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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4742. Wien, Mittwoch, den 7. November 1877

[1]

Oper und Operette.

(„Der Wasserträger.“ — „Der häusliche Krieg.“ — „Tivolini“, von Lecocq)


0003Ed. H. Französische Kritiker haben es Herrn Jauner 
0004als eine besondere Courtoisie ausgelegt, daß er die „Sylvia“
0005von Delibes durch eine classische französische Oper,
0006Cherubini’sWasserträger“, einleiten ließ. Wirklich
0007machte es sich recht nett, wie die anderthalbjährige „Sylvia“
0008von dem siebenundsiebzigjährigen „Wasserträger“, die neueste von
0009der ältesten französischen Oper unseres gegenwärtigen Reper-
0010toires, gleichsam an der Hand hereingeführt wurde. Für die
0011Sylvia ist das eine große Ehre; aber ich glaube, der Vor-
0012theil war auf Seiten des „Wasserträgers“. Seine Anzie-
0013hungskraft allein vermöchte kaum mehr, das neue Opern-
0014haus zwei- bis dreimal zu füllen. Und doch hat dieses Werk
0015die Wiederaufnahme in unser Repertoire aus doppeltem
0016Grunde verdient: zuerst ob seiner musikalischen Vorzüge,
0017dann wegen der meisterhaften Leistung Beck’s in der Titel-
0018rolle. Seltsam genug, daß Cherubini’s populärste Oper weder
0019in ihrem Vaterland, Frankreich, noch in jenem ihres Schöpfers,
0020Italien, gegenwärtig mehr gegeben wird. In Paris spricht
0021man jetzt von der Absicht des Directors Carvalho, den
0022Wasserträger“ wieder für die Opéra Comique zu sceniren,
0023und zwar textlich etwas renovirt von J. Barbier und berei-
0024chert durch drei neue Musikstücke aus Cherubini’s Nachlaß. Bis
0025dahin müssen Franzosen und Italiener nach Deutschland reisen,
0026wenn sie das Meisterwerk ihres gemeinsamen Compatrioten
0027hören wollen. Ein Zeichen, daß die Oper in vielen Stücken
0028gealtert und dem heutigen Publicum fremdartig geworden ist.
0029Die beispiellose Wirkung von Cherubini’s „Wasserträger“ bei
0030seinem Erscheinen (1800) im Théâtre Feydeau ging zum
0031großen Theil von dem Stoff dieser Oper aus. Noch
0032waren damals die Schreckensscenen der Verfolgung aus den
0033Revolutionsjahren bis 1794 Allen in lebendigster Erinnerung.
0034Der Textdichter hatte die Handlung in eine frühere Epoche 
0035(unter Cardinal Mazarin), versetzt, aber fast in jedem Hauses
0036von Paris waren noch kurz vor der Aufführung des „Wasser-
0037träger“, ähnliche Scenen vorgegangen, wie die Aufsuchung
0038und Rettung Armand’s. Rellstab erzählt uns, wie ihm
0039in Paris noch Augenzeugen jener ersten Aufführung (dar-
0040unter der Musikforscher Botté de Toulemont) dieselbe schil-
0041derten: „Hunderte sahen ihre eigene Lage aus nächster
0042Vergangenheit vor sich. Bei der Durchsuchungsscene sah man
0043die Zuschauer erbleichen und zittern. Frauen bekamen Nerven-
0044anfälle. Benachbart Sitzende ergriffen sich bei den Händen
0045und hielten einander krampfhaft fest. Die Macht der
0046Erinnerungen war so erschütternd, daß man lautes Schluchzen
0047hörte." Diese Gewalt der Actualität hat die Handlung des
0048Wasserträger“ seither verloren, aber keineswegs die Wirkung
0049ihrer rührenden und spannenden Scenen auf jedes
0050Gemüth. Die Fehler dieses sogar von Goethe hoch-
0051gepriesenen Librettos springen trotzdem in die Augen: das
0052Uebergewicht des gesprochenen Dialogs, die Einführung
0053vieler singender Nebenpersonen, die sofort wieder vom
0054Schauplatze verschwinden, endlich das Kindische der Gefahren
0055im dritten Acte sammt der urplötzlich vom Himmel fallen-
0056den Rettung. Cherubini’s Musik besitzt hohe und echte Vor-
0057züge. Sie imponirt durch Ernst und Größe in den Ensemble-
0058nummern, durch schlichte Einfachheit in den Strophenliedern,
0059durch ihre dramatische Treue überall. Allerdings erregt sie
0060mehr Respect als Entzücken. Nur selten packt sie uns mit
0061unwiderstehlicher Gewalt; ein kühler Zug von Vornehmheit
0062und akademischer Gemessenheit, oft sogar von Trockenheit
0063wehrt unsere volle, unbedingte Hingebung. Wo die ganze
0064Zuhörerschaft so recht warm wurde, war es fast immer das
0065Verdienst des Herrn Beck, dessen Micheli mit den Jahren
0066noch immer zu wachsen scheint an Treuherzigkeit, Kraft und
0067gemüthvollem Humor. Das ist nicht blos eine gut gesungene
0068Rolle, sondern ein vollendetes Charakterbild, welches sich
0069unvergeßlich einprägt. Die übrigen Leistungen standen nicht
0070auf gleicher Höhe, Graf Armand, der sich das ganze Stück
0071hindurch muß herumstoßen, schieben und verstecken lassen, 
0072ohne auch nun durch ein einiges dankbares Gesangstück ent-
0073schädigt zu werden, ist in Tenoristenkreisen als eine der un-
0074beliebtesten Partien verrufen. Wir können es begreifen, daß
0075Herr Walter nicht mit besonderer Lust daran ging. Die am
0076eigentlichsten brillante Partie der Oper ist die Gräfin Constanze.
0077Frau Kupfer sang die Rolle mit lobenswerthem Eifer,
0078aber mit ihrer Mühe ging das Gelingen nicht Hand in
0079Hand. Seit einiger Zeit verfällt die schöne Frau in ein
0080habituelles Tremoliren und Distoniren, das — vielleicht
0081von Ueberanstrengung herrührend — uns ernstlich besorgt
0082macht für ihre Stimme. Selbst den einfachsten Aufgaben,
0083wie zum Beispiel Helene im „Häuslichen Krieg“, bleibt Frau
0084Kupfer derzeit das nothwendigste Maß von correcter und
0085schöner Tonbildung schuldig. Es würde uns freuen, von
0086„baldiger Besserung“ berichten zu können.


0087Abwechselnd mit dem „Wasserträger“ wird Schubert’s
0088Häuslicher Krieg“ als Beigabe zu dem Ballet
0089Sylvia“ aufgeführt. Das Hofoperntheater spielt den „Häus-
0090lichen Krieg“ jetzt nach einer neuen französischen Bearbei-
0091tung oder Verarbeitung, welche, meines Erachtens, dem
0092Werke zum entschiedenen Nachtheil gereicht. Während bei
0093uns die Redseligkeit des gesprochenen Dialogs in älteren
0094Opern meistens gekürzt wird, zum Vortheil der deutschen
0095Sänger wie des Werkes selbst, unternimmt man plötzlich im
0096Häuslichen Krieg“ das Gegentheil und schiebt nachträglich
0097einen Haufen gesprochener Prosa hinein, vor dem die Hand-
0098lung erlahmt und der Zuhörer erschrickt. Der französische
0099Bearbeiter hat nämlich eine dem Original ganz fremde,
0100auf eine Vorhandlung sich beziehende Intrigue hinein-
0101gedichtet: Helene (eine der Rittersfrauen, die ihre
0102heimkehrenden Gatten erwarten) steht, obwol mit
0103Graf Hugo vermält, noch unter der Vormundschaft
0104ihrer Tante Ludmilla. Es wird uns vorerzählt: „Als vor
0105drei Jahren Gräfin Helene heiratete, die ein Jahr vorher
0106ihre Eltern verloren hatte und vom Grafen Heribert an
0107Kindesstatt angenommen worden war, wurde ausdrücklich be-
0108schlossen, daß diese Ehe nicht eher für giltig erklärt werden [2]
0109solle, als bis Helene ihr zwanzigstes Jahr erreicht haben
0110würde.“ Welcher Unsinn! In ähnlichem Bandwurmstyle
0111wird dann abgewickelt, daß der junge Ehemann Hugo um
0112jeden Preis diesem Zustande ein Ende machen wolle; sein
0113Knappe Udolin meint, der Vormund Graf Heribert sei da-
0114mit einverstanden, die Zofe aber entgegnet, die Gräfin Lud-
0115milla werden sich gewiß dagegen wehren — darüber halten
0116die beiden Domestiken ein langes, albernes Gespräch. Gräfin
0117Ludmilla erörtert dann mit Helenen dasselbe, höchst uninter-
0118essante Verhältniß und schließt mit der Versicherung, sie
0119werde es sich nie verzeihen, ihre Einwilligung zu dieser Heirat
0120gegeben zu haben. (Warum? weiß kein Mensch.) Endlich
0121haben noch die beiden Damen ihr Gespräch mit Udolin. Die
0122Gräfin ist überzeugt, „daß Helenens Gemal nicht wagen
0123werde, hieher zu kommen!“ Udolin aber will Helenen auf
0124das Schloß ihres Gatten bringen, und um sie dafür zu
0125stimmen, bittet er sie um ein Rendezvous. Von allen diesen
0126abgeschmackten, langweiligen und unnützen Dialogen weiß das
0127Schubert’sche Original kein Wort. Ob man diese Zuthaten für eine
0128Verbesserung ansehen wolle, mag Geschmacksache sein; aber was
0129jetzt folgt, ist geradezu ein Attentat auf Schubert’s Werk.
0130In diesem ist die Exposition ganz einfach und für alle Paare
0131völlig gleich; die heimkehrenden Ritter sehnen sich nach ihren
0132Frauen, zwingen sich aber zu kalter Zurückhaltung gegen die-
0133selben, weil die Frauen das gleiche Manöver auszuführen
0134gelobt haben. Das ältere Ehepaar, Ludmilla und Heribert,
0135weiß sich in seinem Zwiegespräch zu beherrschen — ein in den
0136feinsten humoristischen Lichtern spielendes Duett. Als wirk-
0137sames Gegenstück dazu bringt nun Schubert das Zusammen-
0138treffen des jungen Ehepaares, Helene und Hugo; zuerst spricht
0139jedes allein die Sehnsucht nach dem Andern aus, als sie
0140aber dann in dem dunklen Saale aufeinanderstoßen, durch-
0141bricht die Empfindung unaufhaltsam die Schranken des er-
0142zwungenen Eides, und Beide liegen sich in den Armen. Wer
0143hätte nicht am Schlusse dieses Duetts den so köstlich auf-
0144jubelnden Naturlaut, eine Art idealen „Juchezers“, bewun-
0145dert, welchen die beiden Glücklichen in Terzen anstimmen! 
0146Was hat nun der französische Bearbeiter und, ihm nach,
0147unsere Hofopern-Direction daraus gemacht? Statt des Grafen
0148Hugo erscheint und seufzt der Knappe Udolin, Helene 
0149aber singt das Liebesduett, diesen Jubel glücklichen Wieder-
0150findens, statt mit ihrem Gatten mit — dessen Reitknecht!
0151Man sollte eine solche Barbarei kaum für möglich
0152halten, und doch wird sie hier, ohne Noth, verübt,
0153und das Publicum, wahrscheinlich in vollständiger Unklarheit
0154über den confusen neuen Text, läßt sich’s gefallen.
0155Würde der deutsche Textdichter selbst die Scene so geschrie-
0156ben haben, ich glaube, Schubert hätte sie gewiß geändert,
0157denn sein künstlerischer Instinct mußte ihm sagen, daß hier
0158nur ein Duett zwischen den beiden jungen Ehegatten möglich
0159sei; er componirte ein Duett der Liebe, nicht der Intrigue.
0160Und nun sehen wir in Schubert’s Vaterstadt die erste deutsche
0161Opernbühne, nachdem sie den „Häuslichen Krieg“ jahrelang
0162wortgetreu aufgeführt, nachträglich eine französische Bearbei-
0163tung dafür ausgeben, welche in ihrer Willkür und Geschmack-
0164losigkeit dicht an die Parodie streift. Statt Schubert’s 
0165Intentionen die eines Pariser Theater-Secretärs adoptiren,
0166heißt, wie Gräfin Helene, den Bedienten für den Herrn neh-
0167men. Der französische Bearbeiter hatte für seine ästhetische
0168Missethat nur den einzigen praktischen Grund, daß er mit
0169einem Tenoristen für zwei Tenorpartien auslangen wollte
0170und deßhalb die Rollen Hugo’s und Udolin’s eigenmächtig
0171zusammenschmolz. Für ein lyrisches Theater dritten Ranges
0172mag das eine Entschuldigung sein, für das Hofoperntheater,
0173welches bis 1877 beide Tenorpartien gut zu besetzen wußte,
0174gewiß nicht. Vielleicht fällt es einmal dem Director eines
0175tenorarmen Theaters ein, das große Duett in „Fidelio“ so
0176zu arrangiren, daß Leonore es statt mit Florestan mit Jacquino 
0177singt, der sie mit der Nachricht überrascht, ihr Gatte sei
0178amnestirt.


0179Im Carl-Theater gibt man gegenwärtig mit bestem
0180Erfolge eine neue dreiactige Operette von Charles Lecocq,
0181Tivolini, der Bandit von Palermo“, im Original „Le
0182Pompon“ („Der Federbusch“) geheißen. Der immense Erfolg 
0183von „Madame Angot“ hat den von allen Theater-Director
0184bestürmten Componisten verleitet, seiner Arbeitskraft mehr
0185abzuringen oder doch in kürzeren Zeiträumen, als sein mu-
0186sikalisches Vermögen gestattet. Kein späteres Werk von Lecocq 
0187vermochte die Frische der „Angot“ wieder zu erreichen, frei-
0188lich war auch kein zweites von einem so glücklich erfundenen
0189und geschickt geführten Libretto unterstützt. An Fleiß und
0190Sorgfalt der Ausarbeitung hat es Lecocq in seinen späteren
0191Operetten nicht fehlen lassen; auch „Tivolini“ empfiehlt sich
0192durch anständige Haltung und graziöse Ausführung. Lecocq’s
0193lobenswerthes Streben nach Verfeinerung der Operette und
0194Erhebung derselben auf ein höheres künstlerisches Niveau
0195führt ihn nahe, vielleicht zu nahe an die eigentliche Opera
0196comique. Die kleine possenhafte Handlung des „Tivolini“
0197überfüllt er mit Musik. Das Inhaltsverzeichniß dieser
0198Operette enthält neunzehn musikalische Scenen, von denen
0199manche drei bis vier Musikstücke umfaßt, im Ganzen also [???]
0200dreißig Nummern. Das ist viel zu viel für eine komische
0201Operette, in welcher wir der Musik ein so großes Vorrecht
0202vor der Handlung und dem amüsanten Dialog nicht gern
0203eingeräumt sehen. Unter diesen vielen Musikstücken ist kaum
0204eines von entschiedener Originalität, von durchschlagender Wir-
0205kung, aber manches Gefällige, Heitere und Graziöse. Wir heben
0206die ersten Couplets Piccolo’s in G-dur, den Chor: „Il a
0207le pompon, le pompon“ im ersten Finale, Fioretta’s Ro-
0208manze im zweiten Act: „Une voix“, endlich die hauptsäch-
0209lich durch die Darstellung wirkende) Gerichtsscene hervor.
0210Die drolligste und am meisten applaudirte Nummer, das
0211Buffo-Terzett: „Durchgebrannt“, ist von der Composition
0212des Capellmeisters Brandl. Die neue Operette erfreut sich
0213im Carl-Theater einer vortrefflichen Aufführung. Knaack 
0214und Blasel sorgen auf’s beste für die Lachlustigen, Fräu-
0215lein Meyerhoff und Herr Rüdinger für die Freunde
0216graziösen Gesanges. Der Tenorist Herr Rüdinger hat uns
0217durch seinen geschmackvollen Vortrag, namentlich im ersten
0218Act, auf das angenehmste überrascht; im Verlaufe des
0219Abends mußte er leider seine angenehme kleine Stimme [???] [3]
0220ciren. Jedenfalls bedeutet er für die feineren Gesangsauf-
0221gaben des Carl-Theaters einen werthvollen Gewinn.


0222Mit der Anerkennung der anständigen Haltung und
0223einiger hübscher Nummern ist wol dem Verdienst von „Le
0224Pompon“ genug gethan; die Wichtigkeit und Erbauung, womit
0225einige Pariser Journale diese Novität besprochen haben, ver-
0226dient sie nicht. In Frankreich rührt sich eine journalistische
0227Partei, die ihren Helden Lecocq auf Kosten Offenbach’s 
0228zu den Wolken erheben möchte. An Ursprünglichkeit und
0229Frische des Talents, an melodiösem Reichthum und rhythmi-
0230schem Esprit kann sich aber Lecocq mit Offenbach gar nicht
0231messen. Vollends Offenbach’s ungemeine Begabung für mu-
0232sikalische Komik findet sich bei Lecocq nur in der hundertsten
0233Verdünnung. Offenbach hat sich stark wiederholt, sehr
0234abgeschwächt; aber selbst in seinen späteren unschein-
0235baren Operetten, wie „Margot“ („La Boulangère“), „Ma-
0236dame l’Archiduc“ etc. bringt er immer noch musika-
0237lische Aperçus, welche Lecocq nie eingefallen wären,
0238komische Scenen, die Lecocq nimmermehr zuwege brächte.
0239Offenbach hat jedenfalls seinen originellen Styl, sein
0240„cachet“, man erkennt ihn sofort, in seinen eigenen Ope-
0241retten wie in denen — Anderer. Lecocq verdankt sein von
0242ihm so erfolgreich gepflegtes Genre doch dem Vorgang
0243Offenbach’s, wie er ihm auch den Anfang seiner Carrière
0244verdankt. Als Gründer der „Bouffes parisiens“ hatte
0245nämlich Offenbach eine Concurrenz ausgeschrieben für die
0246beste Composition einer einactigen Operette „Doctor Mira-
0247bolan“. Nicht weniger als 68 Componisten betheiligten sich
0248daran — ein erstaunliches Zeichen für die musikalische
0249Fruchtbarkeit in Frankreich! Den Preis erhielten gemein-
0250sam Georges Bizet (der Componist von „Carmen“) und
0251Lecocq. Abwechselnd wurde „Mirabolan“ mit der Musik
0252von Bizet und am folgenden Abend mit jener von Lecocq 
0253gegeben — keine jedoch mit sonderlichem Erfolg. Seither
0254(1857) ist Lecocq mit zahlreichen Operetten erschienen, von
0255denen aber nur „Fleur de thé“ (als „Theeblüthe“ im
0256Theater an der Wien gegeben) lebhafter ansprach. Ein großer
0257Erfolg wurde erst Lecocq’s „Hundert Jungfrauen“ zu Theil 
0258(1872), und der allergrößte seiner unmittelbar darauf com-
0259ponirten „Madame Angot“, welche in Paris über vier-
0260hundert Vorstellungen nacheinander erlebt hat. Wenn Lecocq 
0261an Originalität und Verve der Erfindung Offenbach ent-
0262schieden nachsteht, so hat er doch wieder Eines vor ihm
0263voraus: die reicheren Hilfsmittel, die seine musikalische Bil-
0264dung ihm gewährt. Lecocq ist ein gründlich geschulter
0265Musiker; hat er doch seinerzeit am Conservatorium den
0266ersten Preis in der Composition und einen zweiten im
0267Orgelspiel davongetragen. Eine so systematische Schulung
0268konnte Offenbach, der aus der Noth ums tägliche Brot un-
0269mittelbar in die glänzendsten Erfolge und die aufreibendste
0270Thätigkeit geworfen wurde, nicht durchmachen. Eine Probe
0271von musikalischer Erudition, wie sie wenige Operetten-Com-
0272ponisten aufweisen dürften, hat Lecocq soeben in seiner
0273Herausgabe von Rameau’s berühmter Oper „Castor und
0274Pollux“ geliefert. Rameau, dem man kürzlich ein Denkmal
0275in seiner Vaterstadt Dijon gesetzt hat, war der erste Fran-
0276zose, der, das Werk des Italieners Lully weit fortführend,
0277epochemachend geworden ist für die Geschichte der französi-
0278schen Großen Oper. Durch sein bahnbrechendes Harmonie-
0279system, durch seine Opern, endlich durch seinen bedeutenden
0280Einfluß auf Gluck’s Styl, ist Rameau für jeden Musiker
0281von großer Bedeutung. Um so schwerer empfindet man die
0282Unzugänglichkeit seiner Partituren. Selbst von seiner be-
0283rühmtesten und vollkommensten Oper „Castor und Pollux“
0284(1737) existirt eine einzige gestochene Partitur-Ausgabe, die
0285bereits zu den großen Seltenheiten gehört. Die geschriebenen
0286Partituren weichen vielfach von einander ab; Clavierauszüge
0287gibt es gar keine. Lecocq hat nun die Mußestunden meh-
0288rerer Jahre darauf verwendet, einen getreuen, vollständigen
0289Clavierauszug mit Text von „Castor und Pollux“ zu bear-
0290beiten, der soeben in schöner und bequemer Ausgabe bei
0291Legouix in Paris erschienen ist. Auch außerhalb Frankreichs
0292wird man diese gewissenhafte Arbeit freudig begrüßen, die
0293zwar schwerlich die Verbreitung der „Madame Angot“ er-
0294leben dürfte, aber in ihrer Art Herrn Lecocq nicht geringere
0295Ehre macht.