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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4542. Wien, Donnerstag, den 19. April 1877

[1]

Ein Jubiläum.

(Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Frau Marchesi.)


0003Ed. H. Es war gegen Ende des Jahres 1854, daß in
0004einer der so genußreichen Musiksoiréen des Hofrathes Vesque
0005v. Püttlingen
(J. Hoven) zwei neue Erscheinungen auf-
0006tauchten. Sie wurden uns als „Herr und Frau Mar-
0007chesi
“ genannt, ein Sängerpaar, das, von Liszt, Meyerbeer 
0008und anderen Größen an Vesque empfohlen, in Wien zu
0009concertiren gedenke. Noch ehe sie sangen, hatten die Beiden
0010alle Sympathien erobert — man konnte in der That kein
0011stattlicheres, anmuthigeres junges Ehepaar sehen. Ans Cla-
0012vier gebeten, sang Frau Marchesi mit geistvollem Vortrag
0013deutsche, französische, italienische Lieder, dem Musik- und
0014Sprachgeist jedweder Nation gleichmäßig gerecht. Ihr Gatte,
0015Salvatore Marchesi, bewährte sich in einigen Arien von
0016Mozart und Cimarosa gleichfalls als vorzüglicher Sänger,
0017als „buffo cantante“ von echt italienischem Talent und
0018Temperament. Mit den Vorträgen der beiden Gäste war
0019keineswegs auch das Interesse für sie zu Ende. Frau Mar-
0020chesi
erzählte am Theetisch von fremden Ländern und
0021Musikmenschen mit so scharfer Beobachtungsgabe und feinem
0022Verständniß, daß die ganze Gesellschaft ihr vergnügt zuhörte
0023und die Nachbarn sich schließlich zuflüsterten: „Das wäre
0024eine Acquisition für Wien!“ Und sie wurde es. Vesque
0025v. Püttlingen, selbst ein vorzüglicher Sänger und Vorstand der
0026Gesellschaft der Musikfreunde — also diesfalls die Einsicht
0027und die Macht in Einer Person — vermittelte das Engage-
0028ment der Frau Marchesi als Gesanglehrerin am Wiener
0029Conservatorium. Mit zwei Unterbrechungen (Paris und
0030Köln) hat Frau Marchesi seither ihre ganze Thätigkeit in
0031Wien entfaltet, und überblickt man die Namen ihrer zahl-
0032reichen Schülerinnen, welche auf allen ersten Opernbühnen,
0033zum Theil als Celebritäten, glänzen, so muß man, ohne
0034Vorliebe oder Abneigung, die Thatsache anerkennen, daß
0035Frau Marchesi gegenwärtig für die erfolgreichste Gesang-
0036lehrerin in Europa gilt. Die beiden schönen Gedenktage,
0037welche sich ihr in dem heutigen Datum vereinigen — ihre
0038silberne Hochzeit und ihr 25jähriges Lehrer-Jubiläum —
0039lassen Frau Marchesi auf ein reichbewegtes, arbeitsvolles 
0040Leben zurückblicken. An Ausdauer und zielbewußter Energie
0041kann sie jedem Kunstjünger zum Vorbild dienen. Wir glau-
0042ben deßhalb nicht fehlzugreifen, wenn wir am heutigen Tage
0043einige Denkwürdigkeiten aus dem Leben der Jubilarin hier
0044mittheilen. Es geschieht dies auf Grund einer ausführlichen
0045Selbstbiographie, welche Frau Marchesi der Redaction
0046der „Neuen Freien Presse“ zur Verfügung gestellt hat und
0047die wir auszugsweise, mit möglichst getreuer Anlehnung an
0048ihre eigenen Worte, hier benützen.


0049Mathilde Marchesi ist am 26. März 1826 in
0050Frankfurt a. M. geboren. Im Hause ihres Vaters, des an-
0051gesehenen Großhändlers Graumann, genoß sie eine glück-
0052liche Kindheit und sorgfältige Erziehung. Lust und Talent
0053zum Gesange regten sich früh in dem aufgeweckten und uner-
0054müdlich fleißigen Mädchen. Plötzlich durchschnitt eine schrille
0055Dissonanz die glückliche Jugendzeit: Vater Graumann verlor
0056sein ganzes Vermögen; Mathilde mußte daran denken, sich
0057eine Existenz zu gründen. Sie wollte sich der Kunst widmen;
0058ihre Familie war dagegen und bestimmte sie gegen ihre
0059Neigung zur Erzieherin. Mathilde fügte sich ohne Murren
0060und wurde im April 1843 von einem Freunde der Familie
0061zu ihren Tanten nach Wien gebracht. Diese Tanten (Schwestern
0062von Mathildens Vater) empfingen sie sehr freundlich; die
0063eine davon erscheint sogar als eine gute Vorbedeutung für
0064die musikalische Zukunft der Kleinen. Es war dies die als
0065ausgezeichnete Clavierspielerin und Freundin Beethoven’s be-
0066kannte Dorothea v. Ertmann, Witwe des k. k. Feld-
0067marschall-Lieutenants Ertmann. Sie hatte für ihre Nichte 
0068bereits eine Stelle als Erzieherin bei der gräflichen
0069Familie N. gefunden, wo Mathilde die Obhut über ein
0070kränkliches sechsjähriges Kind übernehmen sollte. Mathilde 
0071erklärte sich mit Allem zufrieden, wenn man ihr nur
0072Zeit lassen wolle zu ihren Gesangsstudien. So wurde denn
0073vereinbart, daß die junge Gouvernante einen Jahres-
0074gehalt von hundert Gulden und zweimal wöchentlich
0075Gesangsunterricht bei dem besten Meister erhalten sollte.
0076Da erbot sich Mathildens verheiratete Schwester, ein kleines
0077Kapital zu opfern, um Mathilden aus den Banden eines
0078ihr nicht zusagenden Berufes zu befreien und das Musik-
0079studium in Wien ihr zu ermöglichen. Mathilde jauchzte über
0080diese Wendung und verblieb vorläufig bei den Tanten. Do-
0081rothea v. Ertmann erzählte ihr da einen charakteristischen 
0082Zug von Beethoven. Es war ihr nämlich unbegreiflich
0083gewesen, daß dieser, ihr alter treuer Freund, sie nach dem
0084Tode ihres geliebten einzigen Kindes nicht besucht hatte. Da
0085tritt nach mehreren Wochen Beethoven bei Frau v. Ertmann 
0086ein, setzt sich, ohne ein Wort zu sprechen, ans Clavier und
0087phantasirt lange Zeit in Klängen, die der betrübten Mutter
0088wie Engelschöre vom Himmel erschienen. Dann drückte er
0089ihr stumm die Hand und ging wieder. Dorothea v. Ert-
0090mann (der bekanntlich die Sonate Op. 101 von Beethoven 
0091gewidmet ist) nahm auch auf das Clavierspiel Mathildens
0092günstigen Einfluß. Es kam der Winter, und der ersehnte
0093Gesangsunterricht sollte beginnen; Otto Nicolai, der
0094Begründer der Philharmonischen Concerte in Wien und Ca-
0095pellmeister am Hofoperntheater, wurde Mathildens Lehrer.
0096Sein Unterricht förderte unsere junge Sängerin nicht son-
0097derlich; Nicolai gestand ihr selbst, er verstehe sich besser auf
0098das Einstudiren von Opernpartien, als auf die Stimmbildung.
0099Mehr profitirte sie mittelbar durch den Besuch der trefflichen
0100Concerte und der Oper, welche damals mit Staudigl,
0101Jenny Lutzer, Hasselt etc. in schönster Blüthe stand.
0102Joseph Dessauer studirte Mathilden viele seiner
0103Lieder ein und accompagnirte sie in Gesellschaften.
0104Als im Frühling mit der Italienischen Oper auch Madame
0105Viardot-Garcia in Wien einzog, wagte es Mathilde,
0106ihr etwas vorzusingen und um ihr Urtheil zu bitten. „Sie
0107sind auf falschem Wege,“ hieß es, „Sie sollten zu meinem
0108Bruder Garcia nach Paris gehen.“ Mathilde wünschte sich
0109nichts Besseres, umsomehr, als Otto Nicolai sich um ihre
0110Hand bewarb, dieser Verbindung aber die größten Schwierig-
0111keiten im Wege standen. Ihre künstlerische Laufbahn wollte
0112Mathilde nicht aufgeben; sie eilte deßhalb vorläufig nach
0113Frankfurt zurück, ihren Eltern das Pariser Project mitzu-
0114theilen. Niemand war damit einverstanden. Da faßte das
0115energische Mädchen den Entschluß, Gesangsunterricht zu geben,
0116um sich allmälig die Mittel zu ihrer eigenen Ausbildung
0117selbst zu erwerben. Das Glück begünstigte sie; zahlreiche
0118Schülerinnen wurden ihr anvertraut, insbesondere nachdem
0119sie selbst zum erstenmal öffentlich gesungen hatte. Das geschah im
0120August 1844 in einem Concert, das die jugendlichen Violin-
0121Virtuosen Joseph und Georg Hellmesberger in Frank-
0122furt gaben. In demselben Jahre hatte sie das Glück, Men-
0123delssohn-Bartholdy
kennen zu lernen und auf das [2]
0124freundschaftlichste in seinen Familienkreis aufgenommen zu
0125sein. Mendelssohn verweilte gern und häufig in Frankfurt,
0126der Vaterstadt seiner Frau, und da gab es dann Landpar-
0127tien, wobei im Freien Mendelssohn’s Quartette gesungen
0128wurden und der Meister selbst auf der Orgel irgend einer
0129Dorfkirche phantasirte. Auf Mendelssohn’s Empfehlung sang
0130Mathilde auf dem Düsseldorfer Musikfeste die Altpartien in
0131Händel’s „Josua“ und in der „Walpurgisnacht“. Der ent-
0132schiedene Erfolg dieses Auftretens, dazu ein bereits erspartes
0133hübsches Sümmchen rückten sie ihrem ersehnten Ziele, Paris,
0134bedeutend näher. Mendelssohn freilich war dagegen; er
0135behauptete, in Paris sei mehr Affectation als wahre Kunst
0136und echtes Gefühl vorherrschend. Aber die Ungeduld Ma-
0137thildens war nicht länger zu bändigen, und so reiste sie denn
0138im Herbst 1845 mit dem Claviercomponisten Jaques Ro-
0139senhain und dessen Frau nach Paris.


0140Ihr erster Weg war zu Manuel Garcia. Der be-
0141rühmte Singlehrer lobte ihre Stimme, erklärte aber, daß sie
0142einer vollständigen Ausbildung, nicht blos einer „letzten“,
0143bedürfe und daß mehrere Jahre dazu erforderlich sein wür-
0144den. Mathilde fühlte sich wie vom Blitz getroffen — ihre
0145Ersparnisse waren nur für sechs Monate berechnet. Doch
0146auch diesmal fand sich Hilfe in der Noth, Hilfe durch Frank-
0147furter Freunde, welche Mathilden eine monatliche Rente zu-
0148sagten bis zur Vollendung ihrer Studien. Auch ein Unfall
0149ihres Meisters kam ihr eigenthümlich zu statten. Garcia 
0150hatte im Frühjahr 1847, vom Pferde stürzend, den Arm
0151gebrochen und übergab für längere Zeit seine Privatschüle-
0152rinnen dem Unterricht Mathildens. So lernte diese, lehrend
0153und von den Rathschlägen des Meisters geleitet, ihr Bestes.
0154Nach zwei Jahren ununterbrochenen Studiums in Paris 
0155wendete sich Mathilde auf den Rath ihrer Freunde nach
0156Mailand, um dort ein Engagement zu suchen. Sie traf dort
0157zur ungünstigsten Zeit ein, die meisten Theater waren ge-
0158schlossen, die Revolution im Anzuge. Ihr früherer Gesang-
0159lehrer Ronconi, damals in Mailand, wollte ihr eben einige
0160Abschiedsworte ins Stammbuch schreiben, als die Sturm-
0161glocke ertönte. (Das Stammbuchblatt lautet: „Milano, 18
0162Marzo 1848 a ore 12 di mattino, momento dell’ insur-
0163rezione. Addio! Felice Ronconi.“) Unter solchen Umständen
0164war an eine Abreise nicht zu denken. Mehrere qualvolle
0165Tage und Nächte verbrachte Mathilde mit einigen Damen 
0166versteckt in einem Gartensalon des Raimondi’schen Palais.
0167Endlich wendete sich das Glück auf Seite der Italiener, und
0168die gefangenen Damen verließen betend und hungernd ihr
0169Versteck. Hören wir, wie Frau Marchesi selbst diese
0170interessante Episode schildert:


0171„Es war an einem sonnigen Märzmorgen, als wir den
0172großen Hof betraten. Die Pflastersteine waren aufgewühlt,
0173vor dem Palais standen zwei riesige Barricaden, welchen
0174man die feinsten Möbel, Claviere etc. geopfert hatte. Aus
0175weiter Ferne hörte man noch Kanonendonner. Mitten im
0176Hofe stand Signor Ronconi, seinen Degen schwingend und
0177mit den Worten: „So breche ich meinen Eid mit Oester-
0178reich!“ mitten entzweibrechend. Selbigen Tags lud der
0179Marchese Raimondi uns ein, bei ihm zu speisen. Ich war
0180bei dieser Gelegenheit kein willkommener Gast. Man hielt
0181mich für eine Oesterreicherin, denn der Portier hatte aus-
0182gesagt, daß ich viele Briefe aus Wien erhalte. Kaum hatten
0183wir uns zu Tisch gesetzt, als ein italienischer Officier sich
0184meldete, um Rapport zu erstatten. Er übergab dem Marchese 
0185mehrere Gegenstände, welche gefallenen österreichischen Offi-
0186cieren abgenommen waren. Unter denselben befand sich auch
0187ein Brief. „Der Brief ist deutsch,“ sagte der Marchese. „Den
0188wird uns das Fräulein am besten übersetzen können.“ Kaum
0189hatte ich zu lesen angefangen, als Thränen meinen Blick
0190verdunkelten und die Stimme mir versagte. Der Brief war
0191gar so rührend. Ein junger Officier schrieb in den zärt-
0192lichsten Ausdrücken an seine Mutter, daß er zu avanciren
0193hoffe und dadurch in den Stand käme, ihre Lage zu ver-
0194bessern. Dieses treue Herz hatte aufgehört zu schlagen! Ich
0195rang noch nach Fassung, als der Marchese wüthend mit der
0196Hand auf den Tisch schlug und mich mit den Worten: „Via,
0197vile Austriaca!“ (Weg, feige Oesterreicherin!) aus dem
0198Zimmer jagte. Niemand hatte gewagt, ein Wort zu meiner
0199Vertheidigung zu sprechen. Ich war im Innersten empört,
0200doch kalt und gefaßt, flog die Treppe hinauf, schloß mich in
0201mein Zimmer ein, packte von neuem meinen Koffer und
0202legte mich halbtodt vor Aufregung und — ich schäme mich
0203nicht, es zu sagen, auch vor Hunger ins Bett. Den andern
0204Morgen um 4 Uhr stand ich auf und verließ das Palais,
0205dessen Thore bereits weit geöffnet waren.“


0206Es gelang Mathilden, von Mailand wieder nach Paris 
0207zurückzukommen, wo sie durch ein volles Jahr den Unter-
0208richt bei Garcia fortsetzte. In den Jahren 1849 und 1850 
0209finden wir Mathilde als eine der gesuchtesten Concertsängerinnen
0210in London. Nach Beendigung der Saison wendete sie sich
0211nach Deutschland, wo sie bei Liszt in Weimar, bei Mo-
0212scheles
und David in Leipzig die freundlichste Aufnahme
0213fand und in letzterer Stadt mehrere Concerte gab. Es folgte
0214abermals ein Aufenthalt in London, der sich um so genuß-
0215reicher gestaltete, als Mathilde in dem Hause des preußischen
0216Gesandten v. Bunsen und anderen liebenswürdigen
0217Familien heimisch geworden war. Sie veranstaltete 1851 
0218eine Privat-Soirée, in welcher Mendelssohn’s Lieder-
0219spiel: „Die Heimkehr aus der Fremde“ mit englischem Text
0220zum erstenmal in England aufgeführt wurde. Manuel
0221Garcia hatte selbst eine Rolle übernommen, desgleichen
0222einer seiner Schüler, der junge Sicilianer Salvatore Mar-
0223chesi
de Castrone, der bald in dem Leben unserer Sängerin
0224eine noch wichtigere Rolle spielen sollte. Salvatore Marchesi 
0225und Mathilde Graumann wurden am 19. April 1852 in
0226Frankfurt vermält. Das junge Paar folgte gleich nach der
0227Hochzeit einer Einladung Meyerbeer’s nach Berlin, verlebte
0228dann wieder eine Saison in London und langte im Sep-
0229tember 1854 in Wien an, um daselbst Concerte zu geben.
0230Ohne im entferntesten an einen bleibenden Aufenthalt in
0231Wien zu denken, fanden sich die Marchesi doch bald hier ge-
0232fesselt. Frau Marchesi nahm die ihr angetragene Gesangs-
0233professur am Wiener Conservatorium an, das, damals noch
0234in dem winkeligen alten Musikverein, auf bescheidenstem Fuße
0235eingerichtet war. Ihre Thätigkeit erwies sich gleich in dieser
0236ersten Zeit erfolgreich, aus welcher die berühmt gewordenen
0237Schülerinnen der Marchesi: Antonia Fricci, Gabriele
0238Krauß, Ilma v. Murska stammen. Von ihrem Lehrer-
0239beruf ganz in Anspruch genommen, trat Frau Marchesi 
0240nach der Concert-Saison 1854/55 nicht mehr öffentlich auf.
0241Mit einer einzigen Ausnahme, die kaum bekannt geworden und
0242doch seltsam genug gewesen ist. Das große Mozart-Jubiläums-
0243Concert sollte am 27. Januar 1856 unter Liszt’s Leitung
0244im großen Redoutensaal vor sich gehen. Frau Marchesi lag
0245fieberkrank zu Bett und trostlos, dem Concert nicht bei-
0246wohnen zu können, als anderthalb Stunden vor dessen Beginn
0247ein Abgesandter Liszt’s bei ihr eintrat, sie beschwörend, den
0248Part der Elvira in dem „Don Juan“-Finale statt der plötzlich
0249verhinderten Frau Csillag zu übernehmen. Die Haupt-[3]
0250nummer des Festconcertes war verloren ohne den heroischen
0251Entschluß der Marchesi, welche aufsprang, sich ankleidete und
0252ohne Probe die Partie neben Ander, Staudigl und der
0253Tietjens auf das lobenswertheste durchführte.


0254Allerlei Mißhelligkeiten mit der Direction des Conservato-
0255riums brachten Frau Marchesi zu dem Entschluß, im September
02561861 ihre Stellung in Wien aufzugeben und — gefolgt von einer
0257Anzahl getreuer Schülerinnen — nach Paris zu übersiedeln.
0258Auch dort strömten ihr die Schülerinnen von allen Seiten zu.
0259Rossini nahm die Dedication ihrer „Vocalisen“ an, deren
0260Trefflichkeit er in einem liebenswürdigen Schreiben anerkannte.
0261„Ich liebe die tiefen Stimmen,“ sagte er eines Tages zu
0262Frau Marchesi, „will auch noch den Soprano giusto an-
0263hören, aber die Sängerinnen, die immer in den höchsten Regionen
0264schweben und nicht einmal Voce di testa (Kopfstimme), son-
0265dern Voce di capelli (Haarstimme) anwenden, die beleidigen
0266mein Ohr.“ Inmitten aller Annehmlichkeiten und Anerkennun-
0267gen fühlte doch Frau Marchesi, daß das aufreibende Leben in Paris 
0268ihre Gesundheit bedrohe. Die Aerzte drangen auf Luftwechsel
0269und ruhigere Lebensweise. So verließ denn Frau Marchesi 
0270nach vierjährigem Aufenthalte Paris und willigte in den
0271Antrag Ferdinand Hiller’s, eine Stelle am Kölner Con-
0272servatorium anzunehmen. Wer an das reichbewegte Leben in
0273Großstädten gewöhnt ist, der fühlt nicht leicht Befriedigung
0274in kleineren Kreisen, die ihm bald — gesellschaftlich wie künst-
0275lerisch — monoton zu werden drohen. Frau Marchesi fand
0276kein Genügen in Köln, wo sie während eines dreijährigen
0277Aufenthalts nur zwei Schülerinnen für die Bühne aus-
0278gebildet hatte. Sie folgte um so lieber wiederholter Berufung
0279nach Wien, als diese zugleich von der Nachricht einer
0280Reorganisirung des Conservatoriums und dessen Uebersied-
0281lung in den neuen geräumigen Musikvereinspalast begleitet
0282war. Seither sind acht Jahre verflossen — acht Jahre an-
0283gestrengter, aber erfolgreicher und vollauf anerkannter Thätig-
0284keit Frau Marchesi’s in Wien.


0285Hier enden die uns vorliegenden Memoiren der ver-
0286dienstvollen, ausgezeichneten Künstlerin, welche sich ihres
0287Doppel-Jubiläums in dem Bewußtsein redlich erfüllter Pflicht
0288und aus eigener Kraft errungener Erfolge freuen darf. Wir
0289haben ihren Aufzeichnungen nur den Wunsch beizufügen, es
0290möge deren weitere Fortsetzung noch dreimal so lang und
0291dreimal so glücklich ausfallen.