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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8978. Wien, Freitag, den 23. August 1889

[1]

Méhul.


0002Ed. H. Wenn man die einförmig düstere Gebirgsland-
0003schaft der französischen Ardennen durchstreift, so gelangt man
0004immer dem Laufe der Maas folgend, zu dem Städtchen
0005Givet, hart an der belgischen Grenze. Ein kleiner, reinlicher
0006Ort, der als vorgeschobener Wachposten Frankreichs von der
0007unnahbar steilen Festung Charlemont geschützt und vertheidigt
0008ist. Mitten auf dem Marktplatz erhebt sich auf bescheidenem
0009Sockel eine Marmorbüste mit der Inschrift: Etienne
0010Nicolas Méhul
. Das Monument ist durch Subscription
0011errichtet und im Juni 1842, fünfundzwanzig Jahre nach
0012Méhul’s Tode, enthüllt worden. Bei dieser Feierlichkeit er-
0013schienen blos belgische Musikvereine; keine einzige französische
0014Deputation hatte sich eingefunden, um dem großen Compo-
0015nisten von „Joseph und seine Brüder“ zu huldigen. Die
0016Pariser Opéra Comique, welche diesem Meister durch ein
0017volles Vierteljahrhundert ihre größten Erfolge verdankte,
0018hatte seine Werke längst der Vergessenheit geweiht, ja sogar
0019eine Benefice-Vorstellung für das zu errichtende Denkmal
0020rundweg verweigert. So gehört denn die Méhul-Büste zu
0021jenen traurigen Monumenten, mit denen eine Nation sich
0022gleichsam von der Verpflichtung loskauft, den Genius des in
0023Marmor Verewigten lebendig zu erhalten. Die gänzliche
0024Verschollenheit Méhul’s in seinem Vaterlande ist eine be-
0025trübende Thatsache. In Deutschland lebt der französische
0026Meister durch seinen „Joseph“ heute noch fort, während
0027man in Paris immer nur das Lob Méhul’s, aber niemals
0028seine Musik zu hören bekommt. Es ist derselbe Fall wie mit
0029Cherubini, dessen „Wasserträger“ eine Lieblingsoper der
0030Deutschen geblieben ist, während diese und alle anderen Opern
0031des Florentiners in seiner italienischen Heimat wie in seinem
0032Adoptiv-Vaterlande Frankreich vergessen und verschollen sind.
0033Méhul hat wenigstens eine literarische Wieder-Erweckung
0034erfahren. Daß sein thaten- und ereignisreiches Leben jetzt
0035zum erstenmal vollständig und hellbeleuchtet vor uns liegt,
0036ist ein Verdienst, eines der vielen Verdienste, des trefflichen
0037Musikschriftstellers Arthur Pougin.*)


0040In den Biographien großer Künstler bildet meistentheils
0041die Jugendgeschichte das ungenügendste Capitel; die Anfänge
0042liegen mehr oder minder im Dunkel, erst mit den Erfolgen,
0043mit der anbrechenden Berühmtheit wird es Licht. Ueber
0044Méhul’s Jugend erfahren wir durch Pougin Genaueres, als
0045bisher bekannt war. Méhul (dessen Taufname Etienne
0046Nicolas lautete und nicht, wie alle Handbücher angeben,
0047Etienne Henri) war in Givet am 22. Juni 1763 geboren.
0048Es erscheint fast wunderbar, wie er, der als Sohn eines
0049kleinen Weinhändlers in einem verlorenen Bergwinkel Frank-
0050reichs ohne jede künstlerische Anregung aufwuchs, schon in
0051seiner frühesten Jugend, von leidenschaftlicher Musikliebe ge-
0052trieben, die Wege fand, sich musikalisch zu bilden und sogar
0053seine Familie für den Gedanken einer Componisten-Laufbahn
0054zu stimmen, welche damals Allen unbegreiflich, aussichtslos
0055erscheinen mußte. Für den Anfang hatte er keinen andern
0056Lehrer, als den alten blinden Organisten des Klosters. Schon
0057als zehnjähriger Knabe übernahm Méhul dessen Amt und
0058lockte durch sein Orgelspiel die Menge in die kleine Kloster-
0059kirche, während die Hauptkirche leer blieb. Ein ganz unver-
0060hofftes, ungewöhnliches Ereigniß mußte jedoch eintreten, sollte
0061der kleine Musiker nicht zeitlebens in diesen dürftigen An-
0062fängen stecken bleiben. Ein solches Ereigniß war die Ankunft
0063eines ausgezeichneten deutschen Organisten, Wilhelm Hanser,
0064in der weithin berühmten Abtei Laval-Dieu nächst Givet.
0065Hanser, damals etwa 35 Jahre alt, war in Schwaben ge-
0066boren, Prämonstratenser-Mönch, ein Virtuose auf der Orgel
0067und Meister im Contrapunkt. Der Abt von Laval-Dieu
0068hatte vom General der Prämonstratenser 1775 den Auftrag
0069erhalten, die bedeutendsten Klöster dieses Ordens zu besuchen.
0070In der Abtei von Schussenried in Schwaben hörte er mit
0071Bewunderung Hanser spielen und erlangte es, ihn nach
0072Laval-Dieu mitnehmen zu dürfen. Dort gründete Hanser 
0073eine Musikschule für acht Zöglinge, worunter der junge
0074Méhul, welchem er durch vier Jahre Unterricht im
0075Orgel- und Clavierspiel, wie in der Composition ertheilte.
0076Man hat oft und mit Recht an Méhul’s Musik hervorge-
0077hoben, daß ihr weniger die graziöse Leichtigkeit der Franzosen,
0078als vielmehr der kräftige Ernst der Deutschen aufgeprägt sei.
0079Diesen Charakterzug, diese deutsche Färbung pflegt man
0080schlechthin dem Einflusse Gluck’s zuzuschreiben. Allein der deutsche
0081Einfluß ruhte, wie wir sehen, tiefer und hatte viel früher 
0082begonnen. Unterricht und Beispiel des Deutschen Hanser,
0083dieses einzigen Lehrers, den Méhul je gehabt, wirkten grund-
0084legend und entscheidend. Méhul arbeitete nun mit rastlosem
0085Fleiß; die Ruhe und Einsamkeit des Klosters, der ununter-
0086brochene Verkehr mit Hanser waren ernstem Studium
0087günstig. Oft hat Méhul in späteren Tagen diese friedlichen,
0088im Kloster verbrachten Jahre als die glücklichsten seines
0089Lebens bezeichnet. Unter welchen Umständen Méhul das
0090Kloster verlassen hat, ist nicht mehr zu ergründen. Alles
0091schien ihn dort festhalten zu wollen: die Liebe seiner Vor-
0092gesetzten und der Mönche, der Wunsch seiner Eltern, ihn
0093einst als Geistlichen zu sehen, die sichere Aussicht auf die
0094Organistenstelle im Hause. Glücklicherweise kam es anders.
0095Ein Musikfreund, wie es heißt der Oberst eines in Charle-
0096mont garnisonirenden Regiments, hörte im Kloster den
0097jungen Méhul und entschloß sich, ihn nach Paris zu bringen.
0098Im Jahre 1778 installirte sich Méhul daselbst und verdiente
0099sein Brot anfangs durch Unterrichtgeben. Für die Angabe der
0100meisten Biographen, Méhul habe in Paris eine Organisten-
0101stelle versehen, findet sich nirgends eine Bestätigung. Jeden-
0102falls muß der kaum 16jährige Knabe einen nicht gewöhn-
0103lichen Muth und Ernst besessen haben, um in diesem Alter
0104und diesen Verhältnissen sich mitten in den Schlund von
0105Paris zu stürzen. Er hat es nicht zu bereuen gehabt, aber
0106er mußte doch zwölf Jahre lang warten auf seinen ersten
0107Erfolg. Méhul’s größter Schatz war der Empfehlungsbrief,
0108den ihm Hanser an seinen berühmten deutschen Landsmann
0109Gluck mitgegeben hatte. Der Componist der „Alceste“
0110empfing den jungen Musiker freundlich aufmunternd und
0111setzte ihm in wiederholten Gesprächen seine Grundsätze vom
0112musikalischen Drama auseinander. Der Same fiel jeden-
0113falls auf guten Boden und keimte so üppig, daß Méhul 
0114zehn Jahre später es unternehmen konnte, auf die Opéra
0115comique die Grundsätze zu übertragen, denen Gluck in der
0116Großen Oper zum Siege verholfen hatte.


0117Méhul’s ganze Anlage drängte ihn unwiderstehlich zum
0118Dramatischen. Seine drei ersten Opern schrieb er, ohne an
0119eine Aufführung zu denken, blos zur eigenen Uebung, „pour
0120se former la main“. Die erste von ihm zur Aufführung
0121gelangte Oper war „Euphrosine, ou le Tyran corrigé“
0122(1791). Das Textbuch hatte ihm F. B. Hoffmann, einer
0123der geistreichsten, originellsten Menschen des damaligen Paris, [2]
0124geschrieben. Obwol für die Opéra comique bestimmt, war
0125das Stück doch von sehr düsterer, fast tragischer Färbung.
0126Das zur Melancholie neigende Temperament Méhul’s, das
0127Vorbild von Gluck’s Tragödien, wol auch der Eindruck der
0128furchtbaren Revolutionsscenen, die sich damals unter seinen
0129Augen abspielten, mochten diese seltsame Wahl mitbestimmt
0130haben. Jedenfalls schwebte dem Componisten eine Art Um-
0131gestaltung und Erweiterung der „Komischen Oper“ vor,
0132welcher er einige von Gluck’s mächtigen dramatischen Ele-
0133menten einzubürgern suchte. Als Ziel steckte er sich die Schil-
0134derung der Leidenschaften im rein menschlichen, im bürger-
0135lichen Drama — im Gegensatz zur Schilderung der Leiden-
0136schaften im heroischen und mythologischen Drama, dieser
0137Domäne der Großen Oper. Méhul’s Opern: Euphrosine,
0138Stratonice, Ariodant, Phrosine, Joseph, waren die Resultate
0139dieser neuen reformirenden Aesthetik, welche dem Publicum
0140eine fortströmende Quelle noch unbekannter Genüsse und
0141starker Erregungen aufschloß. F. B. Hoffmann hatte
0142den Stoff zu seiner „Euphrosine“ einer alten Novelle
0143Coradin“ entnommen, welche auch der Rossini’schen
0144Oper „Matilda di Shabran“ zu Grunde liegt. Fünfactig, in
0145Alexandrinern, schwerfällig in der Form und von unerträglicher
0146Länge, konnte dieses Libretto nur durch die Macht einer ganz
0147außerordentlichen Musik einen Erfolg erringen und behaupten.
0148In der That schuf Méhul mit dieser Erstlingsoper ein
0149Meisterwerk, das ihn mit Einem Schlag unter die ersten
0150Componisten reihte. „Euphrosine“ hat ihn in 24 Stunden
0151zum berühmten Mann gemacht. Ohne den geringsten Zu-
0152sammenhang mit den Ideen der Revolution eroberte diese
0153Oper die vollste Theilnahme eines Publicums, das damals
0154alle ähnlichen nichtpolitischen Stücke fallen ließ. „Euphrosine“
0155ward später auf vier, endlich auf drei Acte reducirt und
0156hat sich in dieser Form mehr als vierzig Jahre lang auf
0157dem Repertoire der Opéra comique erhalten. Es ist ein
0158merkwürdiges Werk, das trotz mancher veralteter Stellen
0159noch heute unser lebhaftes Interesse erregt und von
0160keinem angehenden Operncomponisten, ignorirt werden
0161sollte. Insbesondere das berühmte Eifersuchtsduett ent-
0162ladet eine dramatische Schlagkraft, die man der franzö-
0163sischen Musik des vorigen Jahrhunderts kaum zutrauen
0164sollte. Der alte Grétry, bekanntlich kein Verschwender
0165im Lobe seiner Collegen, behauptete, dieses Duett sei das
0166effectvollste dramatische Stück, das überhaupt existirt,
0167und Méhul vereinige in der „Euphrosine“, Gluck’s
0168sechzigjährige Reife und Erfahrung mit der vollen Frische
0169seiner eigenen Jugend. Hektor Berlioz gibt dieser Erst-
0170lingsoper sogar den Vorzug vor allen späteren Werken
0171Méhul’s und stellt das Duett „Gardez vous de la jalousie“
0172— „dieses furchtbarste Beispiel leidenschaftlichen Ausdruckes
0173in der Musik“ — den Eifersuchtsscenen in Shakespeare’s
0174Othello an die Seite. Die Partitur interessirt auch durch
0175mancherlei Seltsamkeiten. Die Hauptperson (Euphrosine) singt
0176nicht ein einzigesmal allein; sie hat keine Arie, keine Ro-
0177manze, nicht einmal ein Duett, sondern nur einen Antheil
0178an den Ensemble-Nummern. Im Finale des ersten Actes regt
0179sich bereits der anspielende Reiz eines „Leitmotivs“. „Euphro-
0180sine“ bezeichnet einen Markstein in der Geschichte der Opéra
0181comique. Von da an ist’s vorbei mit dem bloßen Singspiel,
0182mit den „pièces à ariettes“; die Musik behauptet fortan
0183eine ungleich größere Wichtigkeit in den Werken dieser Gat-
0184tung. Auch in seiner nächsten, nach der „Euphrosine“ com-
0185ponirten Oper „Stratonice“ (1792) zeigt sich Méhul 
0186in der Vollkraft und auf der Höhe seines Talentes. Die (einer
0187griechischen Erzählung des Lucian entnommene) Geschichte
0188der Prinzessin Stratonice und des großmüthigen syrischen
0189Königs Seleucus, welcher zu Gunsten seines von Stratonice 
0190geliebten Sohnes auf die Hand der Prinzessin verzichtet, ge-
0191hörte zu den Lieblingsstoffen jener Zeit. Sie ist — mit und
0192ohne Musik — sehr oft dramatisirt worden, in Frankreich 
0193allein von zehn verschiedenen Autoren. F. B. Hoffmann hatte
0194eine einactige Oper mit nur vier Rollen daraus gemacht und
0195sie sonderbarerweise als „Comédie héroique“ bezeichnet. Der
0196Stoff war ernst und herb behandelt; es bedurfte des ganzen
0197leidenschaftlichen Reizes der Méhul’schen Musik, um das
0198Publicum der Opéra comique mit der ungewohnten Strenge
0199griechischen Styls und Costüms zu befreunden. Méhul ver-
0200mochte noch einigemale (namentlich im Joseph) die Höhe
0201dieses Kunstwerkes zu erringen, darüber hinaus hat er sich 
0202in keinem späteren Werke erhoben. Merkwürdig ist wieder,
0203daß Stratonice, die einzige Frauenrolle in dieser Oper, gar
0204keine Solo-Nummer hat, sondern blos in einem Quartett,
0205und zwar erst am Schlusse desselben, mitsingt. „Stratonice“
0206erhielt sich lange auf dem Repertoire und wurde noch
02071826 gespielt.


0208Der außerordentliche Erfolg der Opern „Euphrosine“
0209und „Stratonice“ stellte den Componisten sehr hoch in der
0210öffentlichen Meinung. Ehrgeizig wie er war, fühlte Méhul 
0211sehr lebhaft die Verpflichtungen, welche so schnell erworbener
0212Ruhm ihm auferlegte. Die Besorgniß, nicht auf gleicher Höhe
0213zu verbleiben, quälte ihn unausgesetzt. „J’aime la gloire avec
0214fureur,“ sagt er selbst in einem an das Journal des Spec-
0215tacles gerichteten Briefe. Er entwickelt fortan eine fieberhafte
0216Thätigkeit. Im Laufe von vier Jahren (1790 bis 1791) hat
0217er acht dramatische Werke zur Aufführung gebracht. Freilich
0218errangen nur drei derselben („Euphrosine“, „Stratonice“ und
0219Mélidore“) einen entschiedenen Erfolg. Wir können die
0220übrigen, in Deutschland kaum dem Namen nach bekannten
0221hier füglich übergehen. Weit mehr interessirt uns der
0222eintretende und immer stärker anwachsende Einfluß der fran-
0223zösischen Revolution auf Méhul’s künstlerische Thätigkeit.
0224Tyrannisch im Kleinen wie im Großen, wollten die Be-
0225hörden auch die Werke der Kunst ausnahmslos in den Dienst
0226der republikanischen Ideen zwingen. Die Proben zu Méhul’s
0227neuer Oper „Mélidore und Phrosine“ waren in
0228vollem Gange, und noch immer konnte man die Er-
0229laubniß zur Aufführung mit aller Mühe nicht er-
0230langen. Der Citoyen Baudrais, Vorstand des
0231Comités zur Ueberwachung der Theater, erklärte den bei ihm
0232vorsprechenden Autoren Arnault und Méhul, daß er das
0233Textbuch durchaus harmlos und unschuldig finde. „Aber das
0234genügt nicht,“ fügte er hinzu: „der Geist Ihrer Oper ist nicht
0235republikanisch, die Sitten Ihrer Personen sind nicht republi-
0236kanisch, das Wort Freiheit kommt nicht ein einzigesmal vor.
0237Sie müssen Ihre Oper in Uebereinstimmung mit unseren In-
0238stitutionen bringen!“ Mit Hilfe von einem Dutzend einge-
0239streuter Verse wurde das Wort Freiheit möglichst oft ange-
0240bracht. Allein nun hieß es wieder: es habe bisher Méhul [3]
0241noch kein eigentlich „patriotisch-republikanisches Werk“ gelie-
0242fert: ein solches müsse der Aufführung der harmlosen „Phro-
0243sine“ vorangehen. Wiederum fügten sich Méhul und sein
0244Poet Arnault. Sie schrieben rasch die einactige Oper „Ho-
0245ratius Cocles
“ (1794), worin neben dem Titelhelden
0246auch noch als zweites republikanisches Tugendmuster Mucius
0247Scävola auftritt. Erst nach Aufführung dieses „patriotischen“
0248Stückes durften die Pforten des Théâtre Favart sich für
0249Mélidore und Phrosine“ öffnen. Die Oper mußte aber auch
0250dann noch mancherlei Prüfungen bestehen. Ihre Première
0251hatte sechs Wochen vor dem Sturze Robespierre’s mit gro-
0252ßem Erfolge stattgefunden (6. Mai 1794); dieser Erfolg war
0253nicht nach dem Geschmacke der nunmehr herrschenden Partei.
0254Nachdem man in Text und Musik keinen Grund zur Anklage
0255finden konnte, suchte man einen solchen in den Costümen und
0256Decorationen und denuncirte die Autoren wegen der luxu-
0257riösen Ausstattung, an welcher sie gänzlich unschuldig waren.
0258Arnault und Méhul, geängstigt von diesen Verfolgungen,
0259glaubten eines Vertheidigers im Wohlfahrtsausschusse zu be-
0260dürfen und begaben sich persönlich zu Barère, den man
0261ob der blumenreichen Phrasen, womit er seine Blutdecrete zu
0262drapiren liebte, den „Anakreon der Guillotine“ hieß. „Wenn
0263Sie mir folgen,“ rieth ihnen der fürchterliche Mann, „so
0264thun Sie ja keinen Schritt. Wer immer heute die öffentliche
0265Aufmerksamkeit auf sich lenkt, muß auf Denunciationen ge-
0266faßt sein. Stehen wir nicht Alle am Fuße der Guillotine,
0267Alle, von mir angefangen?“ Das Beispiel Barère’s,
0268der wirklich am Fuße des Schaffots schlief, wie ein Artille-
0269rist vor der Mündung der von ihm geladenen Kanone, wirkte
0270auf die geängstigten Autoren, und sie verhielten sich ruhig.


0271Noch tiefer in die republikanische Strömung gerieth
0272Méhul durch die Verbindung mit dem gefeierten Dichter
0273Marie Joseph Chénier, zu dessen Drama „Timoleon“
0274er die Chöre componirte. Das Stück, dessen Tendenz gegen
0275die blutdürstige Tyrannei gerichtet war, durfte deßhalb erst
0276nach dem Tode Robespierre’s zur Aufführung kommen. Es
0277war nicht das einzige Werk, das die beiden gefeierten Na-
0278men Chénier und Méhul vereinigte. Ihrem Zusammenwirken
0279dankt Frankreich die großartige Hymne „Chant du 
0280départ“, welche gleich der Marseillaise siegreich ganz
0281Europa durchzog. Sie erklang zum erstenmale in Paris am
0282fünften Jahrestage der Erstürmung der Bastille (14. Juli
02831794) und blieb fortan ein unerläßlicher Bestandtheil aller
0284patriotischen Feste. Mit einer zweiten Hymne von Chénier 
0285und Méhul, „Chant de la Victoire“, wurde der berühmte
0286Tag der „fünften Sansculottide des Jahres II“ gefeiert,
0287während Marat’s Leiche im Panthéon beigesetzt und gleich-
0288zeitig die Asche Mirabeau’s, „als unwürdig, neben dem
0289Freunde des Volkes zu ruhen“, hinausgeworfen wurde. Noch
0290viele andere patriotische Hymnen hat Méhul componirt.


0291Man muß daraus keineswegs auf eine republikanische
0292Gesinnung des Componisten schließen wollen. Obwol nicht
0293ohne Sympathie für die Ideen von Freiheit, hielt sich Méhul 
0294doch stets abseits von allen Parteien und äußerte niemals
0295eine politische Meinung. Als ein fruchtbarer Componist von
0296besonderer Begabung für den Ausdruck des Kraftvollen,
0297Heroischen, Feierlichen, fand er in patriotischen Hymnen ein
0298sehr günstiges Feld für seine Thätigkeit. Wegen derselben
0299Vorzüge wurde Méhul unter dem Consulat und dem Kaiser-
0300reich mit der Composition von officiellen Hymnen beauftragt,
0301und diese athmeten denselben pathetischen und dabei popu-
0302lären Schwung, wie seine Revolutionslieder. Alle französischen
0303Componisten jener Zeit, Cherubini, Lesueur, Gossec,
0304Catel, Devienne etc., mußten zu dem großen musikali-
0305schen Bedarf der Nationalfeste beitragen. Méhul war aber
0306glücklicher als sie Alle; sein „Chant du départ“ ist die
0307einzige jener patriotischen Hymnen, die sich neben der Mar-
0308seillaise erhalten hat. Bonaparte, welcher Méhul als Menschen
0309und Künstler hochschätzte, hegte eine besondere Vorliebe für
0310den Chant du départ, den er von sämmtlichen Militär-
0311musiken spielen ließ bis zum Ende des Consulats. Erst als
0312Kaiser fand er es zweckmäßig, diese den Ruhm der Republik
0313verherrlichende Hymne zu verbieten.


0314Méhul’s Ruhm und Autorität waren so anerkannt, daß
0315bei der Gründung der Akademie (1795) er als einziger 
0316Musiker zum „membre de l’Institut“ ernannt, auch einige
0317Jahre später von allen Tonkünstlern der erste mit dem
0318Kreuz der Ehrenlegion geschmückt wurde. Trotz seiner ge-
0319häuften Beschäftigungen fand er doch Zeit und Lust, den
0320Verkehr mit den vorzüglichsten Geistern seiner Zeit zu pflegen,
0321als liebenswürdiger Gesellschafter und virtuoser Märchen-
0322erzähler die berühmten Salons der Madame Récamier, des
0323Consuls Bonaparte, des Schauspielers Talma u. A. zu be-
0324leben. Seine schwächliche Gesundheit und Neigung zur
0325Melancholie schienen ihn noch anziehender zu machen, ins-
0326besondere für die Damenwelt. Leider hatte er das Unglück,
0327aus seinen Verehrerinnen nicht die rechte für sich auszu-
0328wählen. Er heiratete die Tochter eines Arztes in Avignon,
0329Dr. Gastaldy, der, ein excentrischer Lebemann, sich weit mehr
0330mit Gastronomie beschäftigte, als mit seiner Wissenschaft und
0331seinen Patienten. Er gab seine vornehme Clientel in Avignon 
0332auf und ließ sich in Paris nieder, wo er die Nächte am
0333Spieltisch, die Tage im Bett oder bei Gastmälern verbrachte,
0334ein bedeutendes Vermögen rasch verschleudernd. Man darf
0335annehmen, daß die Tochter eines solchen Mannes etwas von
0336den Gewohnheiten und Anschauungen ihres Vaters über-
0337kommen habe. Mademoiselle Gastaldy wird als eine hübsche,
0338sehr lebhafte und intelligente kleine Person geschildert. Den
0339Werth ihres Gatten verstand sie nicht; die Disharmonie
0340zwischen Beiden wuchs bald zur vollsten Unverträglichkeit.
0341Gleich nach der Hochzeit hatte Madame Méhul eine Freundin
0342ins Haus genommen, von der sie sich keinen Augenblick
0343trennte; die Verwandten ihres Mannes hingegen behandelte
0344sie mit größter Unfreundlichkeit. Bald wurde ein erträgliches
0345Zusammenleben unmöglich, und die Scheidung erfolgte.
0346Madame Méhul hat ihren Gatten um volle 40 Jahre über-
0347lebt. Niemals sprach sie seinen Namen aus, dessen Ruhm
0348sie gänzlich unempfindlich ließ, niemals ließ sie einen Ver-
0349wandten ihres Mannes vor. Nach dem Tode Méhul’s eilte
0350sie sofort nach Paris, packte in der Wohnung des Verstor-
0351benen hastig Alles zusammen, was nicht niet- und nagelfest
0352war, und fuhr damit unverweilt zurück nach ihrem Aufent-
0353haltsort Lyon. Nach der Scheidung und der Abreise seiner
0354Frau war es in Méhul’s Hause ruhig geworden. Aber ein
0355Gefühl von Bitterkeit und Vereinsamung bemächtigte sich seiner,
0356das, immer zunehmend, Zeit seines Lebens schwer auf ihm lastete.
0357(Ein Schlußartikel folgt.)

Fußnoten
  • *)Méhul, sa vie, son génie, son caractère“, par Arthur
    Pougin
    . (Paris, chez Fischbacher, 1889.)