Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2394. Wien, Mittwoch, den 26. April 1871
[1]Aus dem Leben und der Correspondenz von Franz Hauser. II.
(Briefe von Seydelmann, Jenny Lind und Otto Jahn.)
0003Ed. H. Der berühmte Schauspieler Seydelmann, am
0004Prager Theater zugleich mit Hauser engagirt, blieb diesem
0005zeitlebens in warmer Freundschaft zugethan. Mit Schmerz
0006sieht er ihn von Prag nach Kassel übersiedeln und sendet ihm
0007eine Reihe von Briefen, deren gleichmäßige feinste Perlschrift
0008manchmal von dem etwas derben Schauspieler-Humor des
0009Inhalts absticht. „Wenn dieser Brief an Sie kommt,“ be-
0010ginnt Seydelmann’s erster Prager Brief vom Mai 1822, „so
0011weiß ich nichts davon, denn ich gab’ ihn gar nicht auf die
0012Post — Sie Grobian!“ Trotz dieser forcirten Lustigkeit
0013macht sich jetzt schon das misanthropische Wesen bemerkbar,
0014das später in Seydelmann überhandnahm. Obgleich er seinen
0015Director Franz v. Holbein hochschätzt, geht er nicht zu dessen
0016Soireen, „was selbst Bayer fleißig thut, Polawsky und
0017Wilhelmi“. „Ich hofire nicht,“ fährt er fort, „mich juckt es
0018nicht, gleich den Leuten so zu vertrauen, eine Art Fremdheit
0019find’ ich viel ersprießlicher; auf freundlich-süß ins Werk
0020gesetzte Schurkereien bin ich stets gefaßt, auf Dienste, die nur
0021mir allein von Nutzen, rechne ich nicht.“ Im Jahre 1825
0022finden wir Seydelmann in Kassel engagirt, von wo jedoch
0023Hauser bereits nach Dresden abgegangen war. Seydelmann
0024kann dem Freunde jetzt aus Kassel, wie früher aus Prag, be-
0025richten, daß keiner von Hauser’s Nachfolgern in dessen Rollen
0026zu gefallen vermöge. Seydelmann fühlt sich bald unglücklich
0027in Kassel, wo Alles Convenienz ist, nichts Kräftiges, nichts
0028Gefühltes, nur Mißtrauen und Kälte. Er fragt wiederholt,
0029ob er nicht beim Dresdener Theater ankommen könnte — „ich
0030beneide Sie um Tieck’s Nähe!“ Im Jahre 1828 war
0031Börne acht Tage lang in Kassel. „Es hat ihm so
0032gefallen,“ schreibt Seydelmann, „daß er mich auf-
0033munterte, lieber heut’ als morgen davonzugehen.“ Persön-
0034liches und eine Menge Theatergeschichtchen füllen zumeist
0035Seydelmann’s Briefe;*)
wo Kunsturtheile vorkommen, sind
0039sie ernst und strenge. So sagt er von dem berühmten Teno-
0040risten Franz Wild (1825): „Wild ist kein Künstler, ein
0041seltener Sänger, ja, aber doch ein Comödiant. Sein Don
0042Juan berechtigt zu dem Ausspruch.“ Seydelmann tadelt nun
0043das „schmähliche Verfahren“ Wild’s, die Melodien zu ändern,
0044zu verunglimpfen, obendrein in der Försterscene ein Ariettchen
0045einzulegen. Nur als Othello findet er Wild hinreißend.
0046Noch strenger erscheint uns Seydelmann’s Urtheil über die
0047große Schauspielerin Sophie Schröder — ein Urtheil, das
0048jedoch zu viel Treffendes enthält und zu ehrenvolles Zeugniß
0049gibt für den seltenen Ernst von Seydelmann’s Kunstanschauung,
0050als daß es der Vergessenheit anheimzufallen verdiente. Er
0051schreibt an Hauser über die im Jahre 1825 in Kassel gasti-
0052rende Wiener Hofschauspielerin: „Auch Madame Schröder
0053ist keine Künstlerin. Das klingt nun freilich ganz entsetzlich,
0054wenn man von dieser weltbekannten Dame spricht. Mich kön-
0055nen aber Anderer Meinungen nicht gut verblüffen. Eigenschaf-
0056ten, Künstlerin zu sein, sind beiweitem nicht die Sache selbst,
0057und Madame Schröder hat’s versäumt, seltene Gaben künst-
0058lerisch zu bilden und zu einen. Daß sie in der Reihe deutscher
0059Schauspielerinnen, die mit ihr in Einem Fache wirken, als
0060die bessere, als die beste meinetwegen dasteht, kann ihr doch
0061unmöglich schon das Prädicat der Künstlerin erwerben; in
0062diesem Fall wär’ ja der Einäugige unter den Blinden ein
0063völlig Gesunder. Madame Schröder ist nichts als eine glück-
0064liche, eine seltene Naturalistin. Seltenes Organ, seltene Kraft
0065und Dauer, heißes Blut (und nicht Gemüth!), Geschick im
0066Auffinden und Hinstellen sogenannter Knall-Effecte, ein unge-
0067fähres Fassen ihrer Aufgabe, hin und wieder auch ein
0068feiner Zug: das ist’s, was ich aus ihrem Spiele
0069erkannt. Ideal sind ihre Leistungen mir keineswegs
0070erschienen; es belebt sie eine Kraft (die übrigens weit mehr
0071vom Teufel als von Oben stammt!), sich über die Alltäglich-
0072keit zu heben; doch gilt dies nur von Augenblicken — diese
0073Augenblicke nun verblüffen und — futsch! sind die Kenner (!)
0074wie die Laien. Mir aber gelten derlei Augenblicke nichts,
0075gar nichts, wenn sie sich zum Uebrigen verhalten, wie der
0076Bettelsack zur kurfürstlich hessischen Schatzkammer. Ein
0077mittelmäßiges Ganzes — muß es uns nicht lieber sein, als
0078ein Rafael’scher Kopf auf einem miserablen Rumpf? An
0079einem schönen Kunstgebilde darf nichts unschön sein, und wenn
0080ich nun ein angepriesenes Kunstwerk jener hochgepriesenen
0081Frau gesehen hatte, so konnte ich mit ihr nur grollen,
0082daß so schöne Gaben gleichwol verschwendet sind.“
0083Seydelmann schien es nicht beschieden zu sein, irgendwo
0084dauernde Befriedigung zu finden; in seinen späteren Briefen
0085klagt er über Mannheim und Stuttgart, wie früher über
0086Kassel. Als Grund, warum er 1832 schon zum zweitenmal
0087um seine Entlassung vom Stuttgarter Hoftheater gebeten,
0088nennt er „die überhandnehmende Schürzenherrschaft“ einer
0089damals berühmten, dem verstorbenen König sehr nahestehenden
0090Künstlerin. „Nimmermehr kann ich dieser Wirthschaft hul-
0091digen. Und das Schlimmste von diesem öffentlichen Geheimniß
0092ist: man darf’s nicht wissen!“ Wien hieß von jetzt an
0093die Sehnsucht Seydelmann’s, wie vordem Dresden. Seinem
0094Freunde Hauser war es vergönnt, wonach Seydelmann so
0095lange vergeblich strebte, eine würdige Stätte seiner Thätigkeit
0096zuerst in Dresden, dann in Wien zu finden.
0097Sehr interessant, charakteristisch für die Schreiberin wie
0098für den Empfänger, sind die Briefe Jenny Lind’s an
0099Hauser. Es spricht daraus jenes tiefe Freundschaftsgefühl,
0100jene bis zum Herben strenge Wahrhaftigkeit und Moralität,
0101welche wir an dieser Künstlerin kennen. Wir begreifen, wie
0102treu ihr Jeder anhing, den sie einmal in ihr Herz geschlossen,
0103während kaum Jemand, dem nur oberflächlicher Verkehr mit
0104Jenny Lind vergönnt war, sie „liebenswürdig“ gefunden hat.
0105Unser Hauser erfreute sich ganz besonderer Bevorzugung von
0106Seite dieser Künstlerin; als Mensch und Künstler stand er
0107ihr überaus hoch. Jenny Lind brachte Hauser bei ihrer ersten
0108Kunstreise nach Wien einen Empfehlungsbrief von Mendels-
0109sohn und verkehrte viel und gern mit Hauser. Bald nach
0110ihrer Abreise von Wien beginnen ihre Briefe, deren große [2]
0111ungefüge Lateinschrift in nicht allzu leserlichen Zügen und nicht
0112allzu correctem Deutsch eigenthümlich zu uns spricht. „Ich
0113habe oft, seitdem ich von Wien fort bin, an Sie gedacht,“
0114schreibt sie aus Bremen im Juni 1845 an Hauser, „und oft
0115im Gedanken an Sie geschrieben — aber nun kommt es auf
0116einmal wieder so mit Gewalt über mich, daß muß Ihnen
0117sprechen mit ein schlechten Feder, schlimmes Papier und in
0118deutschen Sprache! Aber was schadet das Alles, wenn man
0119an einen Mensch schreibt. Ich habe was auf’s Herz, und das will
0120ich Ihnen ordentlich erzählen, aber zu allererst: ich danke
0121Ihnen für die Zeit, die ich in Wien war! ich danke Ihnen
0122dann aus vollstem Herzen für die Freundschaft, die Sie mir
0123gegeben und bewiesen. Ich danke Ihnen, daß Sie mir er-
0124kannt, ich meine, daß sie gleich auf der Stelle bemerkt, daß
0125auch mir der liebe Gott ein Herz gegeben! und nun kommt
0126meine Erzählung: ich habe Sie innig herzlich lieb gewonnen
0127und fühle mit Bestimmtheit, daß ich Sie nie in meinem
0128Leben werde vergessen können, und daß Sie zu denen (ge)hören,
0129für die ich wol ein großes Opfer machen könnte, wenn es
0130darauf käme! Dies ist allerdings ein Geheimniß, was die
0131ganze Welt wissen darf, das was unter uns Viere (ich
0132meine nicht vier Augen) doch am hübschesten bleibt. So,
0133nun bin ich gleich leichter zu Muthe. Glauben Sie nur
0134nicht, daß ich irgend ein Brief oder Antwort verlange, oder
0135daß Sie eine Correspondenze auf dem Halse bekommen haben.
0136Nein, das ist ja nicht nöthig, aber doch möchte ich doch ein-
0137mal hören, wie es Ihnen alle geht! Sie sind doch wohl in
0138Wien nächsten Winter? Denn wie soll es denn gehen, wenn
0139ich nicht Ihr freundliches Gesicht auf der Bühne zuweilen zu
0140sehen kriege, oder Ihren väterlichen Rath oder dergleichen?
0141Am Rhein war es schön! Die Zeit ist sehr sehr schnell vor-
0142über gegangen, aber sie lebt doch in frischen Farben in mein
0143dankbares Herz. Denn das größte Glück bleibt doch: Reine,
0144Edle Menschenherzen zu finden. Sie zweifeln gewiß
0145nicht, daß dies Bezug auf meine Reisegefährten hat! Ach!
0146Das Leben ist schön, das Leben ist reich. Das Andere
0147muß aber etwas ruhiger und länger werden, sonst bleib’ ich
0148glaub’ ich lieber hier! Aber — Scherz bei Seite — mögen
0149wir uns doch am liebsten bald da wiedersehen, wo
0150keine Trennung mehr vorkommt (aber wieder kein
0151Wiedersehen, und das ist schade!) Gott beschütze Sie!
0152Für immer Ihre treu ergebene Jenny Lind.“
0153Die nächsten Briefe sind schon nach München gerichtet, wo
0154Hauser Director des Conservatoriums geworden war. „Sind
0155Sie noch krank?“ fragt Jenny Lind. „Ja, ja — das ist
0156eine böse Krankheit, wenn man sich nach irgend etwas sehnt,
0157besonders nach dem Vaterlande! Ach warum sind die meisten
0158Menschen entweder dumm, boshaft, neidisch oder ohne
0159die geringste Auffassung? Warum haben alle nicht so ein
0160Gebirgsgemüth wie z. B. Gasser, für dessen Gefühle
0161und Aeußerungen ich niederknien könnte, so rein und himmels-
0162blau kommen sie alle heraus!**)
Wie neugierig bin ich, zu
0164sehen, wie der liebe Gott die Menschen classiren werde ein-
0165mal. Da gibt’s eine schöne Geschichte. O Friede! O stille zu-
0166rückgezogene Häuslichkeit! Wann werd’ ich in deine Thüre ein-
0167gelassen!“
0168Der herzliche, freundschaftliche Ton bleibt sich immer
0169gleich, auch in folgenden Briefen, die Jenny Lind zu Anfang
0170des Jahres 1847 aus Wien an Hauser schreibt. „Nun schrei-
0171ben wir also 1847! Ja, alles geht in der Welt — und
0172Sieben und vierzig wird wol auch gehen. Mögen Sie froh, ge-
0173sund und glücklich bleiben, und mögen Sie überhaupt es so
0174haben, wie ich’s Ihnen wünsche. Aber Sie wissen ja, man
0175kann nur das Beste für seine Freunde hoffen und wünschen,
0176das Leiden kann man dennoch nicht immer vorbeugen! Ich
0177werde Sie immer mit der aufrichtigsten Freundschaft gedenken,
0178und zwischen uns wird’s immer beim alten bleiben, d. h. wir
0179werden uns gewiß immer gut verstehen und vertragen können
0180und fürchte nie, daß eine veränderte Stimmung zwischen uns
0181je eintreffen wird. Dafür bürge ich und ich weiß — Sie
0182auch.“ „Wohin werden aber die Wiener zuletzt kommen, bester
0183Hauser? Es ist zu toll. Ich war gestern im Kärnthnerthor
0184(oder wie schreibt man das Wort) und hörte Robert und
0185es ging so schändlich, daß ich weiß keine Worte dafür.
0186Die Hasselt-Barth sang Alice! und die Zerr die Prin-
0187zessin, o du mein Himmel! und das Publicum hat gerast!
0188Ich zittere noch heute, wenn ich an dies Tremulando von
0189diesen beiden Damen denke. Das ist uns’re jetzige Kunst! Es
0190ist viel besser in München, und sogar bei Pokorny ist es
0191viel besser. Gott sei Dank, ich bleibe nicht lange. Die Regi-
0192mentstochter wird wol übermorgen sein, Staudigl macht den
0193Sergeanten.“
0194Am 20. Februar 1847 schreibt Jenny Lind sehr aufgeregt
0195über die durch Lola Montez heraufbeschworenen Unruhen in
0196München, von welchen Hauser ihr eben Nachricht gegeben:
0197„Ich kann Ihnen nicht beschreiben,“ ruft sie aus, „wie mich
0198die Sachen aufgeregt! Ist denn alle Vernunft ausgestorben?
0199und kann man denn so eine ganze Nation wegwerfen? Es ist
0200traurig. Gebe Gott, daß da bald was geschieht — aber
0201bald — und daß Sie in voller Ruhe dort bleiben können,
0202und daß irgend eine Veränderung eintreffe und Sie wieder
0203vielleicht nach Wien kämen — so passen Sie mal auf (wie
0204der Dessauer immer sagt) dann heirathe ich hier in Wien,
0205damit wir zusammen bleiben. Sonderbar, wie es nur in der
0206letzten Zeit sonderbar geht! So viel Spectakel in London,
0207daß ich lieber ich weiß nicht was thue, als hinzugehen, und
0208nach München zu gehen wird jetzt bedenklich. Gott behüte
0209Euch vor Revolution; die Sache ist zu scabrös und fordert
0210große Opfer, ehe es wieder gut gehen kann. Ist denn so un-
0211möglich, dies verlorene Wesen wegzubringen, todt oder lebendig
0212— einerlei? Nein, das ist wahr, etwas Aehnliches hat man
0213nie erlebt; keine Zeit, schlecht sie auch war, vermag etwas
0214Aehnliches aufzuweisen!“ Von der Politik geht die Brief-
0215stellerin nun zur Kunst über und berichtet von der ersten Auf-
0216führung der „Vielka“ im Wiedener Theater. „Die Oper ist
0217sehr gut aufgenommen worden und Meyerbeer stürmisch
0218empfangen. Ich hatte eine solche Angst, daß ich stockheiser
0219war, und begreife nicht, daß man mich nicht ausgepfiffen hat.
0220Die Oper enthält viel Schönes, etwas lang — aber je mehr
0221man sie hört, desto mehr versöhnt man sich damit. Sag’ ich,
0222daß die Oper für die Wiener so eigentlich paßt, so lüge ich,
0223aber sie sind Alle in solcher Aufregung, daß sie noch nicht [3]
0224wissen, wie es zusammenhängt. Von halb 11 Uhr an war
0225der Schauplatz beinahe gefüllt, und also beinah dreizehn Stun-
0226den sind die Menschen dagesessen! Oh Dieu!! Ich sehne
0227mich so nach dem Frühling und von der Bühne! Nach
0228jeder Vorstellung nimmt dieser Wunsch bei mir zu. Die
0229Intriguen in London will ich nicht mitmachen; in dieses
0230Elend hinzugehen, fällt mir nicht ein, denn es ward gewiß
0231um mich geschehen, dies Alles kann mein Talent nicht tragen!
0232Heute ist wieder die „Vielka“ — Gott stehe uns Allen bei!“
0233Diese Abneigung gegen London verkehrte sich bald in das
0234Gegentheil, denn noch im selben Jahre (August 1847) schreibt
0235Jenny Lind von dort an Hauser: „Ich habe eine schöne Zeit
0236erlebt und es ist mir gelungen das ganze Theater auf meinen
0237Schultern zu tragen und das ist meine einzige Entschuldigung
0238warum ich nicht geschrieben. Ich habe sehr viel gearbeitet und
0239bin auch reichlich belohnt, denn das hiesige Publicum behandelt
0240mich wie ihr Kind! und ich finde die Engländer das
0241dankbarste Publicum das existirt. Mit der Nachtwandlerin
0242hab’ ich besonders Glück gemacht und wir hätten diese Oper
0243allein geben (können) die ganze Saison. Die Königin ist sehr
0244gnädig und lieb gegen mich gewesen, die Mutter Grisi
0245aber — sie mag mir gar nicht leiden.“
0246Eine lebhafte Correspondenz von durchaus ernstem, meist
0247musikwissenschaftlichem Inhalte verband Hauser mit dem
0248trefflichen Mozart-Biographen Professor Otto Jahn. Ein
0249Päckchen Briefe von Letzterem liegt uns vor, sie reichen vom
0250Jahre 1853 bis 1868 — immer dieselben unverändert festen,
0251sauberen Züge, die engste, kleinste, aufrechtstehendste aller
0252Rabenfederschriften! Sebastian Bach und die Ausgabe
0253seiner Werke durch die „Bach-Gesellschaft“ bilden den Stoff
0254der ersten, noch aus Jahn’s Leipziger Aufenthalt stammenden
0255Briefe. Hauser war im Besitze zahlreicher sehr werthvoller
0256und seltener „Bachica“; es wird von Seite Jahn’s um
0257Mittheilung derselben für die Bach-Gesellschaft gebeten, über
0258Thätigkeit und Methode der letzteren berichtet, endlich der Rath
0259Hauser’s in Betreff einzelner Bach-Editionen und Autographe an-
0260gesucht. Jahn’s Briefe bleiben meistens streng bei der Sache, doch
0261enthalten einige davon auch manche willkommene Abschweifung und
0262feine selbstständige Bemerkung: „Wenn Sie nicht ein so lebens-
0263erfahrener Mann wären,“ apostrophirt er einmal seinen Freund
0264Hauser, „würde ich Ihnen eine schöne Entschuldigung her-
0265setzen, warum ich erst jetzt schreibe: so aber zweifle ich nicht
0266im mindesten, daß Sie genau wissen, wie es zugeht, daß man
0267zu Zeiten alle seine Briefe in Gedanken, aber keinen mit der
0268Feder schreibt. Warum hat man noch keinen Gedanken-Tele-
0269graphen erfunden? Man wird es gewiß, aber hoffentlich er-
0270leben wir es nicht mehr, wo sollte man vor lauter Gedanken
0271hin?“ Während Jahn noch an seinem „Mozart“ arbeitete, beschäf-
0272tigte ihn bekanntlich schon der Plan einer später zu verfassen-
0273den Beethoven-Biographie. Darauf bezieht sich folgende Stelle
0274aus einem Briefe Jahn’s vom 19. Juni 1858: „Was Sie
0275über das Verhältniß Mozart’s und Beethoven’s andeuten, in-
0276teressirt mich lebhaft und hat mich, wie Sie denken können,
0277lange und lebhaft beschäftigt. In Mozart kann ich Sie fast
0278ganz umgehen und thue es absichtlich, weil ich so weitgrei-
0279fende Fragen nicht gern abstract, sondern vom Concreten aus
0280und in ihrem ganzen lebendigen Zusammenhange behandle;
0281bei Beethoven liegt die Frage nothwendig vor, und mir graut
0282davor, nicht weil ich mich fürchte, offen herauszureden, sondern
0283weil so etwas nicht blos Schweiß, sondern Herzblut kostet.
0284Ihre Gegensätze: Italienisch — deutsch, akademisch — nicht aka-
0285demisch sind gewiß treffend, aber ich meine, man muß noch
0286weiter hineingehen, und ich weiß nicht, wie weit Sie mitgehen.
0287Mir scheint, der alte nie endende Kampf um die Freiheit des
0288Individuums, den der Humanismus, die Reformation, die
0289Revolution u. s. w. an anderen Stellen der geistigen Exi-
0290stenz begonnen haben, den hat Beethoven in der Musik auf-
0291genommen. Mit Ernst und Wahrheit unternehmen das nur
0292große Naturen, und noch hat es Keiner gethan, ohne die Ge-
0293fahren aufzudecken, die es ihm und seinen Nachfahren bringt.
0294Ich glaube, seine Größe und seine Schwächen liegen in diesem
0295Keime nothwendig beschlossen, darum zeugen auch seine
0296Schwächen für seine Größe. Natürlich trauen Sie mir nicht
0297zu, daß ich ihn für einen Radicalen in Religion, Politik,
0298Philosophie, nebenbei auch in Musik halte, wie man jetzt zu
0299schwatzen liebt, ich spreche von seiner innersten künstlerischen
0300Natur. Aber, bester Freund, das ist ein Meer auszutrinken
0301und nichts für einen Brief.“
0302Zehn Jahre später (1868) correspondiren die beiden
0303Freunde über die Herausgabe einer Auswahl von M. Haupt-
0304mann’s Briefen. Nach dem Tode dieses berühmten Musik-
0305Theoretikers und geistvollen Schriftstellers hatte Jahn sich
0306entschlossen, eine Auswahl von Hauptmann’s Briefen zu ver-
0307öffentlichen. „Ich denke, das kann und soll ein Buch werden,
0308wie es nicht viele gibt!“ Hauptmann hat mitunter seine
0309treffendsten Urtheile, seine geistreichsten Ausführungen in
0310freundschaftlichen Briefen niedergelegt, und wer je einige
0311davon gelesen, wird obigem Ausrufe Jahn’s beistimmen und
0312mit uns bedauern, daß jenes Unternehmen noch immer nicht
0313ausgeführt ist. Vielleicht die kostbarsten Briefe Hauptmann’s
0314waren an Hauser gerichtet, der, in langjährigem freundschaft-
0315lichsten Verkehr mit ihm stehend, drei Bände solcher Briefe
0316von Hauptmann besaß und an Jahn einschickte. Letzterer starb
0317über der Redaction dieser Briefsammlung, welche sich wahr-
0318scheinlich in Händen der Herren Breitkopf und Härtel in
0319Leipzig befindet. Möchten diese Zeilen dazu beitragen, die
0320hochverdienten Verleger zur baldigen Herausgabe dieses Brief-
0321schatzes anzueifern! Jahn’s letzter kurzer Brief an Hauser
0322(aus Bonn, den 15. Juni 1869) macht einen tiefwehmüthigen
0323Eindruck. „Sie machen sich,“ beginnt er, „eine falsche Vor-
0324stellung von meiner Gesundheit, lieber Freund, wenn Sie
0325mich auf einem Musikfest vermuthen. Seit mehreren Jahren
0326habe ich mich von allem socialen und wissenschaftlichen Um-
0327gang und Verkehr ganz zurückgezogen und lebe ganz isolirt.
0328Musik habe ich seit drei Jahren keinen Ton gehört und werde
0329keinen wieder hören. Besonders in diesem Jahre ist mein
0330Befinden so gesunken, daß ich mit Mühe den Pflichten des
0331Amtes nachkomme. Da sieht es nicht gut mit Hauptmann’s
0332Briefen aus, die Frische und Freiheit und Kraft verlangen;
0333vielleicht hilft der Sommer noch etwas nach.“ Der Sommer
0334hat leider nicht nachgeholfen: der unvergeßliche und unersetz-
0335liche Mann starb wenige Wochen nach jenem Briefe.
0336(Ein dritter und letzter Artikel folgt.)