Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8905. Wien, Sonntag, den 9. Juni 1889
[1]„Was denken Sie von Wagner?“
Karlsbad, im Juni 1889.
[1]
0003Ed. H. Es gibt kaum eine unpassende Zeit, einen
0004abenteuerlichen Ort, wo mir die verwünschte Frage nicht schon
0005auf die Brust gesetzt worden. Beim Diner (womöglich noch
0006vor der Suppe), während der Quadrille (besonders beliebt),
0007zwischen zwei Sätzen einer Symphonie, im Dampfbad unter
0008der Douche, im Bahnhofe nach dem zweiten Läuten, bei Taufen
0009und Begräbnissen. Hier in Karlsbad kann man noch etwas Neues
0010dazu erleben: daß uns um 6 Uhr Morgens beim Brunnen
0011die Wagner-Parole abgefragt wird. Rasch treten wir zwei
0012Schritte zurück, vor der Frage sowol, als vor der Versuchung,
0013der neugierigen Elsa den Becher mit heißem Sprudelwasser
0014aus der Hand zu schlagen. „Was denken Sie von Wagner?“
0015Als ob es darauf eine Antwort gäbe zwischen Lipp’ und
0016Bechersrand. Nur ein Narr oder geschworener Parteimann
0017liefert sie fertig mit zwei Worten: „Ich vergöttere Wagner!“
0018oder: „Ich verabscheue ihn!“ Ein geistreicher Kopf, Friedrich
0019Nietzsche, hat sogar Beides geleistet; noch vor zehn Jahren
0020in Anbetung vor dem „neuen Heiland“ versunken, entdeckt er
0021jetzt mit dem Scharfblicke des Hasses in Wagner den Ver-
0022derber unserer Jugend, unserer Kunst.
0023„Wie denken Sie über Wagner?“ Die unvermeidliche
0024Frage ist auch an den Director des Hofoperntheaters, Herrn
0025Wilhelm Jahn, herangetreten, und er hat sie in der „Schönen
0026blauen Donau“ mit jener Ruhe und Sicherheit beantwortet,
0027die seiner ganzen Personlichkeit so sympathisch entströmt. Er
0028erwidert vorerst vom Standpunkte des Theater-Directors, der
0029als solcher keiner Partei angehören, keine Gattung oder Nation
0030zurücksetzen darf, vielmehr neben Wagner auch Mozart, Rossini,
0031Meyerbeer cultiviren muß. Wie Wilhelm Tell, so liebt auch
0032Wilhelm Jahn mit gleicher Liebe alle seine Kinder. Nie-
0033mand wird von einem einsichtsvollen Bühnenleiter anderen
0034Bescheid erwartet haben. Aber Jahn ist doch als Musiker,
0035als Künstler eine zu bedeutende Persönlichkeit, um die Welt
0036mit der Erklärung zu befriedigen, was er als Director
0037für seine Pflicht erachte. Man wollte ja tiefer graben und die
0038eigenste Ueberzeugung des Mannes herausholen. Also noch ein-
0039mal: „Wie denken Sie über Wagner?“ Jahn geht der voraus-
0040gefühlten Verschärfung der Frage nicht aus dem Wege. Er
0041genieße die Schönheiten von Wagner’s Opern, „welche zu
0042den genialsten Schöpfungen der dramatischen Musik aller
0043Zeiten gehören“, ohne daß seine Bewunderung für Mozart
0044und Rossini oder sein Interesse für die bescheidenen Gaben
0045jüngerer Talente sich im entferntesten verringert haben. An
0046Worten der Bewunderung für Wagner läßt es Jahn auch
0047weiterhin nicht fehlen. Wenn ich richtig höre, so klingen sie
0048mehr nach dem Verstande als nach dem Herzen. Jahn zählt,
0049wie seine Freunde wissen, nicht zu den Wagnerianern. Dazu
0050ist er eine zu eminent musikalische Natur und zu gut musi-
0051kalisch erzogen. Man argwöhnt, daß es ihm kein außerordent-
0052liches Vergnügen macht, Tristan, Siegfried oder die Götter-
0053dämmerung von Anfang bis zu Ende anzuhören. Wer möchte
0054leugnen, daß der Eiffelthurm etwas Neues, Großes und
0055Ingeniöses ist? Darum werden wir ihn noch dem Kölner
0056Dom oder der Stephanskirche nicht vorziehen. Gegenstand
0057ungeheuchelter Bewunderung, ist er uns nicht nothwendiger-
0058weise ein Herzensbedürfniß und Seelentrost.
0059Auf das speciell Musikalische, die unendliche Melodie
0060u. dgl. läßt Jahn sich nicht ein und begnügt sich, darauf
0061hinzuweisen, daß Wagner „die ästhetischen Principien seiner
0062Kunst in seinem Werke „Das Kunstwerk der Zukunft“ auf
0063das überzeugendste dargelegt hat“. Zu dem Worte „über-
0064zeugendste“ möchte ich mir ein Fragezeichen erlauben; über-
0065zeugend ist das Buch für den Wagnerianer, für Wilhelm
0066Jahn gewiß nicht — nicht einmal für Wagner selbst, der
0067in seinen Compositionen vielfach abwich von seinen theoreti-
0068schen Sätzen. Mit Recht betont Jahn die scenischen Fort-
0069schritte, welche wir Wagner verdanken. Auch „daß der Text [3]
0070nicht mehr als nebensächliche Unterlage für die Compo-
0071sition, sondern mit dieser geistig und charakteristisch amal-
0072gamirt erscheint“, ist zum großen Theile Wagner’s Ver-
0073dienst. Nur die Behauptung, es sei erst durch Wagner
0074der Darstellung endlich ihr gutes Recht geworden“,
0075bedarf, meines Dafürhaltens, einer Einschränkung. Die be-
0076deutendsten Vorgänger Wagner’s haben bereits den Sängern
0077große schauspielerische Aufgaben gestellt, mitunter psychologisch
0078viel bedeutendere; nur wollten sie darüber die gesangliche
0079Leistung nicht als nebensächlich behandelt wissen. Man kann
0080bei Wagner selbst nachlesen, was für bewunderungswürdig
0081dramatische Gestalten die Schröder-Devrient in
0082älteren Opern geschaffen. Und neben ihr kennt die Geschichte
0083eine Elite deutscher und französischer Künstler, welche die
0084großen dramatischen Aufgaben in den Opern Don Juan,
0085Fidelio, Euryanthe, Vestalin, Cortez, Hugenotten u. s. w.
0086so tief erfaßt und glänzend gelöst haben, wie nur heute die
0087speciellsten Wagnersänger.
0088Das einzige Bedenken, das Jahn gegen Wagner erhebt
0089und vom Standpunkt des Theater-Directors stark be-
0090tont, ist sein nachtheiliger Einfluß auf die Gesangs-
0091kunst. Daß die Vorherrschaft der Wagner’schen Opern,
0092des Wagnerstyls und der Wagner’schen Orchestrirung den
0093vorzeitigen Ruin der Stimmen und den Niedergang der
0094Gesangskunst verschulde, leugnet heute kein Zurechnungs-
0095fähiger mehr. Jahn schreibt: „Den Löwenantheil am Re-
0096pertoire jeder größeren deutschen Bühne nehmen seit geraumer
0097Zeit die Musikdramen Wagner’s in Anspruch. Ihnen muß
0098also das Ensemble zuvörderst angepaßt werden. Da der vor-
0099wiegend declamatorische Vortrag der Wagner’schen
0100Rollen weniger auf den bel canto, als auf ausdauernde,
0101große Organe reflectirt, so muß bei den meisten Engagements
0102nächst der Rücksicht auf Erscheinung und Darstellung das
0103Stimm-Material den Ausschlag geben. Die technische Aus-
0104bildung steht in zweiter Linie. So kommt es, daß viele
0105Künstler und Künstlerinnen, die kaum das ABC der Ge-
0106sangskunst absolvirt haben, zu ersten, vielbeneideten Stellun-
0107gen gelangen, und diese bösen Beispiele verderben die guten
0108Sitten des Nachwuchses in dem Sinne, daß es bald Niemand
0109mehr für nöthig hält, sich eine tadellose Stimmbildung und
0110solide Technik anzueignen. Damit erscheint der Untergang des
0111eigentlichen Kunstgesanges besiegelt.“
0112Als einmal der englische Musikkritiker Chorley die
0113Befürchtung aussprach, es werde bald Niemand mehr Mozart
0114singen können, entgegnete ihm ein deutscher Zukünftler: „Was
0115thut das? Man hat ja Mozart lange genug gesungen!“
0116Jahn zählt nicht zu diesen Rittern vom überwundenen
0117Standpunkt; er möchte die Mozartsänger auch heute noch
0118nicht aussterben sehen. „Es muß etwas geschehen,“ sagte er,
0119„um diesen Verfall aufzuhalten, wenn uns nicht nach und
0120nach Mozart, Rossini, Meyerbeer, ja selbst
0121Weber und Beethoven auf der Bühne verloren gehen
0122sollen. Es gilt, diese Schätze für das deutsche Publicum zu
0123retten, bevor es zu spät wird.“ Die Möglichkeit dieser Ret-
0124tung erblickt Jahn in der Errichtung eines zweiten
0125Opernhauses, „in welchem ausschließlich die
0126Musikdramen Wagner’s und Werke gleichen
0127Styls zur Aufführung gelangen“, während das andere
0128allen übrigen Opern gehören sollte, „welche den Kunstgesang
0129zur Voraussetzung haben“.
0130Der Vorschlag Jahn’s ist neu, seltsam, vielleicht geist-
0131reich — überzeugend kann ich ihn nicht finden. Würde Jahn
0132die Errichtung einer eigenen „Opéra comique“ neben der
0133„Großen Oper“ empfehlen, man müßte unbedingt beistimmen.
0134Mit den schönsten Hoffnungen haben wir vor sechzehn Jahren
0135die Gründung der „Komischen Oper“ auf dem Schotten-
0136ring begrüßt, mit Trauer ihren schnellen Untergang erlebt.
0137Wien hat den Ruhm, unter allen deutschen Hauptädten zuerst
0138eine eigene Pflegestätte für das musikalische Lustspiel, die
0139idyllische, bürgerliche und lyrisch-romantische Oper zu be-
0140sitzen, nicht lange genossen. Wenn ich für den Bestand einer
0141eigenen „Komischen Oper“ neben der „Großen“ spreche, so
0142brauche ich diese Namen in ihrer allgemein üblichen Bedeu-
0143tung, ohne zu übersehen, daß diese von den Franzosen her-
0144übergenommene Eintheilung falsch und unlogisch ist. Der
0145Gegensatz von groß ist nicht „komisch“, sondern „klein“,
0146der Gegensatz von komisch nicht „groß“, sondern „ernsthaft“
0147oder „tragisch“. Unsere Classificirung der Opern ist unlogisch,
0148weil sie statt Eines Eintheilungsgrundes deren zwei ver-
0149wendet; für den Begriff „Große Oper“ die Form, für
0150„Komische Oper“ den Inhalt. Sind die „Meistersinger“
0151eine große Oper oder eine komische? Eine „große“ durch
0152ihre Form, eine „komische“ dem Inhalt nach. Nur die
0153Italiener verfahren logisch, indem sie eine Opera seria
0154(oder tragedia lirica), semiseria und buffa
0155unterscheiden, was der Eintheilung des recitirenden Dramas
0156in Trauerspiel, Schauspiel und Lustspiel entspricht. Es ist
0157nicht die einzige Confusion, die daraus entspringt, daß unsere
0158musikalische Aesthetik ihre Begriffsbestimmungen abwechselnd
0159vom Inhalt und von der Form, bald von der Musik, bald
0160vom Text hernimmt. Die Classificirung und Benennung der
0161Opern zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Nationen
0162bietet ergiebigen Stoff für eine eigene Studie, die ich mir
0163für ein andermal vorbehalten möchte; hier hat uns nur der
0164Vorschlag Jahn’s zu beschäftigen.
0165Er beantragt, wie gesagt, die Errichtung von zweierlei
0166Opern-Instituten, von denen das zweite keineswegs für die
0167„Komische Oper“ im weiteren Sinne, sondern ausschließlich
0168für die Werke Wagner’s und seiner Schule bestimmt wäre.
0169Wie ich das Project auffasse, so scheint es mir weniger die
0170Rettung der bedrohten Gesangskunst, als vielmehr deren
0171weiteren Niedergang zu versprechen. Was würde die Folge
0172sein, wenn Jahn (sei es in einem eigenen oder vorläufig in
0173demselben Opernhause) eine zweite Künstlergesellschaft blos
0174für Wagner’sche Musik engagirte? Daß diese diplomirten
0175Wagnersänger die einzige jetzt noch vorhandene Nöthigung
0176oder Aneiferung verlören, ihre Gesangskunst zu cultiviren.
0177Gegenwärtig müssen unsere Heldentenore neben Tristan,
0178Sigmund, Siegfried doch auch den Florestan, Adolar, Ar-
0179nold, Raoul, Masaniello singen; unsere Brunhilden auch als
0180Donna Anna, Leonore, Valentine, Selica auftreten. Diese
0181Aufgaben nöthigen sie, ihre Gesangstechnik nicht völlig ein-
0182rosten zu lassen, ihre Stimme biegsam zu erhalten, das Ge-
0183hör für Klangschönheit und weiche Tonverbindung zu schärfen.
0184Schließt man die Wagnersänger grundsätzlich von allen
0185anderen Partien aus, so dürften bald bloße Declamatoren
0186und Ausrufer aus ihnen geworden sein. Es gliche dies einer
0187förmlichen Prämie auf das Nicht-singen-können oder Nicht-
0188singen-wollen. Der factische Zustand mangelhafter Gesangs-
0189bildung würde zu einem rechtlichen erhoben und gleichsam
0190privilegirt. Gegenwärtig sind wir noch nicht so schlimm
0191daran; die namhaftesten unserer Wagnersänger — Nie-
0192mann, Vogl, Winkelmann, die Materna, die
0193Brandt — hatten sich in den genannten vorwagnerischen Rollen
0194ausgezeichnet, bevor Bayreuth sich aufthat und sie in den eigent-
0195lichen Wagnerstyl (Tristan, die Nibelungen) hineinwuchsen. Die [4]
0196früher für andere Aufgaben erworbene Gesangstechnik ist ihnen als
0197werthvolles Kapital verblieben, das zwar durch den neuen
0198Gesangsstyl angegriffen werden, aber nie ganz verloren gehen kann.
0199Die jüngste Generation hingegen, die jetzt flügge werdenden
0200Sänger und Sängerinnen, welche gleich auf Wagner und
0201nur auf Wagner hinarbeiten, sie erst werden den Ruin der
0202Gesangskunst vollends ans Licht bringen. Jahn denkt freilich,
0203durch das projectirte zweite Theater die Gesangskunst in dem
0204ersten, gleichsam mittelst Ausscheidung des Wagnerstyls, zu
0205retten. Aber es scheint mir eher das Gegentheil zu befürch-
0206ten. Die jetzt herrschende Strömung dürfte die angehenden
0207Sänger überwiegend zu dem neuen, dem Wagner-Theater,
0208treiben, wo größere Erfolge und Gagen gegen ein Minimum
0209von Gesangskunst geboten wären. Neben ihnen müßten sich
0210die Mozart-, Beethoven-, Weber- und Meyerbeer-Sänger
0211als Mitglieder zweiter Classe fühlen. Ganz gegen Jahn’s
0212Wunsch würde die Zahl der Gesangskünstler allmälig immer
0213kleiner, die der Wagnersänger immer größer werden.
0214Aber noch eine schlimmere Folge lauert in Jahn’s
0215Project. Dasselbe würde nicht blos die naturalistischen Sän-
0216ger patronisiren, sondern auch die impotenten Tondichter.
0217Neben Wagner’s Werken, die ja ein ständiges Repertoire
0218nicht ausfüllen, sollen Opern „gleichen Styls“ dort cultivirt
0219werden. Was sind das für Opern? Verdi’s Othello und
0220Goldmark’s Merlin ließen sich doch nur sehr gewaltthätig
0221und gegen den lauten Einspruch der Autoren in diese Kate-
0222gorie zwängen. Dann bleiben blos die trostlosen Wagner-
0223Copien einer Handvoll ehrgeiziger Jünglinge, die sich jetzt nur
0224ausnahmsweise irgend einer kleinen Bühne bemächtigen.
0225Diese herumbettelnden „Musikdramen“ erhielten nun durch
0226Jahn’s Fürsorge ein Asyl, nein, einen eigenen Palast, in
0227dem sie als Herren ihr Wesen treiben und sich fröhlich ver-
0228mehren könnten. Wagner übt eine dämonische Anziehungs-
0229kraft auf junge Opernsänger und Componisten. Auf Beide
0230in umgekehrter Richtung. Wagnersänger wird, wer sich
0231starker Naturgaben bewußt ist und technische Meisterschaft als
0232überflüssig geringschätzt; zum Wagner-Componisten hingegen
0233fühlt sich berufen, wer der starken ursprünglichen Begabung
0234entbehrt und sie durch raffinirte technische Künsteleien zu
0235ersetzen meint. Es ist eine bedauerliche Wirkung Wagner’s,
0236daß er Tonsetzern ohne musikalisch schöpferische Kraft es er-
0237möglicht hat, in seinem Styl „Musikdramen“ zu fabriciren.
0238Wagner selbst trifft nicht die Verantwortung. Für sein
0239starkes, eigenartiges, complicirtes Talent schuf er sich eine
0240Methode, welche nach ihrer Natur und Wirkung der Gene-
0241ralisirung widerstrebt, eine höchst persönliche immer bleiben
0242wird. Er ist auch erst allmälig dazu gelangt. Von den jungen
0243Wagnerianern, die gleich im Nibelungen-Styl zu lallen beginnen,
0244ist schwerlich Einer im Stande, ein selbstständiges Tonstück,
0245wie der Matrosen- oder der Mädchenchor aus dem „Hol-
0246länder“ oder das Männer-Sextett aus dem ersten Act des
0247„Tannhäuser“, zu machen. Aber was thut das? Wem auch
0248nicht eine reizvolle Melodie von acht Tacten einfallen will,
0249der vermag doch ein Dutzend winziger Leitmotive zu ergrübeln,
0250welche, im Orchester hin- und hergewendet, gerüttelt, gemischt,
0251bald hell, bald dunkel gefärbt, die Musik, das heißt die
0252„Stimmung“ machen, während oben die Sänger als Aus-
0253rufer der Handlung fungiren. Mit einiger Intelligenz („ge-
0254bildet“ sind sie ja Alle), mit Nachahmungstalent und Orchestra-
0255tionswitz kann man heute an der Hand der Wagner’schen
0256Methode sich der Opern-Composition widmen, wie irgend
0257einem andern Beruf, der kein Genie voraussetzt. Man wird
0258Musikdramenmacher wie man zum Beispiel Apotheker wird.
0259Ein Bayreuther Sonntagskind braut da wol nach Wagner’s
0260Recepten aus hundert bereit stehenden Ingredienzen ein
0261„Kunstwerk“, das es für seine Erfindung hält. Ich möchte
0262aus diesen Apotheken nicht gelabt sein, und ich wette, Meister
0263Jahn ebensowenig.
0264Man sieht, Director Jahn hat die Schicksalsfrage, der
0265kein Sterblicher entgeht, aus neuen und vielseitigen Gesichts-
0266punkten beantwortet. Seine Ausführung interessirt nicht
0267blos, wo sie unsere Zustimmung, auch wo sie unsere
0268Zweifel hervorruft. Sie wirkt aufklärend, anregend — leider
0269auch aufreizend gegen die Karlsbader Disciplin, welche dem
0270Curgast streng verbietet, über etwas nachzudenken. Es läßt
0271sich eben nicht Alles verbieten, sonst müßte es eigentlich auch
0272untersagt sein, mit einer Wagner-Discussion den strahlenden
0273Morgen des Pfingstsonntags zu begrüßen. Ein Krankheits-
0274symptom der Zeit, in deren Bann wir Alle stehen. Ich
0275glaube, wenn heute der heilige Geist in Taubengestalt sich
0276auf die zwölf Apostel niedersenkte, er würde es mit den
0277Worten thun: Meine Herren, was denken Sie von Wagner?