Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4612. Wien, Freitag, den 29. Juni 1877
[1]Karl Maria Weber in Paris.
0002Ed. H. In mehr als Einem Betracht können wir uns
0003den Fleiß und die Gewandtheit der französischen Musik-
0004schriftsteller zum Muster nehmen. Sie haben in neuester Zeit
0005abermals fast in jedem Schachte der Musik-Literatur ge-
0006schürft und Werthvolles oder doch Hübsches zu Tage geför-
0007dert, während wir in Deutschland seit nahezu zwei Jahren
0008nicht über die bereits so widerwärtig angeschwollene Bay-
0009reuth-Literatur hinauskommen. Von Antoine Vidal
0010liegt der zweite Quartband seines gelehrten, mit kostbaren
0011Radirungen geschmückten Werkes über die Streichinstrumente
0012vor („Les Instruments à archet“), von Gevaert, der den
0013zweiten Band seiner griechischen Musikgeschichte vorbereitet,
0014ein werthvoller Jahresbericht des Brüsseler Conservatoriums,
0015von Charles Garnier ein Buch über das neue Opern-
0016haus in Paris, von A. Jullien ein biographisches Werk
0017über Adolph Adam, den Componisten des „Postillon von
0018Longjumeau“ u. A.
0019Der letztgenannte Schriftsteller, Herr Adolph Jullien,
0020hat auch zwei biographische Studien veröffentlicht, welche
0021deutsche Tondichter behandeln, nämlich: „Mendelssohn
0022à Paris“ und „Weber à Paris“. Derlei Arbeiten,
0023welche sich auf einen kurzen Zeitraum und eine bestimmte
0024Localität beschränken, haben den Vortheil, daß sie ein desto
0025helleres Licht darüber verbreiten und manche in großen
0026Werken oft unbemerkt nistende Irrthümer definitiv beseitigen.
0027In seiner ersten Abhandlung hat Herr Jullien sorgfäl-
0028tig und geschmackvoll Alles zusammengestellt, was sich über
0029Mendelssohn’s fünfmonatlichen Aufenthalt in Paris (No-
0030vember 1831 bis April 1832) vorfindet. Da die wichtigsten
0031und ergiebigsten Quellen dafür Mendelssohn’s eigene
0032„Reisebriefe“ und Hiller’s „Erinnerungen“ sind — zwei
0033bei uns so wohlbekannte und geschätzte Bücher — so finden
0034wir deutsche Leser in Jullien’s Aufsatz wenig Neues von Be-
0035deutung. Nicht dasselbe gilt von A. Jullien’s zweiter Ab-
0036handlung, welche Weber’s Aufenthalt in Paris 1826
0037zum Gegenstande hat und manches neue, interessante Datum,
0038insbesondere auch manchen bisher ungedruckten Brief zum
0039erstenmale mittheilt. Karl Maria Weber hat sich bekannt-
0040lich im Februar 1826 — drei Monate vor seinem Tode —
0041über Paris nach London begeben, wo er die erste Aufführung
0042seines „Oberon“ im Coventgarden-Theater leiten sollte.
0043Dieser erste und letzte Aufenthalt Weber’s in Paris
0044währte nur vom 25. Februar bis 2. März; aber selbst
0045in diesem kurzen Zeitraume von fünf Tagen erfuhr Weber
0046die schmeichelhaftesten Huldigungen, die herzlichsten Be-
0047grüßungen. Er war in Paris durch seinen „Freischütz“
0048populär geworden, von dessen bedenklicher Zurichtung durch
0049Castil-Blaze wir gleich hören werden. Schon ein Jahr früher
0050(1825) hatte der Pariser Musikverleger M. Schlesinger
0051Weber beschworen, er möchte nach Paris kommen und dort
0052so bald als möglich eine französische Oper componiren. Ja
0053sogar eine officielle Unterhandlung mit Weber war schon
00541824 eingeleitet worden, und zwar durch einen Abgesandten
0055der Pariser Großen Oper, Chevalier de Cussy, welcher
0056unseren Weber in Dresden aufsuchte. Vielleicht hätte Weber
0057dessen Antrag, eine Oper für Paris zu schreiben, angenom-
0058men, wären nicht gleichzeitig viel lockendere Anerbietungen
0059von dem Director des Coventgarden-Theaters in London,
0060Charles Kemble, ihm zugegangen. In London sollte Weber
0061nicht blos eine neue Oper zur Aufführung bringen
0062(„Oberon“), sondern auch den „Freischütz“ und „Pre-
0063ciosa“ dirigiren. London war gegen Paris hierin im
0064Vortheil, indem es zwei frühere Bühnenwerke Weber’s
0065unverstümmelt auf dem Repertoire hatte, während die Fran-
0066zosen nur eine Verballhornung des „Freischütz“ kannten.
0067Weber konnte, auf französischem Boden angelangt, sich
0068rasch von seiner Popularität überzeugen: die eleganten
0069Damen trugen roth und schwarz gestreifte „Freischütz“-Klei-
0070der, und die Melodien des „Freischütz“, insbesondere der
0071Jägerchor, erklangen mit lästiger Zudringlichkeit aus allen
0072Ecken und Enden. „Was gleicht wol auf Erden dem Jäger-
0073vergnügen!“, im Französischen mit der Anrufung: „Chasseur
0074diligent!“ beginnend, wurde sogar auf religiösen Text in
0075den Kirchen gesungen. Man stelle sich das nur vor:
0076„Chrétien diligent — Devance l’aurore — A ton Sau-
0077veur encore — Adresse tes chants. — Ave Maria, gratia
0078plena (bis) — La, lala, la, lala“ etc. Für den deutschen
0079Leser klingt das geradezu unglaublich; und unglaublich ist es
0080auch, was man damals in Frankreich Alles für „religiöse
0081Musik“ hinnahm. Hörte doch noch Felix Mendelssohn
0082während seines Pariser Aufenthaltes sein Octett bei Ge-
0083legenheit einer für Beethoven abgehaltenen Todtenfeier am
008427. März 1832 in der Kirche spielen; er traute seinen
0085Ohren kaum, als das Scherzo lustig aufhüpfte, während der
0086Geistliche am Altar fungirte.
0087Ein peinliches Vorgefühl störte jedoch die Freude Weber’s
0088bei seiner Ankunft in Paris: der Gedanke an den Musik-
0089schriftsteller Herrn Castil-Blaze und an dessen eigen-
0090mächtige Umarbeitung des „Freischütz“. Der Meister konnte
0091doch unmöglich sich überreden, daß sein geniales Werk eines
0092solchen Arrangements bedurft habe, um in Paris Fuß zu
0093fassen und den Enthusiasmus des Publicums zu erregen.
0094Und dennoch, dennoch hat es mit dieser Thatsache seine un-
0095glückselige Richtigkeit: die Abänderungen von Castil-Blaze
0096hatten wirklich allein vermocht, das Fiasco der ersten Auf-
0097führung in einen Triumph für Weber zu verwandeln. Der
0098„Freischütz“ ward zum erstenmal in Paris am 7. Decem-
0099ber 1824 im Odéon-Theater gegeben. Es war, mit alleiniger
0100Ausnahme des von der Censur gestrichenen „Eremiten“, eine
0101vollständige und wortgetreue Uebersetzung des deutschen Ori-
0102ginals. Castil-Blaze, von dem Theater-Director mit dieser
0103Uebersetzung beauftragt, hatte hinreichende Achtung vor dem
0104Componisten und vor dem Publicum empfunden, um an dem
0105Werke nichts zu ändern, als den schwer verständlichen und
0106schwer übersetzbaren Titel „Der Freischütz“, den er durch
0107„Robin des Bois“ ersetzte. Er selbst hatte auf einen großen
0108Erfolg gehofft, statt dessen erlebte die Oper eine furchtbare
0109Niederlage, namentlich vom dritten Act an; nur die Ouver-
0110türe und der Jägerchor hatten Gnade gefunden vor dem
0111heulenden, zischenden und pfeifenden Publicum.
0112Castil-Blaze mußte nun zu seinen Arrangeur-Talenten
0113Zuflucht nehmen; der „Künstler“, der einen Augenblick lang
0114in ihm geherrscht, wich nunmehr dem Dorfchirurgen, dem
0115Bader. Er nahm sich Weber’s Partitur her, zerschnitt sie
0116beliebig, setzte sie in anderer Ordnung wieder zusammen und
0117quacksalberte so lange daran, bis er sie dem Geschmack des [2]
0118Publicums mundgerecht glaubte. In neun Tagen war das
0119sonderbare Ragout fix und fertig. Es hat den größten Er-
0120folg gehabt und dem „Freischütz“ zu einer Reihe von 327
0121Vorstellungen verholfen. So sehr uns heute derlei willkür-
0122liche Verstümmelungen eines Meisterwerks empören, wir
0123müssen doch, wenn wir uns in die Pariser Musikzustände
0124vor fünfzig Jahren zurückversetzen, einige mildernde Umstände
0125für Castil-Blaze gelten lassen.
0126Weber selbst, so wenig er sich geschmeichelt fühlen
0127konnte durch solche Ueberarbeitung, fand es doch nicht pas-
0128send, dagegen direct aufzutreten; es mochte ihm immerhin
0129lieber sein, in dieser unvollkommenen Form in Paris gespielt
0130zu werden, als gar nicht. Anders verhielt es sich jedoch, als
0131er erfuhr, daß derselbe Castil-Blaze dem Director des Odéon-
0132Theaters und der Opéra Comique eine Uebersetzung und
0133Bearbeitung der „Euryanthe“ angetragen habe, von ihm
0134selbst nach dem Clavier-Auszuge instrumentirt, da die Or-
0135chesterstimmen zu kostspielig wären! Weber wendete sich schrift-
0136lich um Aufklärungen an den Arrangeur wie an den Direc-
0137tor, erhielt aber, selbst nach wiederholter Reclamation, keine
0138Antwort, weder von dem Einen noch dem Andern. Weber
0139mochte sich aus der Ferne kein ganz klares Bild von diesen
0140Dingen machen. Beide Fälle waren gänzlich verschieden:
0141„Robin des Bois“ war, abgesehen von einigen Weglassungen,
0142ein verhältnißmäßig getreu arrangirtes Potpourri; es war
0143die „Freischütz“-Partitur, nach französischem Geschmacke be-
0144arbeitet. Aus der „Euryanthe“ hingegen hatte Castil-Blaze
0145nur einige wenige Nummern herausgenommen, um sie mit
0146anderen Musikstücken von sechs bis acht verschiedenen Com-
0147ponisten zusammenzustellen. „Robin des Bois“ war doch
0148noch immer der „Freischütz“, der „Wald von Sénart“ war
0149nicht mehr „Euryanthe“.
0150Sehen wir, wie in letzterem Falle der unerbittliche
0151Arrangeur vorgegangen. Er hatte beabsichtigt, die in Frank-
0152reich früher hochbeliebte Comödie von Collé: „Eine Jagd-
0153partie Heinrich’s IV.“ neu aufzufrischen, indem er eine An-
0154zahl Musikstücke aus verschiedenen deutschen und italienischen
0155Opern beliebig entlehnte und einlegte. Die Ouverture war
0156die zu: „Torvoleto et Dorliska“ von Rossini, es folgten
0157Stücke aus Opern von Generali, Meyerbeer etc. Von Weber
0158war der (von Castil-Blaze überarbeitete) Jägerchor aus
0159„Euryanthe“ genommen, ein Ensemblesatz aus dem dritten
0160Acte des „Freischütz“ und Aennchen’s Gespenster-Erzählung
0161von Nero, dem Kettenhund.
0162„La forêt de Sénart“ wurde am 14. Januar 1826
0163zum erstenmale im Odéon gegeben und endete unter einem
0164furchtbaren, von Zischern und Klatschern genährten Tumulte.
0165Publicum und Kritik fanden das Stück sehr mittelmäßig und
0166tadelten Castil-Blaze, theils weil er das Drama von Collé
0167verdorben, theils weil er Compositionen von Weber, Beethoven
0168und Rossini (nur diese drei Meister waren auf dem
0169Theaterzettel genannt) herausgerissen und willkürlich ver-
0170wendet habe. Freilich verschwindet der Tadel selbst der streng-
0171sten Journale von damals gegen die Wuthausbrüche und
0172das Rachegeschrei, das Jahre später Berlioz gegen den
0173Verstümmler der Weber’schen Tondichtungen entfesselte.
0174Berlioz irrt nur in der Annahme, daß Weber erst bei
0175seiner Abreise von Paris gegen das Verfahren Castil-Blaze’s
0176protestirt habe; er hat es vielmehr vor seiner Pariser Reise
0177gethan, indem er zwei Briefe an Mr. Castil-Blaze durch
0178Vermittlung des Verlegers Schlesinger in ein Pariser Jour-
0179nal einrücken ließ. Der erste Brief — ddo. Dresden den
018015. December 1825 — ist noch in sehr höflicher Form ab-
0181gefaßt, ja mit einigen für Castil-Blaze sehr schmeichelhaften
0182Ausdrücken verbrämt. Die Hauptstelle lautet:
0183„Sie gehen zuerst daran, meinen „Freischütz“ für die
0184französische Bühne zu bearbeiten. Nichts könnte schmeichel-
0185hafter für mich sein — aber Sie finden es nicht einmal
0186nöthig, sich mit dem Componisten darüber zu besprechen, ihm
0187Ihre Ideen über die vorzunehmenden Aenderungen etc. mit-
0188zutheilen. Sie verschaffen sich meine Partitur auf ganz un-
0189rechtmäßigem Wege, denn da meine Oper weder gestochen
0190noch veröffentlicht ist, so hat kein Musikalienhändler das
0191Recht, sie zu verkaufen. Endlich wird die Oper aufgeführt,
0192und Sie vergessen mich abermals so sehr, daß Sie auch die
0193Rechte des Componisten für sich in Anspruch nehmen. Ah,
0194mein Herr, was soll denn aus Allem werden, was uns
0195heilig ist?“
0196Weber’s zweiter Brief (aus Dresden den 4. Januar
01971826) beginnt mit der Klage über die Nichtbeantwortung
0198des ersten durch Herrn Castil-Blaze und fährt fort: „Ich
0199erfahre, daß man im Odéon eine Comödie einstudire, worin
0200Stücke aus „Euryanthe“ vorkommen. Es ist meine Absicht,
0201dieses Werk selbst in Paris auf die Bühne zu bringen; ich
0202habe meine Partitur nicht verkauft, und Niemand besitzt sie
0203in Frankreich. Vielleicht haben Sie aus dem Clavierauszug
0204die Stücke genommen, die Sie verwenden wollen. Sie haben
0205nicht das Recht, meine Musik zu verunstalten, indem Sie
0206Stücke daraus mit einem von Ihnen gemachten Accom-
0207pagnement aufführen lassen. Sie zwingen mich, mein Herr,
0208mich an die Oeffentlichkeit zu wenden und in den französischen
0209Blättern den Diebstahl aufzudecken, den man an mir, an
0210meinem Eigenthum und meiner künstlerischen Reputation
0211verübte. Ich ersuche Sie inständigst, mein Herr, aus dem
0212von Ihnen arrangirten Werke sofort alle Stücke zu entfernen,
0213die mir gehören. Gerne vergesse ich erlittenes Unrecht; ich
0214will nicht mehr vom „Freischütz“ reden, aber lassen Sie es
0215damit genug sein und hören Sie endlich auf!“
0216Weber hatte gewünscht, Moriz Schlesinger möchte die
0217beiden Briefe in allen Pariser Journalen veröffentlichen —
0218sie erschienen nur in Einem Blatte und blieben ohne merk-
0219lichen Eindruck. Nachstehender, an Moriz Schlesinger in Paris
0220gerichteter Brief von Weber, ddo. Dredsen, 5. Januar
02211826, ist zum erstenmale von A. Jullien mitgetheilt und in
0222deutscher Sprache noch nicht veröffentlicht worden:
0223„Lieber Herr! Ich wende mich an Ihre werkthätige
0224Gefälligkeit; die größte Geduld erschöpft sich schließlich, und
0225die meine ist zu Ende. Nachdem Herr Castil-Blaze die namen-
0226lose Unverschämtheit gehabt, meinen „Freischütz“ dem Publi-
0227cum darzubieten, bevor noch die Partitur gestochen war,
0228schrieb ich ihm beiliegenden Brief, der ihm durch die könig-
0229lich sächsische Gesandtschaft zugestellt wurde und worin man
0230gewiß meine friedliebende Gesinnung nicht verkennen wird.
0231Er hat mich keiner Antwort gewürdigt und seither sich sogar
0232meiner „Euryanthe“ bemächtigt, die er nach seinem Geschmack
0233anschneidet und herrichtet. Ich bin es meiner Künstler-Ehre,
0234bin es der Kunst im Allgemeinen schuldig, ein solches Vor-[3]
0235gehen nicht länger zu dulden. Ich bitte Sie daher, den bei-
0236liegenden Brief, dessen Abschrift für Sie bestimmt ist, Herrn
0237Castil-Blaze zuzustellen; ich wünsche darin, daß er sich schrift-
0238lich verpflichte, nie wieder meine Compositionen für die seini-
0239gen anzusehen und aus der „Jagdpartie Heinrich’s IV.“
0240alle der „Euryanthe“ entnommenen Stücke zu entfernen.
0241Sollte er, was kaum möglich scheint, sich weiterhin ableh-
0242nend verhalten, so bitte ich Sie, beide Briefe in allen
0243Pariser Blättern zu veröffentlichen und ihnen eine erklärende
0244Bemerkung in meinem Interesse vorauszuschicken. Das Ge-
0245rechtigkeitsgefühl ist zu lebhaft in der französischen Nation,
0246um noch länger die Rechte eines Künstlers verletzen zu
0247lassen, der sich durch die Sympathien derselben hoch geehrt
0248fühlt. Ich überlasse Ihnen vollständig das Detail und
0249empfehle Ihnen nur, in der Form so viel Milde und
0250Mäßigung als nur möglich zu beobachten.
0251K. M. v. Weber.“
0252Das Verlangen, von Castil-Blaze eine schriftliche Ab-
0253standserklärung zu erhalten, konnte nach Jullien’s richtiger
0254Bemerkung nur in der Idee eines Mannes entstehen, der
0255weit von Paris lebte und nicht wußte, mit wem er es zu
0256thun habe. Dieses Verlangen erscheint uns heute ebenso
0257naiv, wie die Berufung auf den gerechten Sinn der franzö-
0258sischen Nation, welche in Wirklichkeit sich gar nicht um die
0259ganze Angelegenheit kümmerte. Die Idee, den „Freischütz“
0260auf die französische Bühne zu bringen, gehörte gar nicht
0261Herrn Castil-Blaze. Weber’s Verleger hatte sie ein Jahr
0262früher, und Weber selbst wollte zu diesem Behufe die Par-
0263titur an Habeneck, den berühmten Dirigenten der Pariser
0264Conservatoire-Concerte, senden. In einem bisher gänzlich
0265unbekannt gebliebenen Briefe Weber’s an seinen Verleger
0266M. Schlesinger (ddo. Dresden, 15. März 1823) findet sich
0267eine merkwürdige Stelle, welche über Weber’s Absichten be-
0268züglich des „Freischütz“ und einer neuen Original-Oper für
0269Paris neues Licht verbreitet:
0270„Mit dem größten Vergnügen werde ich Herrn Habeneck
0271die Partitur des „Freischütz“ senden, und mit dem vollen
0272Vertrauen, das man einem so echten Künstler schuldig ist.
0273Falls sich meine Ideen über die Ausführung dieser Oper
0274nicht ändern — denn ich bilde mir ein, daß das Sujet in
0275Paris niemals Anklang finden werde — so wäre es mir ein
0276Vergnügen und eine Ehre, mit Herrn Habeneck darüber in
0277persönlichen Verkehr zu treten. Da ich die Pariser Gewohn-
0278heiten diesfalls nicht kenne, bitte ich Sie, mir bekanntzugeben,
0279welche Bedingungen für ihn und für mich gleichmäßig an-
0280nehmbar wären. Ich würde es nicht ablehnen, ein französisches
0281Textbuch zu componiren, vorausgesetzt, daß es nicht zu sehr
0282gegen meine Ideen verstoße; ich wäre bereit, anderthalb oder
0283zwei Monate zu verweilen, um die mir zur Verfügung ge-
0284stellten Kräfte kennen zu lernen und sie mit dem größt-
0285möglichen Nutzen zu verwerthen. Aber da ich in Muße zu
0286arbeiten liebe, wäre ich außer Stande, die Oper von An-
0287fang bis zu Ende in Paris zu schreiben; ich würde hieher
0288zurückkehren, um seinerzeit wieder, der Aufführung wegen,
0289nach Frankreich zu kommen. Es wäre Habeneck’s Sache, den
0290richtigen Moment zu bestimmen und das Datum festzusetzen.
0291So lebhaft ich seit langer Zeit wünsche, die Hauptstadt von
0292Frankreich zu besuchen, so kann ich doch meine freundschaft-
0293lichen und Familien-Beziehungen nicht ohne wichtigen Grund
0294unterbrechen. Ueberdies gedenke ich im August nach Wien zu
0295reisen, um dort meine große Oper „Euryanthe“ in
0296Scene zu setzen; das wäre, glaube ich, ein Werk,
0297das sich leicht der französischen Bühne an-
0298passen würde.“
0299Castil-Blaze wollte doch nicht unter den moralischen
0300Streichen Weber’s gänzlich stumm verbleiben und erwiderte
0301in seiner Art, das heißt mit einem Gemenge von guten und
0302schlechten Gründen, die ihn zwar als Künstler nimmermehr
0303entschuldigen konnten, aber doch zum Theil als Kaufmann.
0304Er beruft sich ausschließlich auf jenes Gesetz, welches da
0305will, daß jedes literarische und musikalische Eigenthum jenseits
0306der Landesgrenze erlösche. Er erinnert daran, daß jede
0307französische Oper von Ausländern ungestraft genommen und
0308benützt werden kann, daß gerade in Deutschland eine Menge
0309französischer Opern übersetzt, arrangirt und aufgeführt wur-
0310den, ohne Einwilligung und ohne die geringste Entschädigung
0311des Componisten. Er selbst, Castil-Blaze, habe sich auch
0312niemals beklagt, daß seine Bücher in Deutschland nachgedruckt
0313und nachgebildet worden seien; aber dafür wolle er offene
0314und gerechte Repressalien üben an deutschen Erzeugnissen und
0315habe in Mainz 40 Kilogramm Partituren gekauft, von
0316denen er jeden ihm beliebigen Gebrauch zu machen gedenke.
0317Auf diese Einrede Castil-Blaze’s folgte bald die Replik
0318Moriz Schlesinger’s, der als Bevollmächtigter Weber’s ins-
0319besondere dessen pecuniäres Interesse gegenüber Castil-Blaze
0320wahrnehmen und vertheidigen mußte. Er constatirt ohne
0321Schwierigkeit, daß Castil-Blaze dem Compositeur des „Frei-
0322schütz“ sein rechtmäßiges Eigenthum entwendet habe, indem
0323er die große Partitur dieser Oper, die Weber Niemandem
0324abtreten wollte, stechen und zu seinem, des Arrangeurs,
0325Vortheil verkaufen ließ. Ferner wird geltend gemacht, daß
0326man in Deutschland mit den französischen Opern keine will-
0327kürlichen Veränderungen à la Castil-Blaze vornehme, sondern
0328getreu an Text und Musik des Originals festhalte. Diese
0329sich immer schärfer zuspitzende Discussion ging der Ankunft
0330Weber’s in Paris gerade um einen Monat voraus, konnte
0331also weder zur Versöhnung zwischen Weber und Castil-Blaze
0332beitragen, noch zur besonderen Behaglichkeit Weber’s, der
0333täglich fürchten mußte, mit seinem „Bearbeiter“ irgendwo
0334zusammenzutreffen.
0335Ueber Weber’s erste Eindrücke in Paris und die Be-
0336weise von Sympathie und Verehrung, welche ihm sofort von
0337Cherubini, Rossini und anderen Notabilitäten der Pariser
0338Musikwelt entgegengebracht wurden, sind wir aus Max
0339v. Weber’s trefflicher Biographie hinreichend unterrichtet.
0340Je mehr Künstler und Schriftsteller ihn aufsuchten, desto
0341emsiger beschleunigte Weber, der gern in Paris ganz incognito
0342geblieben wäre, seine Abreise nach London. Der Aufenthalt
0343in Paris wirkte auf den bereits ernstlich kranken Mann allzu
0344anstrengend und ermattend. Nach seiner launigen Versicherung
0345hätten eigentlich nur zwei Dinge in Paris ihn entzückt:
0346Boieldieu’s neue Oper „Die weiße Frau“ und — die
0347vortrefflichen Austern. „Das ist Reiz, das ist Humor!“
0348schreibt Weber an Th. Hell über die „Weiße Frau“. „Seit
0349„Figaro’s Hochzeit“ ist keine komische Oper geschrieben
0350worden, wie diese!“ Aber weder die köstliche Oper
0351noch die köstlichen Austern hielten ihn auch nur eine [4]
0352Stunde länger in Paris; am 2. März fuhr er mit seinem
0353treuen Dresdener Freunde, dem Flötisten Fürstenau, über
0354Calais nach England. Erst auf der Rückreise von London,
0355nach glücklichem Erfolge des „Oberon“, wollte Weber einen
0356längeren Aufenthalt in Paris sich gönnen und daselbst festeren
0357Fuß fassen. Er hatte zu diesem Behufe ein Empfehlungs-
0358schreiben bei sich, das ihm den Zutritt ins Palais Royal
0359sicherte, um bei seiner Rückkehr davon Gebrauch zu machen.
0360Das Empfehlungsschreiben, von dem damaligen Prinzen,
0361späteren König von Sachsen, Friedrich August II., eigenhän-
0362dig geschrieben und an den Herzog von Orleans adressirt,
0363gelangte, ohne je an seine Adresse zu kommen, in den Besitz
0364Moriz Schlesinger’s und mag, bisher unveröffentlicht, in
0365deutscher Uebersetzung hier folgen:
0366„Monseigneur! Als Liebhaber und Beschützer der Künste
0367wage ich es, Ihnen zwei sächsische Künstler zu empfehlen,
0368welche auf der Durchreise durch Paris sich vor Ihnen hören
0369zu lassen wünschen und Ihre Protection ansuchen. Der eine
0370von ihnen ist der berühmte Schöpfer des „Freischütz“,
0371Weber, ein in jeder Beziehung sehr empfehlenswerther Mann,
0372dessen persönliche Bekanntschaft Sie sicherlich nicht gereuen
0373wird und der überdies als Clavierspieler excellirt. Sein Be-
0374gleiter ist M. Fürstenau, Flöten-Virtuose und Mitglied der
0375königlichen Capelle; obwol Sie an die hervorragenden Talente
0376eines Drouet und Toulou gewöhnt sind, werden Sie
0377ihn hoffentlich doch mit Vergnügen hören. Wenn dieser Brief
0378ein altes Datum trägt, so bitte ich, Weber zu entschuldigen;
0379denn da er seine Ankunft in England beschleunigen muß, um
0380dort noch einige Concerte zu dirigiren, wird er nicht Zeit
0381haben, sich Ihnen bei seiner ersten Durchreise in Paris vor-
0382stellen zu lassen. Empfangen Sie die Versicherung meiner
0383unveränderlichen Freundschaft.
0384Ihr ergebenster Freund und Neffe
0385Friedrich August.“
0386Diesen Brief hielt Weber sorgfältig verwahrt, um bei
0387seiner Rückkehr von London davon Gebrauch zu machen. Der
0388Tod, der ihn in London so schnell dahinraffte, vereitelte auch
0389diesen Plan. Weber sollte weder Frankreich noch sein
0390deutsche Heimat je wieder sehen.