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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4731. Wien, Samstag, den 27. October 1877

[1]

Hofoperntheater.

(„Sylvia,“ Ballet in drei Abtheilungen von J. Barbier und Mérante. Musik von Leo Delibes.)


0004Ed. H. Sobald es sich um die Wahl einer Ballet-
0005Novität für das Hofoperntheater handelte, durfte die
0006Sylvia“ von Leo Delibes unstreitig den ersten An-
0007spruch erheben. Neben den beiden früheren Balletten dieses
0008liebenswürdigen Componisten, „Coppelia“ und „La source“,
0009übt „Sylvia“ gegenwärtig die größte Anziehungskraft auf
0010das Publicum der Großen Oper in Paris. In Wien war
0011überdies durch „Coppelia“ dem Erfolg der jüngeren „Sylvia“
0012auf das günstigste vorgearbeitet. Die Musik des neuen
0013Ballets steht der „Coppelia“ nicht nach; leider hingegen die
0014Handlung. Die Berufung auf Tasso, dessen berühmtes
0015Schäferspiel „Aminta“ den Grundstoff zur „Sylvia“ lieferte,
0016kann letzterer wenig nützen. Tasso’s „Aminta“ (erschienen
00171572) behandelt in fünf Acten eine gar dürftige Handlung:
0018Ein Hirte, Aminta, rettet die Nymphe Sylvia aus der Ge-
0019walt eines gewaltthätigen Satyrs. Auf der Jagd mit an-
0020deren Nymphen umherstreifend, verwundet Sylvia einen
0021Wolf, flieht vor ihm und verliert ihren blutbefleckten Schleier.
0022Aminta wird dadurch zu dem Wahn veranlaßt, seine Ge-
0023liebte sei von dem Wolfe zerrissen, und stürzt sich von der
0024Spitze eines Felsens. Indessen kommt Sylvia zurück, erzählt,
0025wie sie dem wüthenden Thiere entgangen, erfährt aber nun
0026Aminta’s Tod und will ihm verzweifelnd folgen. Allein Aminta ist
0027nicht gestorben, sondern nur leicht verletzt, und die Liebenden
0028feiern beglückt ihre Vereinigung. Dieses übermäßig einfache Sujet,
0029welches auch bei Tasso einschläfern müßte, hätte dieser nicht
0030den ganzen Blumenflor seiner duftigen Sprache darüber ge-
0031breitet, erscheint in unserem neuen Ballet folgendermaßen
0032umgestaltet und bereichert: Sylvia, eine Lieblingsnymphe
0033der Göttin Diana, ist zugleich das von Ferne angebetete
0034Ideal des armen Schäfers Aminta. Wir sehen sie zu An-
0035fang des Ballets, wie sie, von der Jagd kommend, im
0036Walde Helm und Köcher ablegt, um mit ihrem jungfräu-
0037lichen Gefolge auszuruhen und das gebräuchliche Opern-See-
0038bad zu nehmen. Obwol die Ballet-Hydropathinnen dies
0039immer in voller Toilette, mit Schuhen und Strümpfen
0040thun, sind sie doch jedesmal tödtlich erschrocken, wenn sie
0041einen Sterblichen in der Nähe bemerken. Auch unser ver-
0042liebter Schäfer wird hinter einer Götterstatue entdeckt und
0043fällt, von dem rächenden Pfeil Sylvia’s getroffen, nieder.
0044Sylvia besitzt aber außer diesem blonden auch noch einen
0045schwarzen Verehrer von unbändigem Temperament und
0046äußerst frechen Gewohnheiten, den Jäger Orion. Mit seinen
0047Liebesanträgen zurückgewiesen, packt er die Nymphe einfach
0048auf die Schulter und trägt sie in seine Felsengrotte. Hier
0049seufzt sie als Gefangene des schwarzen Unholds, bis sie ihn
0050endlich durch List unschädlich zu machen weiß. Sie preßt
0051nämlich den Saft aus einigen Weintrauben in eine Schale,
0052credenzt sie dem Orion und sieht ihn bald schwer berauscht
0053umhertoben, endlich niedersinken. In der Regel pflegt süßer
0054Most eine etwas sanftere, nicht gerade nach dem Kopf
0055aufsteigende Wirkung hervorzubringen, wie sich in die-
0056ser Jahreszeit jeder gute Oesterreicher überzeugen kann
0057— im Ballet muß man freilich auch physiologische Wunder
0058gläubig hinnehmen. Genug, das Ungethüm schnarcht in be-
0059sinnungslosem Mostrausch, während Sylvia den Gott Amor 
0060zu Hilfe ruft und von ihm auch richtig aus der Grotte be-
0061freit wird. Derselbe Amor, „das verschmitzte Kind“, erscheint
0062auch (zum Glück nicht auf die entsetzliche Flotow’sche Melodie)
0063als Arzt verkleidet und heilt den angeschossenen Schäfer
0064Aminta, von seiner Wunde nämlich, nicht von seinem Liebes-
0065fieber. Letzteres treibt den Jüngling unverweilt über Berg
0066und Thal, die verschwundene Sylvia zu suchen. Auf dieser
0067Commissionsreise geräth er auch mitten in ein heiteres
0068Bacchusfest. Auch hier erscheint der immer zudringlicher wer-
0069dende Gott Amor, diesmal in der Maske eines Seeräubers
0070(wir hielten ihn für eine alte Krankenwärterin), und läßt
0071seine schönsten Sklavinnen dem Aminta „das Bischen Liebe“ 
0072vortanzen. Allein nur Eine von Allen, dichtverschleiert oben-
0073drein, fesselt durch ihre graziösen Stellungen unsern fein-
0074schmeckerischen Ziegenhirten: es ist Sylvia! Große Ueber-
0075raschung; wer hätte das vermuthet! Ihr nach kommt aber
0076der Mostschwärmer Orion mit geschwungener Hacke ange-
0077sprungen und bedroht sie. Da erscheint die Göttin Diana 
0078auf der Schwelle ihres Tempels, streckt Orion nieder und
0079vereinigt, auf gütliches Zureden Amor’s, die biederen Lie-
0080benden unter Assistenz vieler kleiner Amoretten in einem Meer
0081von farbigem elektrischen Licht.


0082Das ist Alles sehr schön, aber herzlich langweilig; wie
0083die mythologischen Ballet- und Opernstoffe überhaupt. Du
0084guter Gott, was gehen uns die Gottheiten an? Die zärt-
0085lichen Liebespirouetten von Nymphen und Schäferinnen, die
0086begeisterten Bockssprünge unsauberer Faune, diese immer
0087sprungbereite Allmacht Diana’s oder Amor’s — für wen
0088haben sie noch ein dramatisches Interesse? Die Handlung des
0089neuen Ballets bringt keine Wendung, die uns überraschen,
0090rühren oder auch nur amüsiren könnte. Somit bleiben als
0091bewegende Kräfte des Erfolges nur die Ausstattung und die
0092Musik. Erstere hat es in mythologischen Balletten auch nicht
0093so leicht: Schäferinnen und Nymphen gehen bekanntlich
0094äußerst einfach gekleidet und halten sich meistentheils in
0095Wäldern auf — woher Abwechslung und Pracht hernehmen
0096für die Costüme und Decorationen? Da müssen denn allerlei
0097Lückenbüßer aushelfen. Hier ein Tanz äthiopischer Sklaven,
0098dort ein Piratenschiff, ein Bacchusfest etc. Dergleichen Augen-
0099weide unterbricht zwar vorübergehend die Monotonie der
0100geistlosen Handlung, aber retten könnte sie das Ballet
0101Sylvia“ nimmermehr, fände dieses nicht eine so mächtige
0102Unterstützung in der Musik des Herrn Delibes. Sie ge-
0103hört zu dem Vorzüglichsten, was in dieser Gattung ge-
0104schrieben ist. Wir glauben ohne Uebertreibung, daß jeder
0105Musikfreund, nähme er auch keinerle Antheil an der Hand-
0106lung selbst, der „Sylvia“ von Anfang bis zu Ende ohne
0107Langweile, ja mit Vergnügen und Interesse beiwohnen wird.
0108Uns wenigstens ist es so ergangen; der Reiz dieser graziösen, [2]
0109feingezeichneten und mit der höchsten Sauberkeit colorirten Musik
0110ließ uns keinen Augenblick los. Der Geist der „Sylvia“ steckt im
0111Orchester, nicht auf der Bühne. Von der schleuderhaften
0112Praxis der gewöhnlichen Ballet-Compositionen hat sich Delibes 
0113völlig losgemacht, ohne deßhalb die Grundlagen dieser Gat-
0114tung umzuwühlen und das Experiment eines nagelneuen Zu-
0115kunftsballet-Styls probiren zu wollen. Er geht an seine Auf-
0116gabe zunächst als dramatischer Tondichter, als Opern
0117componist, der nebenbei dem Balletwesen Neigung und In-
0118teresse entgegenbringt. Dramatisch im besten Sinne behandelt
0119er alles Scenische und Mimische in der „Sylvia“; Schritt
0120für Schritt folgt die Musik illustrirend den Bewegungen und
0121Affecten der Darsteller, dabei stets bedacht, die formale Ein-
0122heit, die musikalische Entwicklung der Motive möglichst zu
0123wahren. Unscheinbaren Melodien weiß Delibes durch geist-
0124reiche Instrumentirung Glanz und Bedeutung zu geben, öfter
0125wiederkehrenden Motiven leiht er neuen Reiz durch verän-
0126derte, pikante Harmonisirung. Aengstlicher Harmoniker darf
0127man freilich nicht sein; Delibes treibt (wie Bizet und
0128das musikalische junge Frankreich überhaupt) die Vorliebe
0129für grelle Accordfolgen, überraschende Modulationen und
0130„pikante“ Bässe mitunter etwas weit. Auch an schneidenden
0131Querständen fehlt es nicht — zum Glück macht das Alles
0132in Delibes’ Orchestrirung kein so böses Gesicht wie auf dem
0133Papier. Was in einer Ballet-Partitur sehr viel sagen will:
0134wir hören in „Sylvia“ keine musikalischen Rohheiten, weder
0135in der Melodie, noch in der Instrumentirung. Es ist
0136Alles fein und distinguirt, „zu distinguirt“, wird mancher
0137Ballettfreund sagen, und in der That könnten in den eigent-
0138lichen Tänzen einige Strauß’sche Blutstropfen nicht schaden.
0139Sei es, daß jene unmittelbar einschlagende Sinnlichkeit ihm
0140ausweicht oder er ihr — Delibes kann sich jedenfalls rühmen,
0141die Einheit des Styls nirgends zu Gunsten der Drehorgeln
0142oder Militärbanden verletzt zu haben. Unter den schönsten
0143Musikstücken der Partitur ist zuerst der „Langsame Walzer“
0144der Sylvia hervorzuheben, der auch als Entreact wiederkehrt
0145— ein über einzelnen Harfen-Arpeggien sich wiegender gra-
0146ziöser Gesang der Violine und des Waldhorns. Ein leb-
0147hafteres Gegenstück dazu bildet das Divertissement der Sylvia 
0148im letzten Act. Diese Perlenschnur von pizzikirten Sech-
0149zehntel-Figuren der Violinen ist eine getreue Uebersetzung von
0150Sylvia’s Tanzschritten ins Musikalische oder umgekehrt.
0151Musikalisch noch bedeutender ist der Tanz der Jägerinnen
0152im ersten Act mit seinem echt symphonischen Hauptmotiv,
0153einer von vier Hörnern unison geschmetterten Fanfare, der
0154die Pauken antworten. Durch sehr originelle Instrumentirung
0155wirkt der Bauerntanz in C-dur (Flöte und Piccolo in Terzen,
0156über einen dudelsackartig brummenden, von Tambourinschlägen
0157aufgestachelten Baß), durch echt pastorale Lieblichkeit die erste
0158Scene des Schäfers Aminta. Auf interessante, vorzugsweise
0159den Musiker interessirende Einzelheiten können wir hier nicht
0160eingehen; nur eines einzigen geistreichen und stimmungsvollen
0161Zuges wollen wir noch gedenken; des Hornrufs beim Heran-
0162nahen Sylvia’s, der, aus dem Es-dur-Dreiklang nachhallend,
0163unmittelbar nach Des-dur herabgleitet.


0164Im Vergleich mit „Coppelia“ ist „Sylvia“ prächtiger,
0165größer in den Dimensionen und den Ansprüchen, uns bleibt
0166trotzdem jenes kleine niederländische Genrebild sympathischer,
0167als diese „historische Landschaft mit mythologischer Staffage“.
0168Coppelia“ fußt auf einem originellen Grundgedanken, der
0169sich in der Automaten-Scene des zweiten Actes überaus ergötz-
0170lich entwickelt; die ganze Handlung dieses Ballets, ihr
0171„Costüm“ im weitesten Sinn, ist natürlicher, heiterer und
0172treibt auch die Musik zu leichterem und rascherem Fluß an.
0173Hingegen ist von der scenischen Monotonie der „Sylvia“
0174eine gewisse Einförmigkeit der Musik kaum zu trennen. Es
0175kommt darin zu keiner herzhaften, gesunden Fröhlichkeit.
0176Daran ist zur Hälfte, wie gesagt, das Textbuch schuld, zur
0177Hälfte aber die Eigenart von Delibes’ Talent, welches
0178mehr auf feinste Detail-Arbeit als auf packende Wirkung
0179angelegt ist. Möchte der geschätzte Componist sich demnächst
0180einen anregenderen Balletstoff wählen, oder besser: gar keinen
0181mehr, sondern ein heiteres Opern-Libretto. Wer eine komische
0182Oper wie „Le Roi l’a dit“ geschrieben hat, dem darf man 
0183fast das Recht bestreiten, sich anders als ganz vorübergehend
0184dem Ballet zu widmen. In drei Balletten hat Delibes sich
0185als Meister der musikalischen Taubstummensprache bewährt;
0186möge er nunmehr zur lebendigen Rede, zum tönenden Gesang
0187zurückkehren und statt getanzter Götterfabeln uns Lust und
0188Leid wirklicher Menschen schildern in Melodien, zu welchen
0189nicht die Fußspitze, sondern das Herz den Tact schlägt.


0190Das Ballet „Sylvia“ erfreute sich im Hofoperntheater
0191einer vortrefflichen Aufführung und der günstigsten Aufnahme.
0192Aufmerksamer als gewöhnlich lauschte das Publicum der
0193Musik und rief den persönlich anwesenden Componisten nach
0194den Actschlüssen und sogar bei offener Scene hervor. Man-
0195ches reizend componirte und virtuos gespielte Orchesterstück
0196wurde mit einem Beifall ausgezeichnet, in welchen sich
0197Delibes und das (vom Capellmeister Doppler) dirigirte treff-
0198liche Orchester theilen mögen. In der Titelrolle glänzte
0199Fräulein Linda durch Bravour und Grazie des Tanzes;
0200ihre endlosen Fußspitzen-Trillerketten im letzten Act erregten
0201einen gleichfalls endlosen Applaus. Die Herren Frappart 
0202und Price sind als Komiker unsere erklärten Lieblinge; da
0203ist jeder von ihnen ein Talent ersten Ranges, ein Talent, das
0204sich im Zusammenspiel mit dem Andern verdoppelt und ver-
0205dreifacht. In der „Sylvia“ tanzt Frappart die lyrische
0206Tenorpartie des Aminta, Price die tiefe Baßpartie des
0207wilden Orion; Beide ziehen sich mit großer Geschicklichkeit
0208und ohne zu lachen aus dieser ernsthaften Affaire. Auch die
0209Tänzerinnen Fräulein Schläger und Hauffe ernteten
0210großen Beifall nach einem affenbraunen Tricot-Duett, das
0211sie mit ebensoviel Virtuosität als weiblicher Selbstverleugnung
0212durchführten. Die Novität ist mit der ganzen Pracht einer
0213neuen kostbaren Ausstattung in Scene gegangen. Besonders
0214malerisch wirken die Costüme bei dem Bacchusfest im dritten
0215Act, dessen Arrangement, von pompösen Festzug bis zum
0216wilden Tanz sich steigend, die lebendigste und effectvollste
0217Scene des Ballets bildet. Aus diesem Bacchusfest spricht
0218wirklich der Wein und nicht der Most.