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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2374. Wien, Mittwoch, den 5. April 1871

[1]

Das Jubiläum der Wiener Tonkünstler-Societät „Haydn“.

Wien, 4. April.


0003Ed. H. Die (seit 1862 „Haydn“ benannte) Tonkünstler-
0004Societät in Wien beging am 3. und 4. April ein seltenes
0005Fest: die Feier ihres hundertsten Geburtstages. Ein hundert-
0006jähriger Bestand will viel bedeuten auf dem Gebiete der
0007Musik, dieser rapid fortschreitenden, in Neubildungen aller
0008Art und Verbrauch des Alten so stürmisch vorgehenden Kunst.
0009Die organisirten stabilen Concert-Institute sind vollends jun-
0010ger Herkunft, und in deutschen Landen besteht gegenwärtig
0011keine von Fachmusikern gegründete Gesellschaft, welche sich so
0012hohen Alters rühmen könnte.


0013Nur England, das auch in Kunstsachen als organisato-
0014rische „Vormacht“ sich bewährte, war mit der Gründung eines
0015ähnlichen Tonkünstlervereines (1738) vorangegangen und hatte
0016damit vielleicht eine Anregung mehr gegeben zu unserer vom
0017Jahre 1771 datirenden „Musikalischen Societät der freyen
0018Tonkunst für Witwen und Waisen“ in Wien.*) Gründer der
0038letzteren war Florian Gaßmann. Er war als armer Karls-
0039bader Harfenist in die Fremde gezogen, hatte Hunger und
0040Kälte kennen gelernt und war dessen in späteren, besseren
0041Zeiten wohl eingedenk. Zum Hofcompositeur, dann zum Hof-
0042capellmeister in Wien ernannt, war er für das Wohl seiner
0043ärmeren Collegen redlich besorgt und gründete den genannten
0044Pensionsfonds für Witwen und Waisen österreichischer Ton-
0045künstler — eine segensreiche Anstalt, nach deren Muster später
0046die ähnlichen Versorgungs- und Concert-Institute in Berlin,
0047St. Petersburg, Prag etc. entstanden. Wenn auch die Ton-
0048künstler-Societät bei ihrem Jubiläums-Concerte die Büste
0049Gaßmann’s neben jener des großen Haydn nicht aufstellen
0050mochte, so hätte sie wenigstens auf den Anschlagzetteln den
0051Namen ihres Gründers in Erinnerung bringen können. Haydn 
0052wurde erst später der artistische Adoptiv-Vater, ja der musi-
0053kalische Schutzheilige der Pensions-Gesellschaft, welche seinen
0054Werken die bessere Hälfte ihrer künstlerischen wie ihrer mate-
0055riellen Existenz dankt.


0056Die Wiener „Tonkünstler-Societät“ will immer unter
0057zweifachem Gesichtspunkte betrachtet sein: als musikalisches
0058Concert-Unternehmen und als Humanitäts-Institut zur Ver-
0059sorgung von Witwen und Waisen. Im Laufe der Zeit, na-
0060mentlich in dem Maße, als andere große Concert-Institute
0061hier entstanden und die Tonkünstler-Societät überflügelten, ist
0062die musikalische Bedeutung der letzteren hinter die humanitäre
0063entschieden zurückgetreten. Im Anfange war dies nicht der
0064Fall. Vielmehr genossen die Akademien unserer Tonkünstler-
0065Societät einen solchen Ruf, daß die berühmtesten Künstler,
0066wie Mozart und Beethoven, sich um die Ehre bewarben, als
0067Componisten und Virtuosen darin aufzutreten. Oratorien,
0068früher mehr ein Gegenstand geistlicher und ästhetischer An-
0069dacht und vorzugsweise in der Hofburgcapelle cultivirt, wur-
0070den erst durch die Societät in regelmäßig wiederkehrenden
0071Concerten dem großen Publicum zugänglich gemacht und mit
0072Aufführung von Symphonien und Virtuosen-Productionen ver-
0073bunden. Im Laufe von hundert Jahren hat dieser Verein
0074366 Akademien gegeben. Die erste derselben, am 29. März
00751772, brachte Gaßmann’s italienisches Oratorium: „La
0076Betulia liberata“, zwei Symphonien von Starzer und
0077Asplmayr, ein Flöten- und ein Violin-Concert. In den
0078folgenden Jahren beherrschten Oratorien von Hasse, Bonno,
0079Salieri, Dittersdorf, Albrechtsberger vorzugsweise das Re-
0080pertoire. Das Jahr 1799 brachte einen Wendepunkt in der
0081Geschichte des Oratoriums und der Wiener Tonkünstler-
0082Societät: das Erscheinen von Haydn’sSchöpfung“, wel-
0083cher 1801Die Jahreszeiten“ folgten. Durch den Anschlag-
0084zettel des Jubiläums-Concertes, welcher die „Schöpfung“ als
0085„zum erstenmale aufgeführt am 22. December 1799“ be-
0086zeichnet, und die „Jahreszeiten“ „am 22. December 1801“,
0087könnte man leicht irregeführt werden, zu glauben, diese Werke
0088seien erst an den genannten Tagen und erst durch die Ton-
0089künstler-Societät ans Licht gebracht worden — ein Irrthum,
0090der überdies in Pohl’s „Denkschrift“ eine scheinbare, still-
0091schweigende Unterstützung findet. In Wahrheit wurden beide
0092Oratorien nicht von der Tonkünstler-Societat, sondern zuerst
0093(im fürstlich Schwarzenberg’schen Palais) von jener Gesell-
0094schaft von Cavalieren aufgeführt, welche unter van Swieten’s 
0095maßgebendem Einflusse zeitweilig größere Musik-Produc-
0096tionen veranstaltete und unter dem Namen des „adeligen
0097Liebhaber-Concertes“ bekannt war. Von da an, also durch
0098volle siebzig Jahre, erblicken wir auf den Program-
0099men der Tonkünstler-Societät in einer langen geraden Linie
0100die fortgesetzte, nur selten durch ein anderes Werk unter-
0101brochene Herrschaft der „Schöpfung“ und der „Jahreszeiten“.
0102Die „Schöpfung“ erlebte bis jetzt 72 Aufführungen, die
0103Jahreszeiten“ deren 69. Der Gesammt-Ertrag, welchen diese
0104beiden Werke bis zum Jahre 1869 der Tonkünstler-Societät
0105lieferten, beläuft sich in runder Summe auf 112,000 fl. Oe. W.
0106Wie viel Noth und Kummer ist damit gelindert, wie viel
0107unverschuldete Armuth unterstützt worden! Haydn’s Ton-
0108dichtungen verdankt die Societät den größten Theil ihres Ver-
0109mögens, welches jetzt nahezu 500,000 fl. beträgt. Im Gefühle
0110der Dankbarkeit gegen ihren größten Wohlthäter hat die Ton-
0111künstler-Societät bei ihrer Reorganisation im Jahre 1862 
0112den Namen Haydn angenommen. Demselben Gefühle ent-
0113sprang auch die glückliche Idee der Societät, bei ihrer Jubel-
0114feier ausnahmsweise von der üblichen Wiederholung desselben
0115Oratoriums am zweiten Concert-Abend abzugehen und beide,
0116in ihrer Geschichte so eng verbundene Werke aufzuführen:
0117Die Schöpfung“ undDie Jahreszeiten“.


0118Aeußerlich war die Festfeier durch eine reichere Beleuch-
0119tung des Theaters, durch die Aufstellung einer Colossalbüste
0120Haydn’s und durch einen von Lewinsky declamirten Prolog 
0121bezeichnet. Das Gedicht, von August Silberstein verfaßt,
0122ist sehr hart in der Sprache, enthält aber in den auf
0123Haydn’s Hauptwerke anspielenden Strophen sinnige Wendungen. [2]
0124Endlich verlieh auch die Mitwirkung fremder, eigens zu dem
0125Jubiläum geladener Künstler (der Sänger Hill und Vogl)
0126dem Festconcerte neuen Reiz, und dürfte der Direction auch
0127für die Zukunft ein Fingerzeig sein, wie das naturgemäß sich
0128abschwächende Interesse an einem kleinen, stabilen Repertoire
0129sich auffrischen lasse. Herr Vogl, Hofopernsänger aus
0130München, wie Herr Hill, Kammersänger aus Schwerin, er-
0131wiesen sich als classisch geschulte, echt musikalisch empfindende
0132und gestaltende Künstler, als Oratorien-Sänger von bester
0133Art. Beiden gemein ist der noble, verständnißvolle Vortrag,
0134die überaus deutliche Aussprache, die klare Auseinandersetzung
0135des Recitativs.


0136Vor Herrn Hill, dessen Baßbariton zwar ausgiebig, aber
0137etwas hohl klingt, ist Herr Vogl im Vortheil durch seine
0138klangvolle, männlich kräftige Tenorstimme, die durch dunkle
0139Färbung und deutliche Tiefe nicht zum Nachtheil ihres Klanges
0140einen baritonartigen Timbre erhält. Beide Sänger wurden
0141in der „Schöpfung“ durch reichlichen Beifall ausgezeichnet;
0142Vogl’s Arie: „Mit Würd’ und Hoheit angethan“ machte
0143förmlich Furore. Auch Frau Dustmann erntete Applaus,
0144obgleich sie, auffallend indisponirt, mit unzureichenden Stimm-
0145mitteln wirkte. Am zweiten Abend (in den „Jahreszeiten“)
0146sang statt des plötzlich unwohl gewordenen Herrn Hill Herr
0147Dr. Krauß die Baßpartie mit ehrenvollem Erfolg. Herr
0148Vogl leistete abermals Vortreffliches; die fröhlichen wie die
0149zärtlichen Gefühle des Bauernjungen Lucas gab er frisch, na-
0150türlich und ohne Ziererei wieder, die Schilderung des im
0151Schneegestöber verirrten Wanderers mit sehr charakteristisch
0152bedeutender Malerei im Vortrag. Großen Beifall fand die
0153Leistung Fräulein Hauck’s (Hannchen); für einen ersten Ver-
0154such im Oratorium war sie auffallend gelungen und ließ außer
0155einer deutlicheren Aussprache fast nichts zu wünschen übrig.
0156Am ersten Abend dirigirte Herr Dessoff, am zweiten Herr
0157Hellmesberger — Beide mit voller Hingebung an die
0158Sache, welche diesmal auch weit besser ausfiel als gewöhnlich.


0159Beide Akademien fanden im Burgtheater statt. Daß
0160gerade an diesem Ehrentage das gewöhnliche, akustisch so be-
0161rüchtigte Local beibehalten wurde, ist nicht anzufechten. Die
0162ganze, jetzt hundertjährige Geschichte der Tonkünstler-Societät
0163ist mit diesem Locale eng verwachsen, und zahlreiche ruhm-
0164volle Erinnerungen hängen daran, welche an solchem Festtage
0165beredter als sonst zu dem Zuhörer sprechen. An seinem Jubi-
0166läumstage durfte der Verein der ehrwürdigen Stätte nicht un-
0167treu werden, an welcher einst Haydn, Salieri, Dittersdorf,
0168Mozart und Beethoven in den Societäts-Akademien dirigirten
0169und spielten. Mit dieser Jubelfeier jedoch sollte der Verein
0170definitiv und für immer Abschied nehmen vom Burgtheater.
0171Eine neue Zeit braucht neue, vollkommenere Hilfsmittel. Das
0172Burgtheater ist als ein ganz schlechtes, verderbliches Local
0173für große Musik-Aufführungen obendrein schon in alten Zeiten
0174bekannt gewesen. Berichtete doch schon im Jahre 1796 der
0175Actuar der Societät, Wranitzky, amtlich über eine solche
0176Burgtheater-Akademie: „Zu meinem Erstaunen hörte ich eine
0177Symphonie von meiner Composition und glaubte, daß
0178die Musik gar nicht im Theater ist oder daß sie
0179sehr schwach besetzt sei. Ich sah hin und sah eine
0180Quantität Menschen arbeiten.“ An dem musikalischen Sinken
0181der Societäts-Akademien trägt das Burgtheater, als akustische
0182Mißgeburt, eine wesentliche Schuld, wenn auch keineswegs die
0183ganze. Ein hundertjähriges Jubiläum ist ein Freudenfest und
0184darum kein passender Anlaß zu Tadel und Beschwerden gegen
0185den Jubilar. Nicht um Vergangenes zu kritisiren, sondern um
0186dem Vereine eine erfreuliche Perspective eröffnen zu können,
0187singen wir heute zum allerletztenmale das alte Klagelied vom
0188Burgtheater-Local mit der dringenden Aufforderung, der
0189Haydn-Verein möge auch seinerseits darin zum allerletztenmale
0190gesungen haben. Jedes Kind weiß, daß der Ton, in solchen
0191langen, schmalen Sack gebannt, weder Kraft noch Glanz ent-
0192falten kann, daß nicht einmal Präcision des Zusammenspiels
0193erreichbar ist, wo die zutiefst postirten Instrumentalisten den
0194Dirigentenstab kaum ausnehmen können. Wer die Stelle: „Es
0195werde Licht!“ nur im Burgtheater gehört, der wird den
0196Weltruhm dieses Effectes kaum begreifen; im Gegentheile muß
0197man sich bei dieser Stelle über das wie in Baumwolle ein-
0198gewickelte Fortissimo (?) jedesmal auf gut Wienerisch „giften“.


0199Der Haydn-Verein ist jetzt so wohlhabend, daß er unbe-
0200schadet seines finanziellen Zweckes auch für seine musikalische
0201Stellung ein kleines Geldopfer bringen kann. Gedenkt
0202er wirklich am Burgtheater, weil er es „umsonst“ hat, fest-
0203zuhalten, so dürfte es bald geschehen, daß er dort in einem 
0204ganz anderen Sinne „umsonst“ concertirt. An seinen vier
0205Productions-Abenden ohnehin von keiner Concurrenz beengt,
0206sollte der „Haydn“ nicht länger säumen, für seine Concerte
0207den großen Musikvereinssaal zu miethen. Wie
0208müßte dort das Winzerfest in den „Jahreszeiten“ klingen —
0209ein Stück, dessen Genialität die merkwürdigste Verjüngung
0210und Modernisirung des alten Haydn offenbart, das ohne den
0211vorausgegangenen „Don Juan“ kaum denkbar ist, ja geradezu
0212Beethoven’sche Klänge vorausnimmt!


0213Im Besitze ausgezeichneter Solisten, tüchtiger Dirigenten,
0214eines achtbaren Chor- und Orchesterkörpers, wie der „Haydn“
0215es derzeit ist, dürften seine Akademien im großen Musik-
0216vereinssaale bald wieder eine Bedeutung erreichen, welche der
0217ruhmvollen Vergangenheit des Institutes entspricht und für
0218welche der Dank des Publicums auch in klingender Münze
0219nicht ausbleiben wird.


0220Schließlich verdient noch die „Denkschrift“ erwähnt
0221zu werden, welche die Tonkünstler-Societät aus Anlaß ihres
0222Jubiläums soeben im Selbstverlage herausgegeben hat. Diese
0223von allem Raisonnement sich fernhaltende, rein actenmäßige
0224Darstellung ist von Herrn C. F. Pohl verfaßt und wie
0225alle Arbeiten dieses trefflichen Archivars ein Muster von Ge-
0226nauigkeit und Vollständigkeit. Neu sind darin zunächst die voll-
0227ständigen chronologischen und alphabetischen Verzeichnisse der
0228Mitglieder der Societät, aller Künstler, die in den Akademien
0229mitgewirkt haben, sämmtlicher Tonkünstler-Witwen und -Waisen
0230mit ihren Bezügen etc. Beiläufig muß ich allerdings erwähnen
0231(da es wahrscheinlich niemand Anderer für mich thun wird),
0232daß die Geschichte der Tonkünstler-Societät, ihre Organisation
0233und ihre musikalische Thätigkeit vom Gründungsjahre an bis
0234auf die neueste Zeit sammt allen musikgeschichtlich interessanten
0235Zwischenfällen und Personalien bereits in meiner (1869 erschiene-
0236nen) „Geschichte des Wiener Concertwesens“ aus den Original-
0237Acten der Societät dargestellt, und zwar zum erstenmale 
0238dargestellt ist. Diese Prioritätswahrung kann und soll die Aner-
0239kennung des rühmlichen Fleißes nicht schmälern, womit Herr
0240Pohl die voluminösen Acten des Vereines neuerdings durch-
0241stöbert und zu einem umfassenden, authentischen Nachschlage-
0242buche verarbeitet hat.

Fußnoten
  • *)In den Zwanziger-Jahren des vorigen Jahrhunderts kam
    ein deutscher Musiker, Namens Kytsch, nach London, wo er als vor-
    trefflicher Oboist von allen musikalischen Kreisen gesucht wurde und
    viel Geld verdiente. Er war jedoch seinem Glücke nicht gewachsen,
    wurde leichtsinnig, vernachlässigte sich und seine Familie und starb
    endlich als Bettler auf der Straße. Bald darauf bemerkten die Ton-
    künstler Festing, Weidemann und Vincent auf der Straße zwei Knaben,
    denen ihre Beschäftigung, Esel zu treiben, ziemlich fremd zu sein schien.
    Davon unterrichtet, daß diese Knaben Söhne des unglücklichen Kytsch 
    seien, beschlossen die genannten Männer, nicht nur diese Waisen aus
    ihrer entwürdigenden Stellung zu befreien, sondern auch einen Fonds
    zu gründen, um ähnlichen Vorkommnissen ihrer Kunstbrüder auf immer
    vorzubeugen. Schon am 19. April 1738 konnten sie den Gründungs-
    tag eines Vereines feiern, der segenbringend nun schon ins zweite
    Jahrhundert seines Bestehens reicht. Der Verein „zur Unterstützung,
    hilfsbedürftiger Musiker und deren Familien“ fand in Händel eine
    mächtige Stütze und hat sich seit dem Jahre 1790 unter dem Namen:
    „Royal Society of Musicians of Great Britain“ blühend entfaltet.
    („Mozart und Haydn in London“, von C. F. Pohl.)