Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4680. Wien, Mittwoch, den 5. September 1877

[1]

Grillparzer und die Musik. I.


0002Ed. H. Wer sich je tiefer mit Grillparzer eingelassen
0003hat, dem mußte das besonders innige Verhältniß des Dichters
0004zur Musik auffallen. Dieses Verhältniß, das heißt die Musik
0005als wichtiger Factor in Grillparzer’s Entwicklung und die
0006Musik als ein Gebiet seiner geistigen Kraft, scheint mir den
0007Versuch einer zusammenfassenden Darstellung zu verdienen.
0008Es gibt keinen zweiten großen Dichter, der sich so liebevoll
0009und ernstlich mit der Musik befaßt, so tiefe Blicke in ihr
0010Wesen gethan hätte, wie Grillparzer. Nur für J. J.
0011Rousseau, dessen fleißige Musik-Schriftstellerei übrigens
0012abseits lag von seinem poetischen Talente, läßt sich mit ge-
0013wissem Vorbehalt eine Ausnahme machen. Ich weiß keinen
0014Poeten, der eine solche Fülle tiefer und eigenthümlicher Ge-
0015danken über Musik und musikalische Kunstwerke aus seinem
0016Innersten geschöpft und mit solcher Klarheit ausgesprochen
0017hätte. Sowol in dem tiefen Goldglanz seiner Verse, wie in
0018dem scharfen Tageslicht seiner Prosa weiß Grillparzer jede
0019musikalische Erscheinung in ihrem letzten Grunde rein darzu-
0020stellen. Ernst, wie er Alles getrieben hat, trieb er auch die
0021Musik, die er als tüchtiger Pianist und A vista-Leser, als
0022aufmerksamer Concert- und Opernbesucher bis in sein hohes
0023Alter pflegte, wo zunehmende Taubheit ihm nur mehr das
0024Lesen von Compositionen gestattete. Zeitlebens blieb ihm
0025die Musik eine treue, verständnißvolle Freundin; allen be-
0026deutenden Erscheinungen derselben folgte er mit Aufmerksam-
0027keit und gab sich Rechenschaft darüber in längeren Aufsätzen
0028oder lakonischen Epigrammen. Das Besondere daran ist,
0029daß er nicht blos in seinen allgemeinen Aussprüchen über
0030Musik — wo ja auch der nichtmusikalische Poet als ein
0031Seher von Gottes Gnaden so oft das Richtige trifft — son-
0032dern in seinen Urtheilen über einzelne bestimmte Tondichter
0033oder Compositionen immer den guten Musiker verräth, den
0034musikalisch Hörenden und Verstehenden, dessen Sinn auf das 
0035concret Künstlerische und keineswegs auf poetische Allgemein-
0036heiten gerichtet ist.


0037Das unterscheidet Grillparzer’s musikalische Aussprüche
0038und Schilderungen von jenen der meisten Dichter, insbeson-
0039dere von jenen Goethe’s. Es hat zwar hie und da einem
0040biographischen Goethe-Virtuosen gefallen, den größten Dich-
0041ter auch als ein musikalisches Phänomen darzustellen; ich
0042entsinne mich sogar einer eigenen Monographie, welche mit
0043Bienenfleiß den musikalischen Honig aus Goethe’s sämmt-
0044lichen Werken, Briefen und Gesprächen zusammentrug, um
0045dem ungläubigen Leser zu offenbaren, was Goethen die Musik
0046und was er ihr gewesen. In Wahrheit liefert aber solche
0047Anstrengung durch ihr ungemein spärliches Resultat nur den
0048Beweis, welch verhältnißmäßig schwache Rolle die Musik in
0049Goethe’s Leben gespielt und umgekehrt Goethe in der Musik.
0050Eine so allumfassende Natur wie Goethe konnte natürlich
0051nicht unberührt bleiben von der Musik. Es ist aber bezeich-
0052nend, daß Goethe’s Interesse an der Tonkunst erst in
0053späterem Alter auftaucht und weit mehr in theoretischer
0054und naturwissenschaftlicher Richtung hin, als in eigentlicher
0055Musikliebe. Er correspondirt 1808 mit Zelter eifrig über
0056den „Mollbegrifff“ und die kleine Terz, die für ihn ein
0057ähnliches Interesse hatte, wie der Zwischenknochen oder irgend
0058ein Beweisstück für seine Farbenlehre. Biographisch bleibt
0059es hochwichtig und bewunderungswerth, daß der Vierund-
0060siebzigjährige noch das Bedürfniß empfand, sich „theoretisch
0061dem Harmonischen zu nähern“ und sich selbst ein tabellarisches
0062Schema zur Tonlehre zu entwerfen. Außer diesem physi-
0063kalisch-theoretischen hatte Goethe auch ein geschichtliches Inter-
0064esse an der Tonkunst und benützte den sporadischen Verkehr
0065mit Fachmusikern, wie Keyser, Zelter, zuletzt Mendelssohn,
0066um sich über musikhistorische Entwicklung belehren zu lassen.
0067Alles das ist aber weit verschieden von einem lebendigen Ge-
0068nießen und Betreiben der Musik als Kunst. Dem unmittel-
0069baren Eindruck der Musik stand Goethe allerdings offen bei
0070günstiger Stimmung und Gelegenheit, zumal in höherem
0071Alter, wo ihn weiche Rührung leicht übermannte. (Marienbad.)
0072Aber es blieb doch meistens nur der allgemeine Stimmungs-
0073eindruck, also das Elementarische der Musik, was ihn be-
0074wegte, nicht der künstlerische Charakter der bestimmten Com-
0075position, über den wir bei Goethe fast nie etwas erfahren.
0076Urtheile über einzelne Tondichter oder Compositionen finden
0077wir in dem ganzen großen Bereich von Goethe’s Werken
0078höchst selten; nicht einmal eingehendere Bemerkungen über
0079die unter seiner eigenen Leitung in Weimar aufgeführten
0080Opern. Goethe’s lange Lebenszeit umschließt die ganze Thä-
0081tigkeit Mozart’s und Beethoven’s (!) und noch die
0082Anfänge Felix Mendelssohn’s dazu — er hat aber keinem
0083großen Tondichter so viel Interesse gewidmet, wie der kleinen
0084Terz. Alle auf die musikalische Hochstellung Goethe’s gerich-
0085teten Versuche versagen eigentlich vor Goethe’s eigenem Ge-
0086ständniß an Zelter (1820): „Und so verwandle ich Ton-
0087und Gehörloser, obgleich Guthörender, jenen großen Genuß
0088in Begriff und Wort. Ich weiß recht gut, daß mir deßhalb
0089ein Drittel des Lebens fehlt; aber man muß sich einzurichten
0090wissen.“ Ein tiefgreifender Unterschied zwischen der Musik-
0091auffassung Goethe’s und Grillparzer’s verräth sich schon in
0092diesem Satze. Goethe mußte der Musik überall Begriffe
0093und Worte unterlegen, um diesen „großen Genuß“ sich
0094wirklich anzueignen; Grillparzer hingegen genießt die
0095Musik streng musikalisch und will ihr Gebiet rein
0096gehalten wissen von poetischer Gleichniß- und Aus-
0097legekunst. Er spricht, wo er Musikalisches zu schildern
0098oder zu beurtheilen hat, als vollkommener Musiker.
0099Den Anspruch, als Musiker zu gelten, machte er nicht, aber
0100er hatte ihn. Im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde
0101befindet sich ein Heft mit Beispielen, die Grillparzer während
0102des Unterrichtes bei dem Hoforganisten Sechter ausgear-
0103beitet: Uebungen im bezifferten Baß, in der Harmonie und
0104Modulation, endlich eine Seite einfachen Contrapunkts; Alles
0105von Grillparzer’s Hand, hie und da mit kleinen Bemer-
0106kungen, worunter häufig ein lakonisches „Miserabel“! Grill-
0107parzer’s würdige Freundin und Pflegerin, Fräulein Kathi
0108Fröhlich, zeigte mir drei Stücke von Grillparzer’s Com-
0109position, von ihm mit feiner, deutlicher Notenschrift auf-
0110gesetzt. Das erste die Horaz’sche Ode „Integer vitae, scele -[2]
0111risque purus“, für eine tiefere Stimme mit Clavierbeglei-
0112tung in D-dur, recht einfach und würdig durchcomponirt.
0113Am Schlusse steht: „F. Grillparzer fecit.“ Er sang es oft
0114für sich in der Dämmerung am Clavier. Das zweite Lied
0115ist Heine’s „Du schönes Schiffermädchen“ (G-dur, seltsamer-
0116weise im Vierviertel-Tact, für Bariton), durchcomponirt ohne
0117Vor- und Nachspiel, von anspruchsloser Melodie und streng
0118symmetrischem Periodenbau, an Haydn-Mozart’sche Weise
0119mahnend. Heinrich Heine, componirt von Grillparzer 
0120— gewiß ein seltenes Curiosum! Endlich ein Gesangstück für
0121Baß und Clavierbegleitung, ohne Titel („Kampf ist das
0122Leben, immerwährender Streit“), ein leidenschaftlich bewegtes
0123Allegro in As-moll, das bei den Schlußworten: „Nimmer
0124wird Frieden, bis die Seele entwich“, sich im As-dur-Accord
0125besänftigt. Auch dieses kurze Gesangstück hat weder Vor-
0126noch Nachspiel. Wir wollen diesen Compositionen nur biogra-
0127phischen Werth vindiciren, nicht einen von der Person des Autors
0128unabhängigen. Mancher Einfaltspinsel componirt gewiß Origi-
0129nelleres. Aber für Grillparzer’s musikalische Bildung und edles
0130musikalisches Bedürfniß sprechen diese Compositionen. Ihre
0131schlichte Correctheit beweist, daß der große Dichter die Musik
0132nicht blos begeistert anzusingen, sondern sie selbst künstlerisch
0133zu handhaben wußte. Seine Aussprüche über Musik gewinnen
0134uns dadurch an Bedeutung. Was Grillparzer über Tonkunst
0135und Tonkünstler gedacht, das findet sich zerstreut, mitunter
0136recht versteckt in den zehn Bänden der Cotta’schen Gesammt-
0137Ausgabe. Wie diese nach Grillparzer’s Tod erschienene Ge-
0138sammt-Ausgabe uns überhaupt erst in den Stand gesetzt hat,
0139den ganzen Dichter, noch mehr aber den ganzen Menschen
0140kennen zu lernen, so öffnet sie uns auch zuerst den Einblick
0141in sein musikalisches Denken und Empfinden. Die köstlichen
0142Goldkörner, die ich aus Grillparzer’s Schacht zu Tage för-
0143derte, möchte ich gern mit anderen Freunden der Musik
0144theilen. Ich habe kein weiteres Verdienst dabei, als die leichte
0145Mühe des Suchens und Ordens; dafür darf ich mich
0146aber eines kleinen Glücksfalles rühmen: einige in der
0147Gesammt-Ausgabe nicht vorkommende kleinere Aufsätze über
0148Musik, eine Art Tagebuchblätter vonGrillparzer’s Hand,
0149wurden mir von der Eigenthümerin, Fräulein K. Fröhlich, 
0150zur Durchsicht und theilweisen Benützung mitgetheilt.
0151Sie ergänzen und beleuchten das Bild Grillparzer’s, des
0152Musikers. Man wird aus den folgenden Blättern ersehen,
0153daß, was immer Grillparzer in Versen oder Prosa über
0154Musik äußerte, nicht isolirt abspringende Geistesfunken sind
0155(wie wir sie brillant genug sogar bei dem nichtmusikalischen
0156Heine finden), sondern Strahlen einer einheitlichen unver-
0157rückbaren Kunstanschauung.


0158Grillparzer war musikalisch von Haus aus. Zwar hatte
0159er, der Mann der Einsamkeit und des strengen Ernstes,
0160vom Mütterchen keine „Frohnatur“ geerbt, wol aber die Luft
0161am Musiciren. „Meine Mutter,“ erzählt er, „war eine
0162herzensgute Frau und lebte und webte in der Musik, die sie
0163mit Leidenschaft liebte und trieb.“ Sie ertheilte Grillparzer 
0164den ersten Clavier-Unterricht gewiß mit bestem Willen, aber
0165ohne Einsicht und mit ungeduldiger Heftigkeit. Ehe er noch
0166„den vollkommenen Gebrauch seiner Gliedmaßen hatte“,
0167mußte der kleine Franz an’s Clavier, und da ihm die Mutter 
0168bei jedem verfehlten Ton die Hand von den Tasten riß, so
0169duldete er Höllenqualen. Es ist dies einer von den unzähli-
0170gen Fällen, wo durch verfrühten und überstrengen Clavier-
0171Unterricht selbst musikalisch begabten Kindern ein wahrer Haß
0172gegen das Instrument, oft für Jahre, eingeimpft wird. Auf den
0173mütterlichen Unterricht während der Sommerfrische folgte in der
0174Stadt ein eigener Claviermeister für Franz: der Böhme Johann
0175Mederitsch, genannt Gallus, eines der vielen schattenhaft
0176durch die Musikgeschichte huschenden „Genies“, deren Namen
0177Jedermann und deren Compositionen Niemand kennt. Grill-
0178parzer nennt ihn „einen ausgezeichneten Contrapunktisten,
0179der aber durch Leichtsinn und Faulheit gehindert worden,
0180seine Kunst zur Geltung zu bringen“. Clavierstunden gab
0181er widerwillig, um nicht geradezu zu verhungern, und sein
0182Unterricht mit Grillparzer war eine Reihe von Kinderpossen.
0183„Wir krochen,“ erzählt dieser, „mehr unter dem Clavier
0184herum, als daß wir darauf gespielt hätten.“ In der zweiten
0185Hälfte der Stunde und darüber hinaus phantasirte Mederitsch 
0186auf dem Clavier, um die Mutter seines Schülers zu begüti-
0187gen. Kein Zweifel, daß dieses freie Improvisiren und
0188Fugiren des hier in seinem Elemente schwimmenden Phan-
0189tasten auf den jungen Grillparzer anregend und befruchtend
0190gewirkt hat, mehr als er selbst vermuthete. Es hat ohne
0191Zweifel Grillparzer’s spätere Lust und Fertigkeit im Phan-
0192tasiren gezeitigt. Seine Abneigung gegen das Clavierspiel
0193nahm, in Folge dieser verrückten Unterrichts-Methoden, von
0194Jahr zu Jahr zu, ohne deßhalb eine Abneigung gegen die
0195Musik zu sein. Denn als sein zweiter Bruder, um sich
0196dem verhaßten Clavierspiel zu entziehen, Lust zur Violine
0197vorgab, auch einen Geigenmeister erhielt, nahm Franz bei
0198jeder Gelegenheit die Violine zur Hand, übte Scalen und
0199Beispiele und spielte endlich mit dem Meister leichte Duetten,
0200ohne je die geringste Anweisung erhalten zu haben. Der
0201alte Violinlehrer erkannte in Franz ein großes Talent und
0202beschwor die Eltern, ihn fortfahren zu lassen. Allein man
0203nahm dem Knaben die Geige aus der Hand und entließ den
0204Meister. Die verweigerte Violine machte dem jungen Grill-
0205parzer das Clavier noch verhaßter. Bei einer Soirée in
0206Grillparzers Elternhause sollten die beiden Söhne vor den
0207Gästen sich auf dem Clavier produciren. Grillparzer’s Bru-
0208der, Camillo, spielte mit allgemeinem Beifall, aber Franz 
0209selbst war nirgends zu finden. Er hatte sich in das Bett des
0210Bedienten verkrochen und kam erst nach beendigter Soirée
0211aus seinem Verstecke wieder hervor. Der Vater brach in
0212heftigen Zorn aus und machte den Musik-Lectionen für
0213immer ein rasches Ende. Grillparzer aber hat, entmuthigt,
0214durch sieben oder acht Jahre mit keinem Finger das Clavier
0215berührt.


0216Was trieb ihn, dem man die Musik so gründlich ver-
0217leidet hatte, dennoch wieder freiwillig in ihre Arme? Grill-
0218parzer erzählt, daß seine trübe Stimmung — durch die zu-
0219nehmende Krankheit seines Vaters, die erschütterten Ver-
0220mögensverhältnisse u. s. w. — ihn eine Ableitung in der
0221Musik suchen ließ. „Das Clavier war geöffnet, aber ich
0222hatte Alles vergessen, selbst die Noten waren mir fremd ge-
0223worden. Da kam mir zu statten, daß mein erster Clavier-
0224meister Gallus, als er mich in halb kindischer Tändelei be-
0225zifferten Baß spielen ließ, mir eine Kenntniß der Grund-
0226Accorde beigebracht hatte. Ich ergötzte mich an dem Zu-
0227sammenklang der Töne, die Accorde lösten sich in Be-[3]
0228wegungen auf, und diese bildeten sich zu einfachen Melodien.“
0229Grillparzer spielte fortan ohne Noten aus dem Kopfe und
0230erlangte darin eine solche Fertigkeit, daß er stundenlang
0231phantasiren konnte. In jener Zeit (es war in Grillparzer’s
0232siebzehntem oder achtzehntem Lebensjahr) setzte er auch Lieder;
0233eines darunter, Goethe’s „König von Thule“, mußte er
0234seinem Vater immer wieder spielen und vorsingen. — Grill-
0235parzer’s Unterricht im Contrapunkt fällt in eine viel spätere
0236Zeit. „Die Entwicklungen und Fortschreitungen (bemerkt er
0237darüber) wurden nun richtiger, aber das Inspirirte ging
0238mir verloren.“


0239Die Liebe zur Geige, zu der „verweigerten Geige“, der
0240verhaßte Clavier-Unterricht, die eigenthümlich formlos-
0241poetische Gestalt, in welcher die lange vernachlässigte Musik
0242ihn wieder gewann, als Improvisation und Phantasie —
0243das Alles höre ich deutlich nachklingen in Grillparzer’s un-
0244säglich rührender Erzählung: „Der arme Spielmann“.
0245Wer nichts Anderes von Grillparzer kennte, als dieses
0246Meisterstück in der Kunst anscheinend kunstlosen Erzählens,
0247der weiß, daß er es mit einem großen Dichter zu thun hat.
0248Aber nur ein großer Dichter, der zugleich in die Tiefen des
0249musikalischen Geheimnißlebens eindrang und sich darin
0250sicher wie zu Hause fühlt, konnte den alten Geiger verstehen
0251und ihn so schildern, daß wir nicht blos seine rührende Ge-
0252stalt zu schauen, sondern sein Spiel zu hören glauben.
0253Grillparzer sucht den alten Spielmann in seiner ärm-
0254lichen, entlegenen Wohnung auf. Ein langgezogener Violin-
0255ton schlägt an sein Ohr. „Ich stand stille. Ein leiser,
0256aber bestimmt gegriffener Ton schwoll bis zur Heftigkeit,
0257senkte sich, verklang, um gleich darauf wieder bis zum lau-
0258testen Gellen emporzusteigen, und zwar immer derselbe Ton
0259mit einer Art genußreichem Daraufberuhen wiederholt. End-
0260lich kam ein Intervall. Es war die Quarte. Hatte der
0261Spieler sich vorher an dem Klange des einzelnen Tones ge-
0262weidet, so war nun das gleichsam wollüstige Schmecken dieses
0263harmonischen Verhältnisses noch ungleich fühlbarer. Sprung-
0264weise gegriffen, zugleich gestrichen, auch die dazwischen liegende
0265Stufenreihe höchst holperig verbunden, die Terz markirt,
0266wiederholt. Die Quinte darangefügt, einmal mit zitterndem 
0267Klang, wie ein stilles Weinen, ausgehalten, verhallend, dann
0268in wirbelnder Schnelligkeit ewig wiederholt, immer diese sel-
0269ben Verhältnisse, die nämlichen Töne. Und das nannte der
0270alte Mann Phantasiren!“ Wie ist das Alles gehört, musi-
0271kalisch gehört und empfunden! Ebenso dünkt mich die fol-
0272gende Schilderung aus dem „armen Spielmann“ be-
0273wunderungswürdig, nicht blos als Leistung des Poeten
0274sondern zugleich des Musikers. Grillparzer läßt den zu-
0275traulich gewordenen alten Geiger also klagen: „Sie
0276spielen den Wolfgang Amadeus Mozart und den Sebastian
0277Bach, aber den lieben Gott spielt Keiner. Die ewige Wohl-
0278that und Gnade des Tones und Klanges, seine wunderthä-
0279tige Uebereinstimmung mit dem durstigen, zerlechzenden Ohr,
0280daß — fuhr er leiser und schamroth fort — der dritte Ton
0281zusammenstimmt mit dem ersten und der fünfte desgleichen,
0282und die Nota sensibilis hinaufsteigt wie eine erfüllte Hoff-
0283nung, die Dissonanz herabgebeugt wird als wissentliche Bos-
0284heit oder vermessener Stolz und die Wunder der Bindung
0285und Umkehrung, wodurch auch die Secunde zur Gnade ge-
0286langt in den Schoß des Wohlklanges. Mir hat das Alles
0287obwol viel später, ein Musiker erklärt. Und, wovon ich aber
0288nichts verstehe, die fuga und das punctum contra punctum
0289und der canon a duo, a tro und so fort, ein ganzes Him-
0290melsgebäude, eines ins andere greifend, ohne Mörtel ver-
0291bunden und gehalten von Gottes Hand. Davon will Nie-
0292mand etwas wissen bis auf Wenige. Vielmehr stören sie
0293dieses Ein- und Ausathmen der Seelen durch Hinzufügung
0294allenfalls auch zu sprechender Worte, wie die Kinder Gottes
0295sich verbanden mit den Töchtern der Erde; daß es hübsch
0296angreife und eingreife in ein schwieliges Gemüth. Herr,“
0297schloß er endlich, halb erschöpft, „die Rede ist dem Menschen
0298nothwendig wie Speise, man sollte aber auch den Trank rein
0299erhalten, der da kommt von Gott.“ Wir kennen diese, hier
0300in die Sprache des armen Spielmannes herabgebeugte An-
0301schauung als Grillparzer’s eigene; oft hören wir ihn selbst
0302in seinen Aphorismen und Tageblättern dieselbe Melodie
0303singen, die er hier einem geringeren Instrumente in den
0304Mund legt.