bereits in ganz Deutschland populären Lands-
0062mannes, dessen kleinster Composition man es anfühlt, daß
0063sie durch eine feine allgemeine Bildung hindurchgegangen ist.
0064Zwischen diesen Chorproductionen hörten wir Brahms’ 
0065dreisätzige Sonate für Clavier und Violoncell. Wenn wir
0066davon absehen, daß Brahms’sche Musik mehr als jede andere
0067eine männliche Energie des Geistes wie des Anschlages erfor-
0068dert, so dürfen wir Fräulein Gabriele Joël für den tadel-
0069los ausgeführten Clavierpart unumwunden loben. In der
0070Bewältigung der überaus schwierigen Violoncellstimme lieferte
0071Herr Hummer eine der vollgiltigsten Proben seines Talents.
0072Unter den Brahms’schen Compositionen gehört gerade die
0073Cello-Sonate nicht zu den Lieblingen des Publicums oder 
0074doch nur durch ihr menuetartiges Allegretto, dessen klaren,
0075melodiösen Fluß man in den schwerer gebauten und schwerer
0076verständlichen äußeren Sätzen vermißt. Es ist erfreulich, daß
0077allmälig auch die minder bekannten Compositionen von Brahms 
0078in unseren Concerten häufiger vorkommen. Wir möchten nicht
0079gerne hinter den Engländern zurückstehen, welche gegenwärtig
0080einen sehr ernsthaften Brahms-Cultus anheben und dessen
0081große C-moll-Symphonie bereits zweimal mit vollständigem
0082Erfolg aufgeführt haben.


0083Von der Brahms’schen Sonate gelangten wir noch gerade
0084rechtzeitig in den großen Musikvereinssaal, um Herrn Sara-
0085sate
die Raff’sche Suite für Violine und Orchester vor-
0086tragen zu hören. Der Virtuose kann sich diesmal über den
0087Componisten nicht beklagen: die Suite liefert ihm Schwierig-
0088keiten von lohnendster Halsbrecherei. Erstaunlich sind ins-
0089besondere die Gleichheit und Reinheit, mit welcher Sarasate 
0090in dem Final-Presto („Perpetuum mobile“) die denkbar
0091größte Anzahl von Noten in Einer Secunde staccato hervor-
0092bringt. Wunderdinge aller Art producirte er hierauf in einer
0093selbstverfaßten Phantasie über Gounod’s „Faust“. Die Com-
0094position, sehr unbedeutend, aber geschickt in der Ausbeutung
0095von Violin-Effecten, führt fast die halbe Oper in ihren Haupt-
0096themen an uns vorüber. Zuerst schnurrt Gretchen’s Spinn-
0097rad; dann ertönt, umwunden von Trillerketten, der Oster-
0098gesang; an Gretchen’s Gebet im Dome schließt sich Me-
0099phisto’s Lied: „Ja, das Gold“, das Sarasate mit den aben-
0100teuerlichsten Hexereien ausstattet, wie sie seit Paganini’s
0101Streghe“ und Ernst’s „Carneval“ nicht dagewesen, in
0102Sprüngen, chromatischen Octaven-Scalen, Pizzicati und mit-
0103unter recht übelklingenden Ueberraschungen über und unter
0104dem Steg. Am schönsten gespielt, nicht gehext, sondern gesungen
0105war das Liebesduett aus dem dritten Act: Sarasate bringt
0106die Melodie Faust’s mit vibrirendem breiten Ton auf der
0107G-Saite, hierauf die Antwort Gretchen’s wie in Silberklän-
0108gen dreistimmig in den höheren Chorden, dann beide Stimmen
0109in polyphonem Spiel vereint. Es weht ein Anflug von Poesie
0110in diesem Satz. Zum Schluß kommt der Walzer aus dem
0111zweiten Finale herangestürmt, in eine Wolke von Passagen [2]
0112gehüllt. Der Applaus wollte kein Ende nehmen. Jedenfalls
0113ist Sarasate die hervorragendste Virtuosenkraft, die wir
0114nicht blos in dieser Saison, sondern wol überhaupt in den
0115letzten Jahren als neue Bekanntschaft in Wien begrüßt haben.
0116Herr Door spielte Liszt’s unsäglich schwierige „Ungarische
0117Phantasie für Clavier und Orchester“ mit erstaunlicher Kraft
0118und Ausdauer; sein Forte, für kleinere Localitäten zu gewalt-
0119sam, wirkte siegreich im großen Musikvereinssaal. Daß letz-
0120terer nur wenig leere Plätze aufwies, darf die beiden Concert-
0121geber schon eitel machen. — Hellmesberger’s anhaltend
0122gutbesuchter Quartetten-Cyklus ist inzwischen bis zum fünften
0123Abend vorgerückt. Die versprochene Novität von Hermann
0124Grädener fiel zwar abermals aus, dafür wurde Schu-
0125bert’s
 A-dur-Quintett Op. 114 von Fräulein G. Joël 
0126und dem Hellmesberger’schen Quartett sehr hübsch gespielt.
0127Neu“, wie das Programm behauptet, war das Quintett 
0128keineswegs; Herr Epstein hat es schon 1860 öffentlich vorge-
0129tragen, und außerdem noch ein anderesmal das variirte Andante
0130daraus über das Lied: „Die Forelle“. Mit dem lockenden Beisatz
0131„neu“ und „erste Aufführung“ wird in Wien etwas leicht-
0132sinnig gewirthschaftet; Chöre, die wir bereits aus dem Sing-
0133verein oder dem Männergesang-Verein kennen, figuriren
0134als „Novitäten“ in der Sing-Akademie oder dem Akademi-
0135schen Gesangverein, Orchesterstücke aus dem Repertoire der
0136Philharmoniker werden wieder „neu“ auf den Programmen
0137der Gesellschafts-Concerte u. s. w. „Neu für mich,“ denkt
0138offenbar der betreffende Concert-Dirigent in solchen Fällen.
0139Auf diese Weise entsteht aber doch eine gar zu große Anzahl
0140von „Novitäten“, ja es brauchte nur eine dritte Orchester-
0141Gesellschaft sich in Wien zu organisiren, damit vielleicht auch
0142die Pastoral-Symphonie oder die „Melusina“-Ouvertüre 
0143„neu“ würden. Etwas mehr Genauigkeit hierin wäre drin-
0144gend zu wünschen, nicht blos um künftigen Musik-Historikern
0145grenzenlose Confusion zu ersparen, sondern auch aus Rück-
0146sicht für unsern Ruf im Auslande, wo es doch seltsam be-
0147fremden muß, wenn heutzutage in Wien altbekannte größere
0148Compositionen von Mendelssohn, Schubert und An-
0149deren als neu aufgeführt werden.


0150Die letzten Tage brachten uns die Nachricht von dem
0151Tode einer der berühmtesten Opernsängerinnen, der in
0152Wien geborenen Caroline Ungher-Sabatier. Seit
015335 Jahren von der Bühne zurückgetreten, war die Ungher 
0154als Künstlerin lange verschollen; als hochgebildete und wohl-
0155wollende Frau hingegen ist sie bis an ihr Ende Allen, die
0156sie kannten, eine werthvolle Erscheinung geblieben, deren
0157Hingang insbesondere in Wien schmerzlich empfunden wird.
0158Sie pflegte alljährlich zum Curgebrauche nach Karlsbad 
0159zu reisen. Dorthin begab sich eines Tages Desirée 
0160Artôt, eigens um einige ihrer Partien der Unger vorzu-
0161singen. Mit Begeisterung erzählte mir die Artôt, wie aus-
0162drucksvoll die alte Frau mit dem behäbigen Embonpoint und
0163der schwarzen Hornbrille auf der Nase ihr die Recitative der
0164Norma vorgesungen. Da habe man die Runzeln, die Beleibt-
0165heit und die Hornbrille vergessen und die leibhaftige Norma 
0166vor sich gesehen. Mir wurde die persönliche Bekanntschaft der
0167berühmten Künstlerin erst vor wenigen Jahren zu Theil, als
0168sie, von Karlsbad rückkehrend, in Wien verweilte, haupt-
0169sächlich um ihrer geliebten Ziehtochter Anna Regan als
0170Concertsängerin hier den Boden zu ebnen. Man konnte die
0171Ungher nicht von liebenswertherer Seite kennen lernen, als
0172in ihrer zärtlichen Fürsorge für die junge Sängerin, in
0173welcher sie echte Empfindung und edle Einfachheit des Vor-
0174trages hochschätzte und unermüdlich förderte. Charakteristisch
0175für ihre künstlerische Anschauung sind einige Worte, die sie
0176mir (nach dem Concert der Regan) aus Florenz schrieb:
0177„Sie haben durch Ihr Urtheil mein liebes Kind in
0178die Reihe ernster Künstler gestellt, und dies ist nach
0179meinem Ermessen der ehrenvollste Platz.“ Man hätte es
0180damals der rüstigen, lebhaften Frau nicht angemerkt,
0181daß sie im Jahre 1808 geboren war. Von ihren ehe-
0182maligen Erfolgen sprach sie sehr selten, doch erinnerte sie
0183sich gerne, daß ihre erste Partie in Wien (1819) der Page 
0184in Mozart’sFigaro“ war und daß es ihr vergönnt ge-
0185wesen, in dem denkwürdigen Concert vom 7. Mai 1824 im
0186Kärntnerthor-Theater mitzuwirken, das Beethoven gleich-
0187sam als Abschied von der Oeffentlichkeit gab. Caroline 
0188Ungher und Henriette Sontag sangen dabei
0189die Soli in der zum erstenmale aufgeführten Neunten Sym-
0190phonie, und die Ungher war es, die am Schlusse den tauben
0191Meister bei der Hand nahm und gegen das Publicum drehte,
0192damit er — der den Applaus nicht mehr hörte — wenig-
0193stens das Händeklatschen und Tücherschwenken sehen könne.
0194Sie folgte im nächsten Jahre dem Impresario Barbaja 
0195nach Italien, das (mit Ausnahme weniger Gastspiele in
0196Paris, Wien und Dresden) fortan der Boden ihrer künst-
0197lerischen Laufbahn blieb. Von ihrer stattlichen Erscheinung
0198und großem schauspielerischen Talent unterstützt, begeisterte
0199sie durch fünfzehn Jahre das Publicum in den dramatischen
0200Partien Bellini’s, Mercadante’s, Donizetti’s. Aus eigenem
0201Erlebniß kann ich leider nichts von der Kunst der Ungher 
0202erzählen, doch existirt dafür das merkwürdigste Zeugniß in
0203den Büchern eines großen Dichters, dessen leidenschaftliche
0204Hingebung den Namen Caroline Ungher mit poetischer Ver-
0205klärung umgibt. Ich meine Lenau. Manche Leser, nament-
0206lich die mit österreichischen Verhältnissen unbekannten, dürften
0207nicht wissen, daß die in Lenau’s Briefen (zwei Bände,
0208herausgegeben von Schurz) vorkommende „Caroline“ nie-
0209mand Anderer als unsere Caroline Ungher ist. Der Ein-
0210druck, den ihr Gesang auf Lenau machte, war ein nieder-
0211zwingender, und die herrlichen Worte, womit er ihn schildert,
0212wollen wir der verewigten Künstlerin als schönsten Nachruf
0213hiehersetzen:


0214Am 25. Juni 1839 schreibt Lenau an eine Freundin
0215von seinem Zusammentreffen mit der Ungher beim Grafen
0216Ch. in Penzing: „Caroline sang vor Tische den „Wanderer“
0217und das „Gretchen“ von Schubert hinreißend schön. Es rollt
0218wirklich tragisches Blut in den Adern dieses Weibes. Sie
0219ließ in ihrem Gesange ein singendes Gewitter von Leiden-
0220schaft auf mein Herz los. Sogleich erkannte ich, daß ich in
0221einen Sturm gerathen; ich kämpfte und rang gegen die Macht
0222ihrer Töne, weil ich vor Fremden nicht so gerührt erscheinen
0223mag; umsonst, ich war ganz erschüttert und konnte es nicht
0224verhalten. Da faßte mich, als sie ausgesungen, ein Zorn
0225gegen das sieghafte Weib, und ich trat ins Fenster zurück, [3]
0226sie aber folgte mir nach und zeigte mir bescheiden ihre zit-
0227ternde Hand, und wie sie selbst im Sturm gebebt. Das ver-
0228söhnte mich, denn ich sah, was ich gleich hätte sehen sollen,
0229daß es ein Stärkerer war als ich und sie, der durch ihr
0230Herz gegangen und meines, und vor dem wir Beide gleich-
0231gebeugt dastanden, als es wieder stiller war. Wir setzten uns
0232zu Tische. Caroline war sehr freundlich und gesprächig. „Ich
0233bitte mir meinen Lenau zum Nachbar aus,“ sagte sie, und
0234so ward ich denn ihr Nachbar. Doch das Singen hatte mir
0235den Appetit verdorben und mich in mich selbst gekehrt.“


0236Wenige Tage später schreibt Lenau: „Die letzte Woche
0237war für mich eine Zeit stürmischer Bewegung. Caroline ist
0238ein wunderbares Weib. Nur am Sarge meiner Mutter habe
0239ich so geschluchzt wie an jenem Abend, als ich die herrliche
0240Künstlerin in „Belisario“ gehört hatte. Da war es nicht
0241das bestimmte Stück, die bestimmte Rolle, deren Tragik mich
0242angegriffen hätte. Die Sängerin ging weit über jede Einzel-
0243heit hinaus, und ich hörte in ihren leidenschaftlichen Klagen,
0244in ihrem Aufschrei der Verzweiflung das ganze tragische Ge-
0245schick der Menschheit rufen, die ganze Welt des Glücks aus-
0246einanderbrechen und das Herz der Menschheit zerreißen. Mich
0247ergriff ein namenloser, ungeheurer Schmerz, von dem ich
0248noch ein heimliches Zittern durch mein innerstes Leben spüre.
0249Da war es zu hören, daß es dem Schicksal Ernst ist mit
0250seinem Leide, daß dies nicht ein wohlgemeinter Rathschluß
0251unserer Herzenserziehung ist. Ich war viel mit Caroline zu-
0252sammen; sie fühlte sich mir verwandt wie eine Wetterwolke
0253der andern. Nach der Vorstellung des „Belisario“ ging ich,
0254die öfter, zu ihr und sagte ihr, daß sie die größte tragische
0255Wirkung auf mich gemacht habe. Ich freue mich ihrer
0256Freundschaft, denn sie ist, was ich ihr auch sagte, eine
0257der höchsten Naturen, die wir auf Erden zu
0258verehren haben
. Im Umgange ist sie gewöhnlich leb-
0259haft und heiter, oft kindisch und tändelnd, wobei sichtbar
0260ihre Seele ausruht von den großen Erschütterungen und die
0261Natur wohlthätig wieder das Leben ins Gleichgewicht zu
0262bringen sucht. Dann aber bricht zuweilen plötzlich die ernste
0263Stimme ihrer Seele hervor, und was sie, wie zum Beispiel
0264über das Tragische und ihre Auffassung desselben, gesagt, 
0265zeigte mir auch ihre Gedanken auf einer seltenen Höhe. Sie
0266ist in den einsamsten und wildesten Gegenden der Leidenschaft
0267heimisch und kennt das Angesicht des Schmerzes in allen
0268seinen Zügen. Ich wünsche, daß sie, wie sie sich vorgenom-
0269men, in einigen Jahren sich dem deutschen Schauspiele zu-
0270wendete; da wäre es eine Freude, ein Trauerspiel für sie zu
0271schreiben.“


0272Aus diesem Ausbruch der Kunstbegeisterung sieht man
0273schon deutlich die Flammen der Leidenschaft aufzucken.
0274Lenau, damals siebenunddreißig Jahre alt, liebt Caro-
0275line und will sie heiraten. Er vertraut diesen Ent-
0276schluß zuerst seiner Freundin Sophie L., jener verheirateten
0277Dame, mit der ihn ein langes inniges Verhältniß verband:
0278„Sie haben mir mit Ihren paar Zeilen das Herz zer-
0279schmettert. Caroline liebt mich und will mein werden. Sie
0280sieht’s als ihre Sendung an, mein Leben zu versöhnen und
0281zu beglücken. Es ist an Ihnen, Menschlichkeit zu üben an
0282meinem zerrissenen Herzen. Caroline liebt mich grenzenlos.
0283Verstoße ich sie, so mache ich sie elend und mich zugleich.
0284Entziehen Sie mir Ihr Herz, so geben Sie mir den Tod;
0285sind Sie unglücklich, so will ich sterben. Der Knoten ist ge-
0286schürzt. Ich wollte, ich wäre schon todt.“


0287Die Antwort Sophiens scheint Lenau’s Entschluß, mit
0288Caroline Ungher zu brechen, bestimmt zu haben. „Es liegt
0289ein Gebirg von Kummer und Traurigkeit auf meiner Brust,“
0290antwortet er Sophien. „Der Ausweg, den Sie mir nannten,
0291geht durch meine Todespforte. Ich habe Carolinen nicht
0292verschwiegen, daß Sie meine höchste, entscheidende Rücksicht
0293sind.“ Er setzt Carolinen die Gründe auseinander, welche
0294ihrer Vereinigung entgegenstehen (darunter seine gänzlich un-
0295sichere materielle Stellung), und berichtet am 22. August
02961839 der Freundin: „Meinen Willen durchaus ehrend,
0297nahm Caroline meine Erklärung mit schöner weiblicher Füg-
0298samkeit entgegen.“ Lenau’s Schwager und Biograph
0299A. Schurz gibt Carolinen — deren Ehe mit Lenau ihm
0300gleichwol für beide Theile kein dauerhaftes Glück zu ver-
0301sprechen schien — das schöne Zeugniß, daß „ohne ihr edel
0302verzichtendes Benehmen das Unheil von 1844, nämlich
0303Lenau’s Geisteskrankheit, wol damals schon ausgebrochen wäre“.