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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8979. Wien, Samstag, den 24. August 1889

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Méhul. II.


0002Ed. H. Der Terrorismus, den die republikanische Re-
0003gierung auch auf das Theater ausübte, streifte häufig ans
0004Kindische, ja ans Komische. Die Große Oper hatte ein neues
0005dreiactiges Werk von Méhul angenommen: „Adrian,
0006Kaiser von Rom“, dessen von B. Hoffmann verfaßtes Text-
0007buch nichts Anderes war, als eine Bearbeitung des alten
0008Librettos von Metastasio: „Adriano in Siria“. Daß in dem
0009Augenblick, da man die Axt an das Königthum legte, dem
0010Publicum der Triumphzug eines Kaisers gezeigt werden
0011sollte, galt für ein Verbrechen. Man denuncirte Méhul’s
0012Oper als ein anti-revolutionäres Stück und ging so weit,
0013auszusprengen, die für den Triumphzug dressirten weißen
0014Rosse seien aus dem Marstall der Königin Marie Antoinette.
0015Ganz Paris beschäftigte sich mit diesem Klatsch. Trotz einer
0016völlig überzeugenden Rechtfertigung der beiden Autoren erließ
0017der Stadtrath von Paris, damals der eigentliche Director
0018der Oper, im Mai 1792 ein Verbot des „Adrian“, das
0019den Autoren bedeutenden Schaden verursachte. „Adrian“
0020blieb zu ewiger Vergessenheit verurtheilt, als plötzlich Robes-
0021pierre’s Sturz die Scene veränderte. Es währte trotzdem
0022sieben Jahre peinlicher Verhandlungen, bevor (1799) „Adrian“,
0023der, seiner Kaiserwürde entkleidet, als simpler General auftreten
0024mußte, endlich zur Aufführung kam. Aber die Feinde des
0025unglücklichen Adrian ruhten noch nicht; sie betrieben ihre
0026unbegreifliche Verfolgung mit doppeltem Eifer. Nach und
0027nach hatten der Pariser Stadtrath, der Conseil der Fünf-
0028hundert, der Polizei-Minister, der Minister des Innern, der
0029gesetzgebende Körper, das Directorium selbst sich mit dieser
0030Affaire beschäftigt, um sie schließlich — einem willkür-
0031lichen und lächerlichen Ausgang zuzuführen. „Adrian“
0032wurde nach der zweiten Wiederholung abermals verboten
0033und schien endgiltig verloren. Aber eine neue politische Con-
0034stellation trieb ihn neuerdings auf die Oberfläche. Dem
0035Directorium war das Consulat gefolgt, und Bonaparte 
0036scheint aus persönlichem Wohlwollen für Méhul das Wieder-
0037aufleben des „Adrian“ begünstigt zu haben. Im Februar 
00381800 erschien „Adrian“ neuerdings in der Großen Oper,
0039ohne jedoch sonderlich einzuschlagen. Das Publicum hatte
0040offenbar durch die zahllosen Unterbrechungen und ermüden-
0041den Discussionen das Interesse an dem Werke verloren; es
0042erlebte nur wenige Aufführungen und hat dem Componisten
0043die ihm verursachten unbeschreiblichen Mühen, Sorgen und
0044Aufregungen in keiner Weise vergolten.


0045Einigermaßen entschädigt sah sich Méhul durch den glän-
0046zenden Erfolg seiner Oper „Ariodant“ (1799), deren
0047Stoff (aus Ariosto’s „Rasendem Roland“) fast identisch war
0048mit Berton’s beliebter Oper „Montano und Stephanie“.
0049Cherubini und Berlioz zählen den „Ariodant“ zu -
0050hul’s allerbesten Werken. Wie die meisten seiner Opern, so
0051frappirt auch „Ariodant“ durch manche ganz neue Effecte und ori-
0052ginelle Combinationen, die später musikalisches Gemeingut
0053geworden, aber doch zuerst in Méhul’s Kopf entsprungen
0054sind. Die charakteristischen Leitmotive in „Euphrosine“, das
0055Zusammenwirken von 4 Hörnern im „Horatius Cocles“,
0056die melodieführenden 4 Violoncelle in der Einleitung zu
0057Ariodant“ (dreißig Jahre später von Rossini in der
0058Ouvertüre zu W. Tell nachgeahmt), die Verwendung
0059von Waldhörnern aus verschiedenen Entfernungen in „La
0060Chasse du jeune Henri“, die Gruppirung von drei Orchestern
0061und drei gesonderten Chören in dem „Chant du 25 Mes-
0062sidor“ (dem ersten vom Consulat gegebenen Nationalfest
006314. Juli 1800) — sind solche Neuheiten. Auffallend und
0064schon in moderne Tendenzen hinüberspielend ist außerdem die
0065Einführung der Partitur des „Ariodant“ durch eine Vorrede
0066(„Quelques reflexions“). Darin spricht Méhul sein Bedauern
0067aus, daß die Componisten es unterlassen, durch schriftliche
0068Darlegung ihrer ästhetischen Grundsätze die musikalische Er-
0069ziehung des Publicums zu leiten. Die falschen und schiefen
0070Urtheile, meint er, würden aufhören, wenn die Opern-
0071Componisten jeder ihrer Partituren eine Aufklärung über die
0072darin befolgten ästhetischen Grundsätze vordrucken ließen.
0073Das gäbe mit der Zeit eine vollständige „musikalische Poetik“,
0074aus welcher man lernen könnte, welcher Styl einer jeden
0075dramatischen Gattung zukommt. Seltsamerweise hat Méhul 
0076selber niemals ausgeführt, was er hier den Componisten so
0077eifrig empfiehlt. Es mag ihm nachträglich die Richtigkeit sei-
0078nes eigenen Ausspruchs immer klarer geworden sein, „daß
0079tüchtig schaffen besser ist, als schön reden, und daß jeder-
0080zeit eine gute Partitur mehr beweisen wird, als ein guter
0081Commentar“. So ist es auch; das Kunstwerk soll für sich
0082selbst sprechen. Mozart, Beethoven, Weber haben es niemals
0083nöthig gehabt, uns über ihre dramatischen Absichten eigens
0084in Vorreden zu belehren. Wenn die Tondichter keine Parti-
0085tur, die Maler kein Bild in die Welt schickten, ohne den
0086Geleitbrief einer ästhetischen Abhandlung, die Freude künst-
0087lerischen Schaffens und Genießens müßte untergehen in der
0088trüben Fluth solcher Gebrauchsanweisungen. „Ich schenke
0089dem Dichter seine Kunstphilosophie,“ schrieb Fr. Vischer 
0090über Hebbel’s bekannte Vorrede zu Maria Magdalena; „es
0091macht mich wie Jeden, der da weiß, daß Production und
0092Speculation über Production sich in Einem Subjecte nicht
0093vertragen, mißtrauisch, wenn mir der Künstler ästhetische
0094Abhandlungen mit in den Kauf gibt.“


0095Unter dem Directorium waren antike Sujets wieder in
0096Mode gekommen. Die Große Oper brachte Schlag auf
0097Schlag: Anakreon bei Polykrates, Apelles, Adrian,
0098Leonidas, Praxiteles, Hekuba, Olympia u. s. w.; die Opéra
0099comique: Telemach, Medea, Epikur, Bion. „Epikur
0100fiel durch, obgleich die Musik gemeinschaftlich von den beiden
0101größten Opern-Componisten Frankreichs, von Méhul und
0102Cherubini, componirt war. Die einactige Oper „Bion
0103von Méhul (1800) verschwand gleichfalls schnell vom Re-
0104pertoire. Hingegen haben wenige Ballette eines so großen und
0105anhaltenden Erfolgs genossen, wie „La Dansomanie“,
0106eine „folie pantomime“ von Gardel mit Musik von
0107Méhul. Seit lange war das Publicum der mythologi-
0108schen und allegorischen Ballette überdrüssig; mit Jubel be-
0109grüßte es das Erscheinen eines possenhaft komischen Ballets.
0110Der erste Versuch Méhul’s im entschieden komischen Styl
0111war die einactige Oper „L’Irato“ oder, wie sie bei der
0112ersten Vorstellung hieß, „L’emporté“. Ihren Ruhm verdankt
0113sie hauptsächlich der Mystification, welche Méhul sich damit
0114erlaubte. In einer Soirée des Ersten Consuls hatte dieser
0115seine Vorliebe für italienische Musik gegen Méhul aus-
0116gesprochen, vielleicht auch mit einer kleinen Neckerei, ob
0117Méhul im Stande wäre, dergleichen im Styl Cimarosa’s und
0118Païsiello’s zu schreiben. Der Ehrgeiz des Componisten gerieth
0119in Flammen; er schwieg, machte sich aber sofort daran, ein
0120altes Textbuch „L’Irato“, das ihm Marsollier frei ins Fran-
0121zösische übertrug, im italienischen Buffostyl zu componiren. [2]
0122Er übergab der Opéra comique das Werk als Uebersetzung
0123einer italienischen Original-Oper. Das Geheimniß wurde be-
0124wahrt, und die Verehrer der italienischen Musik bereiteten
0125dem „Irato“, den sie für ein echt neapolitanisches Product
0126hielten, einen Triumph. Mehrere bereits festgesiedelte
0127Irrthümer in Bezug auf diesen „Irato“ werden von
0128Pougin endgiltig beseitigt. Fürs erste, daß Méhul damit
0129Bonaparte selbst mystificiren wollte. Abgesehen davon, daß
0130es sehr gefährlich war, mit Napoleon zu spaßen, beweist
0131schon die Dedication der Partitur das gerade Gegentheil.*) 
0140Ja, es ist nicht unwahrscheinlich, daß gerade Napoleon, und
0141er allein, in das Geheimniß eingeweiht war. Falsch ist auch
0142die Angabe, daß Méhul sein Incognito durch längere Zeit
0143aufrechterhalten habe; schon nach der Première (17. Februar
01441801) wurde dem Publicum der Name Méhul’s als Com-
0145ponisten der Oper von der Bühne herab verkündigt.


0146Die nächsten Jahre waren für Méhul eine Periode
0147großer Fruchtbarkeit, aber sehr geringer Erfolge. Aus den
0148letzten zehn Jahren seines Lebens ist für uns eigentlich nur
0149Joseph und seine Brüder“ (1807) von Bedeutung; höch-
0150stens wären noch „Die beiden Blinden von Toledo“ und
0151Une Folie“ (Die beiden Füchse) hervorzuheben, zwei komische
0152Opern, die in Deutschland eine zeitlang sehr gefielen. Méhul 
0153schrieb zahlreiche komische Opern; man darf so ziemlich auf
0154sie alle anwenden, was Cherubini über den „Irato“
0155schrieb: „Méhul zeigt im Irato unendlich viel Talent, allein
0156dieses von Natur dem Großen und Erhabenen zuneigende
0157Talent war nicht leicht und schmiegsam genug für das musi-
0158kalische Lustspiel. Seine Manier ist ein wenig schwerfällig
0159im Komischen, seine Lustigkeit mehr berechnet als ursprüng-
0160lich.“ An dem Mißgeschick, das ihn nunmehr anhaltend auf
0161der Bühne verfolgte, war Méhul selbst nicht ohne Schuld;
0162er wendete nicht die nöthige Sorgfalt an die Wahl seiner
0163Textbücher. Diese für den Operncomponisten so überaus
0164wichtige Frage schien ihn in keiner Weise zu beschäftigen; 
0165willig übernahm er von aller Welt Textbücher, wie man sie
0166ihm eben antrug. Und doch begriff er theoretisch sehr wohl
0167den großen Einfluß eines guten Librettos; acceptirt er doch
0168ohne Einwendung den Ausspruch des Directors Pixérécourt:
0169in der Opéra comique gehöre der Erfolg des ersten Abends
0170dem Textbuche, die hundertste Aufführung besiegle den Erfolg
0171der Musik. Die Lebensdauer einer guten Opernpartitur
0172schätzt Méhul auf 25 Jahre. Leider hat nur der kleinste
0173Theil seiner Opern — Méhul schrieb deren an 40 — dieses
0174mäßige Alter erreicht. Die anderen starben früh, zumeist an
0175den Sünden der Textdichter. Schon beschwor die Kritik den
0176berühmten Componisten, er möge dieses Spiel mit schlechten
0177Librettos nicht länger fortsetzen; sein Talent müsse verküm-
0178mern, denn der gewandteste Tondichter bedürfe der Inspira-
0179tion. Nichts sei so schlimm, als mit leerem Mund zu kauen,
0180wie ein berühmter Gastronom gesagt, und schon verrathe
0181Méhul’s Musik einen Mangel an Kraft, aus Mangel an
0182Nahrung. In der That vermochte keines seiner späteren
0183Werke die glänzenden Tage seiner ersten Opern, „Euphro-
0184sine“ und „Stratonice“, wieder heraufzubeschwören. Man
0185begann zu rathen, ob Nachlässigkeit, Gleichgiltigkeit, ob ver-
0186frühte Altersschwäche an diesem Niedergange schuld seien?
0187Da plötzlich erhebt sich Méhul zu seinem schönsten Triumphe;
0188er rächt sich an der Mißernte mehrerer Jahre mit seinem
0189Meisterwerke „Joseph“.


0190Es war nicht persönliche Laune, was ihn zu der Wahl
0191eines biblischen Stoffes trieb. Das Kaiserreich hatte die von
0192der Revolution gestürzten Altäre wieder aufgerichtet, die Kir-
0193chen standen wieder offen, man begann mit Vorliebe biblische
0194Geschichten, religiöse Dichtungen zu lesen. Zu besonderer
0195Gunst gelangte die Geschichte vom egyptischen Joseph, sogar
0196bei den Bühnendichtern. Josephs aller Art herrschten in der
0197Gaïté, im Théâtre français (mit Talma als Joseph,
0198Demoiselle Mars als Benjamin), in der Oper; ja sogar
0199ein Ballet dieses Namens wurde vorbereitet. Méhul’s
0200Joseph“ erschien in der Opéra comique am 17. Februar
02011807. Man hatte doch den guten Geschmack, ihn auf dem
0202Zettel nicht als „komische Oper“ zu bezeichnen, sondern als
0203„Drame en 3 actes, mêlé de chant“. Alexandre Duval 
0204hatte das Textbuch in vierzehn Tagen geschrieben, Méhul die
0205Musik in zwei Monaten. In viereinhalb Monaten war eine
0206so bedeutende Oper gedichtet, componirt, einstudirt und in 
0207vollendeter Weise aufgeführt. Glückliche Zeiten! „Joseph“
0208hatte bei seiner ersten Aufführung einen rühmlichen, aber nicht
0209nachhaltigen Erfolg. Das Publicum und die Kritik fanden
0210die Handlung dürftig, schleppend, langweilig; die überwiegend
0211verstandesmäßige Auffassung der Pariser sah für solche
0212Fehler sich nicht ausreichend entschädigt durch die edle Musik
0213Méhul’s. „Joseph“, ein Werk, das den Ruhm des Meisters
0214für immer besiegelt hat, erlebte in Paris nicht mehr als
0215dreizehn Aufführungen! Nur das Häuflein der Kenner
0216und musikalischen Idealisten pries den „Joseph“ nach seinem
0217wahren Werthe. Unter Anderen feierte ihn Guizot in
0218einem langen Gedichte, wahrscheinlich dem einzigen, das er
0219je veröffentlicht hat. Niemand würde aus dieser kläglich ge-
0220reimten Prosa auf die Bedeutung des späteren Geschichts-
0221schreibers und Staatsmannes Guizot schließen. Für das hohe
0222Ansehen, das Méhul’s Oper trotz der geringen Ein-
0223nahmen genoß, spricht auch der Umstand, daß sie
0224für den zehnjährigen Staatspreis von fünftausend Francs
0225vorgeschlagen wurde. Bekanntlich hat Napoleon I. im
0226Jahre 1804 zweiundzwanzig Preise (neun zu 10,000 Francs
0227und dreizehn zu 5000 Francs) gestiftet zur Belohnung des
0228besten im Laufe der letzten zehn Jahre erschienenen Werkes
0229auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Poesie, der Künste, der
0230technischen Erfindungen u. s. w. Die Musik war anfangs
0231nur mit Einem Preise von 10,000 Francs bedacht für ein
0232Werk der Großen Oper. Nachträglich wurde ein zweiter
0233Preis von 5000 Francs für die vorzüglichste Novität der
0234Opéra comique hinzugefügt. Es war das Schicksal dieser
0235zehnjährigen Staatspreise, daß sie niemals ausbezahlt wur-
0236den. Wenn wir also in allen Lexikons und Handbüchern
0237lesen, daß Méhul für seinen „Joseph“ den zehnjährigen
0238Preis von 5000 und Spontini für die „Vestalin“ den
0239von 10,000 Francs erhalten habe, so ist dies dahin zu be-
0240richtigen, daß ihnen dieser Preis zwar zuerkannt, aber nie-
0241mals ausgefolgt worden ist. Der materielle Erfolg des
0242Joseph“ war anfangs gleich Null und blieb gleich Null bis
0243zur letzten Reprise im Jahre 1882. Hingegen hat die Oper
0244bei ihrem Erscheinen in Deutschland eine geradezu enthusia-
0245stische Aufnahme gefunden und lebt heute, nach achtzig Jahren
0246— wenn auch mit schwächerem und intermittirendem Puls
0247— noch unter uns fort. In Wien erschien „Joseph und
0248seine Brüder“ zuerst 1809 im Theater an der Wien, dann [3]
0249(unter Salieri’s Leitung) im Hofoperntheater. In Dresden 
0250hat C. M. Weber (1817) den „Joseph“ zuerst aufgeführt
0251und in einem überaus warmen Berichte gewürdigt.


0252Joseph“ war der Culminationspunkt in Méhul’s
0253Laufbahn. Der Meister, welcher in der kurzen Frist von
0254siebzehn Jahren über dreißig neue Bühnenwerke zur Auf-
0255führung gebracht hatte, hörte nun plötzlich auf, zu schreiben.
0256Nur drei bis vier unbedeutende Theaterstücke, einige Sym-
0257phonien und Gelegenheits-Cantaten (worunter eine zur Hoch-
0258zeitsfeier Napoleon’s mit der Erzherzogin Maria Louise)
0259stammen aus diesem letzten Jahrzehnt. Das Alter konnte nicht
0260schuld daran sein, denn Méhul zählte nach der Composition
0261des „Joseph“ erst 43 Jahre. Sein Stillschweigen erklären
0262uns vielmehr zwei Ursachen: zuerst sein zunehmender Trüb-
0263sinn, der ihn überall Feinde und Verfolger argwöhnen ließ,
0264sodann seine stark erschütterte Gesundheit. Méhul war all-
0265mälig rettungslos der Lungenschwindsucht verfallen. Was ihn
0266in den letzten Jahren allein beschäftigte und aufheiterte, war
0267die Pflege der Blumen. Méhul hatte sich in Pantin ein be-
0268scheidenes Landhaus mit großem Garten gekauft, wo er
0269eine von allen Kennern bewunderte Sammlung von Tulpen
0270anlegte. Er betrieb diese Passion methodisch, wissenschaft-
0271lich und stand in reger Correspondenz mit berühmten
0272Blumenzüchtern. Ein Tulpennarr (Fou tulipier), wie man
0273ihn nannte, liebte er doch noch daneben die Ranunkeln; er
0274behauptete, ein Beet von wohlgewählten und schön vertheilten
0275Ranunkeln sei für das Auge, was für das Ohr eine Musik
0276von Gluck oder Mozart. In seiner Einsamkeit ward Méhul 
0277immer verbitterter und mißtrauischer; schließlich bildete er sich
0278ein, daß Jedermann auf sein Verderben hinarbeite und
0279gegen ihn verschworen sei. Die Lobrede, die er im Jahre 1813 
0280am Grabe seines berühmtesten Collegen, Grétry, hielt,
0281benützte er zu rein persönlichen Klagen über den Neid und
0282die Ungerechtigkeit der Zeitgenossen. Nur über die ersten glück-
0283lichen Erfolge seines Schülers F. Hérold, dessen glänzen-
0284des Talent Méhul zuerst erkannt hatte, empfand er noch
0285innige Freude. Der nachmals berühmte Componist des
0286Zampa“ und des „Zweikampfes“ bewahrte seinem Meister
0287stets die rührendste Dankbarkeit.


0288Méhul hatte — stets im Centrum von Paris — nach-
0289einander die Revolution, die Schreckenszeit, das Directorium,
0290das Consulat und das Kaiserreich mit durchgemacht — nun 
0291mußte er auch noch den Sturz des Kaisers und die Restauration
0292der Bourbons erleben. Schwer bedrückte ihn das Unglück des
0293besiegten, gedemüthigten Frankreich; aber nicht blos der Mensch,
0294auch der Künstler in ihm litt unter dem Wechsel der Ereig-
0295nisse. Eine der ersten Thaten der bourbonischen Regierung
0296war der systematisch herbeigeführte Ruin des Conservato-
0297riums. Aus Haß gegen den revolutionären Ursprung dieses
0298vortrefflichen Institutes beschloß man, dasselbe bis zur Un-
0299kenntlichkeit zu schmälern und herabzudrücken; selbst der Name
0300Conservatorium mußte dem geringeren „Ecole de musique“
0301weichen. Der würdige Begründer und Director der Anstalt,
0302Sarette, wurde wie ein Bedienter fortgejagt, das Conserva-
0303torium unter die Leitung eines untergeordneten Beamten
0304gestellt und das Budget der Schule so unwürdig zugeschnit-
0305ten, daß man im Winter nicht einmal Geld für die Heizung
0306hatte. Die drei Inspectoren, Cherubini, Gossec und
0307Méhul, welche dem Conservatorium so unschätzbare Dienste
0308geleistet, wurden in ihren Einkünften geschmälert, ihres Titels
0309und der damit verbundenen Vorrechte beraubt und zu ein-
0310fachen Lehrern degradirt. Diese Schicksalsschläge empfand
0311Méhul um so schmerzlicher, als seine Krankheit bereits be-
0312denklich vorgeschritten war. Die Aerzte schickten den fast zum
0313Skelet Abgezehrten in den Süden von Frankreich. Nach
0314einer langsamen, beschwerlichen Reise kam er im Februar
03151817 in Hyères an. Tief traurig klingen die Briefe, die
0316der arme Kranke aus seinem Exil an die Freunde in Paris 
0317schreibt. „Für ein wenig Sonnenschein muß ich alle meine
0318Gewohnheiten und Bequemlichkeiten entbehren, aller Freunde
0319beraubt sein, mich allein befinden am Ende der Welt,
0320in einem Wirthshause, umgeben von fremden Leuten,
0321deren Sprache ich kaum verstehe!“ Nach einem zweimonat-
0322lichen Aufenthalte in Hyères entschließt sich Méhul, in oft
0323unterbrochenen, langsamen Tagreisen nach Paris zurückzu-
0324kehren, wo er im Mai anlangt. „Ich habe,“ schreibt er,
0325„kaum mehr das Aussehen eines menschlichen Wesens und
0326vom Leben nur noch den letzten Hauch.“ Sein Geist blieb
0327hell, sein Muth aufrecht bis zu dem Augenblicke, da er
0328am 18. October 1817, 54 Jahre alt, den letzten Athem-
0329zug that.


0330Sein Tod versetzte Paris in tiefe und aufrichtige
0331Trauer. Man beklagte den Verlust eines großen Meisters,
0332eines ausgezeichneten Lehrers, eines geistvollen, warmherzigen 
0333Menschen. Seine Vorzüge überwogen weit seine Fehler, und
0334diese Fehler hat er selber nicht verhehlt. Während eines
0335Diners bei dem Schauspieler St. Prix kam einmal die
0336Rede auf menschliche Schwächen. „Es gibt eine,“ sagte
0337Méhul, „gegen die ich unablässig vergebens ankämpfe. Ich
0338glaube nicht neidisch zu sein, und doch thun mir die Erfolge
0339Anderer weh’; ich bekenne diesen Fehler, um ihn durch mein
0340Geständniß zu büßen.“ Ernst und unumwunden war seine
0341Bewunderung für alle großen Meister, die Deutschen Gluck,
0342Mozart, Haydn obenan. Als Méhul, des Theaters müde,
0343zwei Symphonien componirt und im Conservatorium
0344zur Aufführung gebracht hatte, fühlte er sich gleich-
0345sam zu einer Entschuldigung verpflichtet und schrieb
0346in einem Briefe an den Moniteur: „Leidenschaftlicher Be-
0347wunderer Haydn’s, fühle ich alle Gefahren meines Unter-
0348fangens; doch möchte ich gern das Publicum nach und nach
0349an den Gedanken gewöhnen, daß auch ein Franzose Haydn 
0350und Mozart von ferne nachfolgen dürfe.“ Eines Tages, da
0351Méhul mit großer Begeisterung von Mozart sprach, unter-
0352brach ihn Jemand mit der Frage: „Finden Sie Mozart 
0353wirklich unvergleichlich als Musiker?“ — „Unvergleichlich?“
0354entgegnete Méhul, „ich weiß es wirklich nicht, denn es ist
0355mir noch nie beigefallen, irgend wen mit Mozart ver-
0356gleichen zu wollen.“ Als Muster hat jedenfalls Gluck den
0357meisten Einfluß auf ihn geübt. Méhul’s Grundsätze in der
0358dramatischen Composition waren im Großen und Ganzen
0359die Gluck’s; nur modificirt, wenn man will gemildert, durch
0360die Verschiedenheiten des Temperaments, der Nationalität,
0361des Alters. Als oberstes Gebot betrachtete er die Ueberein-
0362stimmung der Musik mit dem Worte, dem Charakter, der
0363Scene. Die dramatische Wahrheit ist ihm die oberste, aber
0364nicht die einzige Forderung; den Reiz der Melodie, die Kraft
0365der musikalischen Erfindung will er nirgends missen. „Du
0366hast,“ schrieb er an Berton nach dessen komischer Oper
0367Le chevalier de Sénanges“, „mit ausgesuchtem Geschmack
0368den Punkt erfaßt, bei dem man einhalten muß, um nicht
0369melodielos nur zu declamiren, um nicht undramatisch blos
0370zu singen.“ Am reinsten und schlichtesten finden wir diesen
0371Grundsatz in Méhul’s „Joseph“ verkörpert; wärmer noch
0372und glänzender in seinen Jugendwerken „Euphrosine“ und
0373Stratonice“.

Fußnoten
  • *)Die Dedication des „Irato“ lautet:
    Au général Bonaparte, premier consul de la
    République française
    .
    Général consul! Vos entretiens sur la musique m’ayant
    inspiré le désir de composer quelques ouvrages dans un genre
    moins sévère que ceux, que j’ai donnés jusqu’à ce jour, j’ai fait
    choix de l’Irato; cet essai a réussi, je vous en dois l’hommage.
    Salut et respect. Méhul.