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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2322. Wien, Sonntag, den 12. Februar 1871

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Indigo und die vierzig Räuber.“

Komische Operette in drei Acten von Johann Strauß.

(Erste Aufführung im Theater an der Wien am 10. Februar 1871.)


0004Ed. H. Niemals haben wir das Theater so überfüllt,
0005das Publicum so gespannt gesehen, wie bei diesem drama-
0006tischen Erstlingswerke von Johann Strauß. „Indigo“ ist ein
0007erster Versuch auf dem Gebiete der Oper, aber der ihn ge-
0008wagt, ist ein Mann von europäischem Rufe und einer der po-
0009pulärsten Lieblinge Wiens. Ein Vierteljahrhundert ist ver-
0010flossen, seit der „junge Strauß“ an der Spitze eines eigenen
0011Orchesters als Walzer-Componist hier auftrat. Seitdem hat
0012er, unermüdlich für den musikalischen Bedarf des Carnevals
0013sorgend, die unglaubliche Anzahl von dreihundert Werken ge-
0014liefert. Lauter Tanzmusik. Es ist dies ein kleines, ja
0015kleinstes Feld, auf welchem auch der Dilettant sich mühelos
0016anbaut; aber auch hier unterscheidet sich sofort die blos
0017nachahmenden Fertigkeit von der angeborenen, schöpferischen
0018Kraft. Man darf behaupten, daß Strauß auch ohne den
0019Namen seines Vaters seine rasche, glänzende Carrière ge-
0020macht hätte. Gerade in seinen ersten Compositionen („Liebes-
0021lieder“, „Johanneskäfer“ etc.) trat sein reizendes melodisches
0022Talent am auffallendsten hervor und übte eine geradezu
0023bezaubernde Gewalt. Dabei erwies sich Strauß fein und
0024pikant in der Instrumentirung, sinnreich in harmonischen und
0025rhythmischen Einfällen, sogar ein bischen reformatorisch in Er-
0026weiterung der zu eng gewordenen alten Formen. „Keine Gat-
0027tung,“ sagt Goethe, „ist geringzuachten; jede ist erfreu-
0028lich, sobald ein großes Talent darin den Gipfel erreichte.“
0029Alt-Strauß und Lanner waren solche große glänzende Talente,
0030und in der genialen Beherrschung ihres kleinen Gebiets hoch
0031überlegen unzähligen „ernsthaften“ Componisten, deren in
0032Schweiß gebadete Messen, Symphonien und Sonaten niemals
0033eines Menschen Herz erfreuten. Von dem jüngeren Johann
0034Strauß gilt dasselbe, das fröhliche Scepter seines Vaters fiel
0035ihm unwidersprochen zu, ja sein Beispiel und Name vermochte
0036überdies noch das schlummernde verwandte Talent in zwei
0037Brüdern zu wecken, so daß die drei jungen Strauß bald
0038die gesammte tanzende Welt beherrschten — „soldats sous
0039Alexandre, et rois après sa mort“.


0040Durch diese Verhältnisse war das Talent Johann’s (des
0041begabtesten der drei Brüder) von allem Anfang fraglos auf
0042eine strengbegrenzte Bahn, die der Tanzmusik, gewiesen und 
0043auf derselben in ununterbrochener, aufreibender Thätigkeit fest-
0044gehalten. Vielleicht wäre dieses Talent auch in höheren Kunst-
0045sphären heimisch und stark geworden, wenn es sich früh hätte
0046auf größere Aufgaben werfen und durch tiefere Studien kräf-
0047tigen können. Allein wer 25 Jahre lang in der Tanzmusik
0048gelebt, ausschließlich und in enormen Quantitäten Tänze com-
0049ponirt hat, der vertauscht später nur schwer dieses Feld und
0050selten ungestraft. Seit einigen Jahren machte sich überdies
0051in den Strauß’schen Novitäten eine unverkennbare Erschöpfung
0052seines Talentes bemerkbar; sie wurden matt, gekünstelt, raffi-
0053nirt, reminiscenzenreich und fielen — mit einer einzigen glän-
0054zenden Ausnahme — gegen seine älteren Sachen ab. Diese
0055Ausnahme ist die berühmte Walzerpartie: „An der schönen
0056blauen Donau“, deren Reiz und Erfolg in der Rückkehr zu
0057der ländlerartigen Einfachheit des alten Strauß-Lanner-Styles,
0058bei engstem Anschmiegen an österreichische Volksweisen wurzelt.
0059Der Erfolg der Donau-Walzer vermochte aber die Ermüdung
0060und Uebersättigung nicht aufzuhalten, welche sich in Strauß lange
0061vorbereitet und ihm die Tanzmusik nahezu verleidet hatte.
0062Er mußte fühlen, daß nicht blos die Freude am Walzer, son-
0063dern auch seine verschwenderisch ausgebeutete Erfindung zu
0064versagen anfing. Das ist kaum die richtige Verfassung, in
0065welcher man plötzlich Opern-Componist wird. Ich bekenne un-
0066verholen die Besorgniß, mit welcher ich Strauß’ erster Oper 
0067entgegensah. Ein Schilderer von Stillleben und Thierstücken,
0068der plötzlich Historienmaler wird, eine Dichter-Specialität im
0069Epigramm oder Sonett, welche sich ans Drama wagt:
0070sie haben schwerlich einen grelleren Uebergang, eine schwierigere
0071Stellung. Die Einseitigkeit, in welche das ganze musikalische
0072Denken eines durch Jahrzehnte thätigen specifischen Tanzcom-
0073ponisten geräth, hat kaum eine Analogie in den übrigen
0074Künsten. Er kommt aus dem hüpfenden Rhythmus, der knappen
0075strengen Symmetrie, der populären sinnlichen Wirkung niemals
0076heraus. Mag er sich noch so sehr bemühen, diese Fesseln ab-
0077zustreifen, sie werden doch wie neckende Castagnetten überall
0078wieder durchklingen. Wenn wir unsere geistigen und körper-
0079lichen Thätigkeiten aus dem psychologischen Gebiete mehr oder
0080minder unbewußter Gewohnheit ableiten, wenn wir, noch
0081weiter gehend (wie Dr. Hering in seinem bekannten geist-
0082reichen Vortrage gethan), sogar die Gewohnheiten des Vaters im
0083Sohne noch mitbestimmend und fortwirkend annehmen, so begreift
0084sich die Gebundenheit des musikalischen Denkens und Schaffens in
0085einem geborenen Tanzcomponisten wie Johann Strauß. Diese
0086Macht angewöhnter Tanzrhythmen wird es dem Walzer-Com-
0087ponisten schwer machen, bei der Composition eines Gedichtes 
0088zunächst auch nur den Punkt zu finden und festzuhalten, auf
0089welchem seine stets freischweifende Phantasie sich sammeln und
0090in das Wort einströmen kann. Es scheint, daß die Walzer „An der
0091schönen blauen Donau“ in Strauß diesen Uebergang vermittelt,
0092vielleicht sogar die Idee zur Opern-Composition in ihm ge-
0093weckt haben. Sie sind nämlich gesungene Walzer, für
0094Männerchor mit Orchester-Begleitung geschrieben. Daß sie
0095allenthalben ohne Text gespielt werden und den Gesang in
0096keiner Weise vermissen oder nur vermissen lassen, konnte freilich
0097wieder bedenklich stimmen. Indessen, es bedurfte nur noch
0098eines muthigen Schrittes weiter. Diesen Schritt vollbrachte Strauß 
0099mit seiner Oper „Indigo“. Es ist Strauß’sche Tanzmusik mit
0100unterlegten Worten und vertheilten Rollen. Einen heiteren oder auch
0101nur behaglichen Text kann Strauß in gar keiner anderen
0102Form denken, als in der des Walzers oder der Polka. Alle
0103schnellen oder mäßig beschleunigten Tempi im „Indigo“ fallen
0104in diese Rubrik; ja selbst in manchen der sentimentalen Num-
0105mern entdeckt ein schärferes Auge verschämt verschleierte Tanz-
0106melodien. Wo sich ein Allegro oder Allegretto zeigt, da schiebt
0107der Walzerkönig den Opern-Componisten ohne Umstände bei-
0108seite; dabei macht er aber seine Sache sehr gut, so gut, daß
0109die Füße und Füßchen der Hörerschaft unter den Sperrsitzen
0110toll zu werden beginnen. Als mitten in der Ouvertüre solch
0111ein rattenfängerisches Polka-Thema auftauchte, geschah das Un-
0112erhörte, daß die Galerien jetzt schon in jubelnden Beifall aus-
0113brachen: die Leute träumten sich offenbar im Volksgarten.
0114Gleich in der Introduction des ersten Actes folgt dem (nichts
0115weniger als originellen, aber wohlklingenden) wiegenden Alle-
0116gretto eine unverfälschte Polka („Der Bajaderen Wahlspruch
0117sei“). In der hübschesten Nummer der Oper, dem
0118Terzett im ersten Acte, mündet das einleitende
0119Andante gleich in ein Polka-Motiv („Dort an der
0120blauen Donau“) und schließt mit einem echt Strauß’schen
0121allerliebsten Walzer: „Ja so singt man!“ Das erste Lied
0122des Eseltreibers ist eine maskirte Polka, sein zweites im
0123Refrain („Nur Esel“) ein unmaskirter Walzer von zweideu-
0124tigster Herkunft. Das Lied des Narren in B-dur schleppt sich
0125in seiner ersten Hälfte („O ihr Thoren“) zäh und monoton hin,
0126schließt aber mit einer Polka, deren Abstammung von einer
0127sehr populären Ahnfrau, Namens „Pechpolka“, wenn ich nicht
0128irre, durch allgemeinen Applaus agnoscirt wurde. Die incor-
0129recte Declamation des Textes: „Erstlich fordert eine Schön-
0130heitssteuer“, erregt sogar den Verdacht, daß die Melodie früher
0131da war, als der Text. Eine Polka („Weh’, ich bin verloren“)
0132bildet das Finale des ersten Actes; der Räuberchor in F-dur [2]
0133und Tossana’s Zank-Ariette im zweiten Acte sind demselben
0134Geschlechte angehörig, nur leider nicht Zierden desselben.
0135Fantasca’s Trinklied in Es-dur ist ein unverblümter Strauß’-
0136scher Walzer und keiner von den besten; die vielen, nicht recht
0137zum Style des Ganzen passenden Coloratur-Passagen, Triller
0138und Staccatos dürften wol von Fräulein Geistinger herrüh-
0139ren. Blicken uns aus allen schnellen Tempi die bekannten
0140freundlichen Züge des „Walzerkönigs“ entgegen, der seine un-
0141widerstehliche Geige auch in der Oper handhabt, so sehen
0142wir ihn eigenthümlich fremd, beinahe zaghaft vor allen ernste-
0143ren, sentimentalen Nummern stehen. Da findet Strauß an
0144nichts Eigenem anzuknüpfen und verfällt leicht allgemeinen
0145Phrasen ohne bestimmtes Gepräge oder auch Reminiscen-
0146zen, von welchen wol der Anklang des Liebesduettes:
0147Fantasca, dein mit ganzer Seele“ an die Tenor-
0148Arie aus „Hanns Heiling“ („Gönne mir ein Wort
0149der Liebe“) am auffallendsten. Was an diesen ernsteren
0150Nummern für die mangelnde Tiefe und Originalität einiger-
0151maßen entschädigt, ist ihre Sangbarkeit und Natürlichkeit, die
0152fast reine Unschuld, mit welcher der Componist daran geht.
0153So machten manche dieser Gesangstücke, wie die G-dur-Ballade
0154Fantasca’s, der Frauenchor an die Sterne und dergleichen,
0155einen zwar nicht tiefen, aber wohlthuenden, harmonischen Ein-
0156druck. Strauß verdient das aufrichtigste Lob dafür, daß er
0157weder Meyerbeer noch Richard Wagner nachäfft, nicht durch
0158raffinirte Modulationen und Dissonanzen sich künstlich zu
0159strecken sucht, sondern lieber als ein natürlich empfindender,
0160gut musikalischer Mensch von anständiger Mittelgröße einher-
0161geht. Die Singstimme behandelt Strauß meistens schonend,
0162angemessen und wirksam, das Orchester sehr brillant und we-
0163nigstens nicht zur Unzeit lärmend. Ansprüche an jene poly-
0164phone und contrapunktische Kunst, welche aus den Themen erst
0165den rechten höheren Gewinn zu ziehen lehrt und den Meister
0166des Satzes dahin bringt, daß er am Ende steht, wenn die
0167Melodie zu Ende ist — sie entfallen gegenüber einer Operette,
0168welche durch anmuthige Melodien und beflügelten Rhythmus
0169zu wirken hat. Und diese Eigenschaften muß man dem Werke
0170nachrühmen. Insbesondere ist es der starke rhythmische Zug in
0171dieser Composition, der überall siegreich durchschlagen und die
0172Melodien des „Indigo“ bald allenthalben populär machen wird.


0173Fragt man uns nach der dramatischen Kraft und
0174Begabung des melodienreichen Componisten, so wäre eine
0175Antwort jetzt wol noch vorschnell. In der Musik zu „Indigo“
0176ist allerdings von specifisch dramatischem Talent wenig zu
0177verspüren, allein an diesem Textbuche wäre ein solches auch
0178kaum zu erproben. Der Dichter dieses heillosen Librettos gibt 
0179dem Componisten keine Charaktere, nicht einmal mögliche
0180Wesen, sondern ausgestopfte Puppen, die kein Ziel und keine
0181Vernunft haben, deren einziges Pathos der Unsinn und deren
0182einziger Witz die lerchenfelderische Aussprache ist. Dieses in
0183der Handlung armselige, im Dialog beleidigend platte und
0184gemeine Libretto wird den Erfolg der Operette überall em-
0185pfindlich schädigen. Ein Mann von dem Namen und Talent
0186eines Johann Strauß hätte sich lieber gar nicht dazu her-
0187geben sollen. Diese Fantasca, die abwechselnd wie eine Ama-
0188zonen-Königin und wie eine Wäscherin vom Thury spricht,
0189dieser König Indigo und sein Oberpriester — geistlose Co-
0190pien von Offenbach’s „König Bobêche“ und „Kalchas“ — die
0191als Räuber verkleideten Odalisken etc. können das Talent eines
0192Componisten nur lähmen, nicht anregen. Und wenn das Alles
0193sich noch rasch abspielte! Aber diese „Operette“ währte über
0194vier Stunden! Der ganze dritte Act (der auch musikalisch
0195tief unter die beiden ersten sinkt) besteht aus lauter Lücken-
0196büßern, die mit der Handlung gar nicht zusammenhängen und
0197die Geduld der Zuschauer auf die Folter spannen. Der Com-
0198ponist scheint beim Niederschreiben dieses Actes die unausbleib-
0199liche Mißstimmung des Publicums geahnt zu haben; er bringt
0200am Schlusse schnell alle hübschen Tanzmotive der Oper nach-
0201einander wieder zum Vorschein, gesungene „Pièces justifica-
0202tives“ für diesen bedenklichen Ausgang. Die Sünden des
0203Textbuches suchte man durch eine wahrhaft blendende Aus-
0204stattung gutzumachen. An Pracht der Costüme, Aufzüge,
0205Ballette, Decorationen etc. ist hier wirklich das Kostspieligste
0206geleistet. Ob dieser unverhältnißmäßige Nachdruck auf blen-
0207dende Aeußerlichkeiten nicht auch sein Uebles habe? Für
0208Strauß kann es doch nicht gerade eine Ehre sein, Musik
0209zu schönen Kleidern zu schreiben. Wie die Scenirung, so ver-
0210dient auch der musikalische und dramatische Theil der Auf-
0211führung alles Lob. Fräulein Geistinger und Herr Swo-
0212boda
sangen und spielten vortrefflich, auch Fräulein Stauber 
0213(deren ganze Rolle übrigens fortzustreichen wäre); die Herren
0214Szika, Rott und Friese fanden lebhaften Beifall. Der
0215Löwenantheil des Applauses wurde natürlich Herrn J. Strauß 
0216zu Theil; mit Enthusiasmus empfangen und unzähligemale
0217gerufen, wird er sich an diesem Abende mehr als jemals von
0218der außerordentlichen Beliebtheit überzeugt haben, die er in
0219Wien genießt. Durch seine frische, lebhafte Musik wird sich
0220Indigo“ gewiß auf dem Repertoire erhalten. Ob sich nach-
0221träglich das Libretto so gründlich werde waschen und färben
0222lassen, daß es die Musik nicht entstellt, steht dahin; ich fürchte,
0223dieser Indigo ist echtfärbig.