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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2397. Wien, Samstag, den 29. April 1871

[1]

Aus dem Leben und der Correspondenz von Franz Hauser. III. (Letzter Artikel.)

(Briefe von Mendelssohn-Bartholdy.)


0003Ed. H. Zu den anziehendsten, rührendsten Freundschafts-
0004verhältnissen zwischen Künstlern gehört das Bündniß Hauser’s
0005mit Felix Mendelssohn-Bartholdy. Von den mir
0006im Original vorliegenden 47 Briefen Mendelssohn’s an Hau-
0007ser ist der erste vom 16. April 1830 datirt, der letzte vom
000827. September 1846, also kurz vor dem Tode des Schrei-
0009bers. Innerhalb dieser langen Zeit, in welcher den beiden
0010Freunden nur selten und für wenige Tage ein Wiedersehen
0011gegönnt war, strömt fast ununterbrochen der herzlichste Brief-
0012wechsel. Wie Mendelssohn’s Briefe die ganze Liebenswürdig-
0013keit und feine Bildung des Schreibers athmen, so flößen sie
0014auch für den Empfänger den wärmsten Antheil, ja den größten
0015Respect ein. Ein Mann, welchem Mendelssohn mit sol-
0016cher Wärme und Anhänglichkeit schreibt, konnte als Mensch
0017und Künstler unmöglich zu den gewöhnlichen Erscheinungen
0018zählen. Es kann nicht meine Absicht sein, alles Charakteri-
0019stische und Interessante aus diesen (mitunter sehr ausführ-
0020lichen) Mendelssohn’schen Briefen hier mitzutheilen, welche
0021Hauser’s Sohn vielleicht einmal selbstständig und complet
0022herausgibt. Einiges jedoch, was für Hauser’s Wesen und
0023seine Beziehung zu Mendelssohn besonders charakteristisch er-
0024scheint, möge hier Platz finden.


0025Zuerst ist es Sebastian Bach, der musikalische Abgott
0026beider Freunde, wovon Mendelssohn (Berlin 1830) schreibt,
0027zunächst mit Bezug auf die Matthäische Passionsmusik, aus
0028welcher Hauser Einzelnes in Wien ausgeführt hörte. „Wird
0029denn,“ fragt Mendelssohn, „dort nie eine vollständige Auf-
0030führung zu Stande kommen?“*) „Im Anfang wollte (in
0033Berlin) Keiner daran, sie meinten, es sei zu verwirrt und ganz
0034unsinnig schwer. Doch schon nach einigen Proben war das
0035Alles anders geworden, und sie sangen mit einer An-
0036dacht, als ob sie in der Kirche wären. So gingen
0037denn auch die beiden ersten Aufführungen ganz herrlich, und 
0038es zeigte sich wieder, daß das Publicum immer gut ist, wenn
0039man ihm nur das Gute gibt.“ Bald nach diesem Briefe kam
0040Mendelssohn, auf der Reise nach Italien, selbst nach Wien 
0041und wohnte bei Hauser in der „Bärenmühle“ auf der Neuen
0042Wieden. Dieser Aufenthalt bei Hauser ist ihm unvergeßlich.
0043„Sie haben mir wieder,“ schreibt Mendelssohn aus Rom (1831),
0044„einen göttlichen Choral von Bach geschickt und selbst geschrie-
0045ben, und das Ganze sieht so zierlich und nett und doch ge-
0046lehrt aus, wie mein Zimmer in der „Bärenmühle!“ Und aus
0047Genua heißt es einige Monate später: „Sie glauben nicht,
0048wie ich täglich mit Dankbarkeit an die Tage denke, die ich
0049bei Ihnen im Bücherzimmer mit vier Fenstern wohnte! Sie
0050haben mir eine sehr frohe Zeit gemacht, und so lange mir die
0051Erinnerung daran bleibt, so lange werde ich’s Ihnen danken.
0052Das möchte ich aber gar zu gerne wieder einmal mündlich
0053thun und möchte wieder einmal einen ordentlichen Menschen
0054sehen, eine ordentliche Stimme hören und ordentliche Musik
0055machen können. Hier im kalten Italien gibt es dergleichen
0056nicht. Bewunderung und Verehrung hat man vollauf von den
0057Menschen, aber keine Freude. Sie sind herabgesunken oder
0058vielmehr sie sinken täglich, und das ist ein Jammer mit an-
0059zusehen. Daß sie keine Wahrheit und keinen Heldensinn haben,
0060wußt’ ich schon längst. Aber der grelle Widerspruch eines
0061warmen, blühenden, phantastisch schönen Landes über alle Län-
0062der, mit kalten, trockenen, ärmlich philisterhaften Menschen,
0063unter allen anderen Völkern, das hätt’ ich mir nicht so arg
0064gedacht. Wenn man mit einem kleinen Jungen spricht oder
0065Kinder nur ansieht und da noch das alte Feuer, den alten
0066Geist und die Lebendigkeit hervorsprühen sieht, und dann die
0067Aelteren, denen alle Richtung, alle Gesinnung fehlt, die so
0068durch und durch sittlich, also auch geistig verdorben sind —
0069man möchte zuweilen traurig darüber werden, und dann sehen
0070Berge, Bäume, Meer und Inseln so lächelnd d’rüber herein
0071und blicken so heiter und so schön, trotz allem Elend um sie
0072herum; es ist ein sonderbares Bild. Das erklärt auch, warum
0073es ehemals das Land der Kunst war; die Zeit ist längst
0074vorüber, und ob sie wiederkommt, weiß Keiner von
0075uns. Sollten Sie aber wol denken, daß ich eine un-
0076glaubliche Sehnsucht nach irgend einem gesunden Ton, einem
0077schönen Klang habe? Was das Volk hier singt, ist so ent-
0078setzlich barbarisch, die Stimmen so unrein und gemein roh,
0079daß man gewiß denkt, hier kommt ein Betrunkener der tau-
0080melt, bis man merkt, der Mann sei ganz nüchtern und singe
0081eine der berühmten Barcarolen.“ Aehnliche Klagen, stets ab-
0082wechselnd mit herrlichen Schilderungen italienischer Gegenden,
0083wiederholen sich in den Briefen aus Rom, von wo aus Men-
0084delssohn unter Anderem Hauser widerräth, ein Engagement
0085in Italien anzunehmen. „Daß kein Mensch hier eine Ahnung
0086von Ihnen haben kann, davon bin ich überzeugt. Das Beste,
0087was Sie haben, versteht hier Keiner, und dazu ist das Re-
0088pertoire so unglaublich klein, so nur auf Bellini beschränkt,
0089daß es Ihnen unmöglich auf einige Zeit nur erträglich sein
0090kann.“ „Wissen Sie woll noch,“ schließt Mendelssohn einen
0091Brief aus Rom vom März 1831, „daß ich an Ihrem Cla-
0092vier einmal eine Stelle aus Goethe’s „Erster Walpur-
0093gisnacht
“ componirte: „Doch ist es Tag, sobald man mag
0094ein reines Herz dir bringen“, und daß ich Sie nacher sehr
0095damit quälte, indem ich es Ihnen immer wieder vorspielte?
0096Mir baut sich das Ding nun zusammen, und ich werde das
0097ganze Gedicht als eine neue Sorte von Cantate componiren,
0098für Chöre und großes Orchester; es kann bunt genug werden,
0099denn es sind prächtige Elemente darin.“ Interessant ist
0100auch die Mittheilung Mendelssohn’s, daß er ein neu compo-
0101nirtes Lied an Hauser schicken wollte, als ihm zum Glücke
0102einfiel, „daß alle Briefe, die ich aus oder nach Oester-
0103reich geschrieben hatte, mit Noten darin, nicht angekommen
0104sind. Sie halten es für Chiffen; es ist wahrlich zu abge-
0105schmackt, aber noch neulich ist mir ein Brief an den alten
0106Sir George Smart, dem ich einen Canon schickte, wieder
0107aufgefangen worden und nicht angekommen.“ Von Luzern 
0108aus (August 1831) verabredet Mendelssohn ein Zusammen-
0109treffen mit Hauser in München, das auch glücklich zu Stande
0110kommt und den Freundschaftsbund noch enger knüpft. Von
0111da an erscheint in ihren Briefen das „Du“ an Stelle des
0112früheren „Sie“. Von einem kurzen Aufenthalte in Düssel-
0113dorf auf der Reise nach Paris (December 1831) meldet Men-
0114delssohn als die „Hauptsache“, daß Immermann ihm einen
0115Operntext schreibe, und zwar nach Shakspeare’s „Sturm“, worin
0116die Rolle des Caliban Hauser zugedacht sein soll. Opernprojecte
0117beginnen nun immer anhaltender Mendelssohn zu beschäf-
0118tigen; von Paris aus erkundigt er sich genau bei Hauser, wie
0119viel deutsche Theater-Directionen für einen Operntext zu
0120zahlen pflegen. Mendelssohn will in Immermann’s Namen
0121mit der Münchener Theater-Direction verhandeln und „möchte [2]
0122nicht, daß Immermann zu kurz käme bei seiner noblen Art,
0123die ganze Sache zu nehmen“. Aus Paris schreibt Mendelssohn 
0124manche feine Bemerkung über Kunst und Leben, hierauf aus
0125Berlin meistens Geschäftliches, Verleger-Angelegenheiten und
0126dergleichen. Die Herren Verleger zeigten sich häufig sehr
0127nachlässig im Antworten und sehr knickerisch in ihren An-
0128boten. Nach einer solchen Erfahrung schreibt Mendelssohn,
0129„daß ich mir den Teufel draus mache, ob mein Concert in
0130Deutschland erscheint oder nicht. Wenn ich stumpf oder todt
0131bin, werden sie mich loben“. Nicht ohne Schwierigkeit und
0132eifrigste Bemühung gelingt es Mendelssohn, dem Freunde
0133einen schematischen Katalog aller in Berlin befindlichen Com-
0134positionen Bach’s zu verschaffen. „Ich hoffe, du wirst mich
0135loben,“ schreibt er an Hauser, „und ich sage mit Angoulême,
0136als er von irgend einem lausigen Feldzug zurückkam: Mon
0137père, je suis content de moi.“ In diesem und in folgenden
0138Briefen (aus Berlin 1838) vertieft sich Mendelssohn in
0139Details über Bach’sche Manuscripte in äußerst interessanter
0140Weise, wobei der unbefangene, lebendige Kunstsinn stets die
0141Oberhand behält über blos antiquarisches Interesse. So zwei-
0142felt er keinen Augenblick an der Unechtheit einer vermeintlich
0143Bach’schen Passionsmusik nach dem Evangelium Lucas. „Es
0144thut mir leid, daß du für die „Passion St. Lucas“ so viel
0145Geld gegeben hast; zwar als unbezweifeltes Manuscript ist
0146es nicht zu theuer bezahlt, aber ebenso gewiß ist diese Musik
0147auch nicht von ihm.“ Und im nächsten Briefe setzt er fort:
0148„Du fragt, aus welchem Grunde der Lucas nicht von Seba-
0149stian Bach sein soll? Aus inneren. Es ist zwar fatal, daß
0150ich’s behaupten muß, denn sie gehört dir, aber kuck’ einmal
0151den Choral oder, wie es sonst heißt, „Tröste mich und mach’
0152mich satt“ an; wenn das von Sebastian ist, so lass’ ich mich
0153hängen, und doch ist’s unleugbar seine Handschrift. Aber es
0154ist zu reinlich, er hat es abgeschrieben. Von wem sonst? fragst
0155du. Von Telemann oder M. Bach oder Locatelli oder Alt-
0156nickel oder Jungnickel oder Nickel schlechtweg, was weiß ich?
0157Aber nicht von dem.“ Beiläufig taucht ihm (in Berlin 1833)
0158wieder der Gedanke auf, vielleicht im Sommer nach Wien 
0159zu kommen. „Dort gibt es doch noch lustige Menschen und
0160fruchtbares Land und schöne Mädchen. Hier ist nichts der-
0161gleichen, und was das Schlimmste ist, die Leute sind seit den
0162letzten drei Jahren stehen geblieben, das heißt zurückgegangen;
0163dazu sind die Mädchen so gebildet und so häßlich, daß es ein
0164Elend ist.“


0165Wie diese Berliner Briefe, so sind auch die darauffol-
0166genden Düsseldorfer aus den Jahren 1834 und 1835 nach
0167Leipzig adressirt, wohin Hauser inzwischen übersiedelt war.
0168Auf Hauser’s Wunsch nach neuen Liedern von Mendelssohn 
0169antwortet dieser: „Ich will in keinem Falle jetzt gerade ein
0170Liederheft wieder ediren, ich schlage mich wieder auf eine
0171Weile ins Ernsthafte, sonst hält mich das Lumpengesindel für
0172ihresgleichen und freuen sich über meine „fließende“ Schreib-
0173art, ein Wort, das ich nicht ausstehen kann.“ Aus Düssel-
0174dorf, wo Mendelssohn bekanntlich eine außerordentliche Thä-
0175tigkeit entwickelte, erhält er Hauser stets in Kenntniß von
0176seinen Plänen, Arbeiten und Erlebnissen. Die Oper beschäftigt
0177ihn sehr, und er wünscht Hauser für ein Gastspiel nach Düssel-
0178dorf zu gewinnen. Für einen Brief Hauser’s über die Ouver-
0179türe: „Meeresstille und glückliche Fahrt“ dankt Mendelssohn 
0180mit besonderer Wärme: „Weiß Gott, welche Freude es mir
0181macht, wenn auch ordentlichen Musikern wol ein Stück von
0182mir gefällt, wie du mir das von der Meeresstille schreibst
0183(mit euch meine ich hier dich, sonst Niemanden). Auch ist’s
0184mir lieb, wenn ich abgehe, als Maculatur, wenn’s nur geht.
0185Ich lese eigentlich wenig Sachen mit mehr Interesse, als das
0186Notenpapier, worin Simrock und Andere ihre Sendungen
0187einschlagen, und denke, „„die Leute haben ihr Stück auch lieb
0188gehabt und muß ihnen nun so gehen!““ und denke, das
0189arrivirt mir auch.“ So erfreut Mendelssohn über die Zu-
0190stimmung befreundeter Musiker ist, so gleichgiltig läßt ihn
0191das Urtheil der Musikzeitungen, von denen er sehr despectirlich
0192spricht: „Im Ernst, soll ich das Blatt lesen?“ fragt er
0193Hauser mit Bezug auf eine neue Musikzeitung, „was du
0194mir auch rathen magst, so lese ich’s doch nicht. Die einzige
0195musikalische Zeitung, die ich liebe, ist der Galignani Messenger,
0196weil er Reden von Lord Grey und Brougham etc. enthält,
0197die welthistorisch schön sind. Wie die Leute sprechen und
0198denken, wenn man das liest, beneidet man die Engländer
0199wider etwas, denn die deutsche Nation hat heute Niemanden,
0200den sie gegen Brougham stellen kann, als etwa Rellstab, und
0201kaum.“


0202Im September 1834 feiern die beiden Freunde ein
0203kurzes Wiedersehen in Leipzig und schließen einen förmlichen
0204Vertrag, daß Hauser am 15., Mendelssohn am 1. jeden
0205Monats schreiben soll. Auf dem Rückweg verweilt Mendels-
0206sohn in Kassel, wo damals M. Hauptmann (der später
0207berühmt gewordene Theoretiker und Cantor an der Thomas-
0208schule zu Leipzig) lebte. „Hauptmann suchte ich gleich Morgens
0209auf, und zu meiner Freude kann ich dir sagen, daß er mir
0210in allen Beziehungen eine so angenehme, wohlthuende Erschei-
0211nung war, wie ich lange nicht gesehen. Er ist erstlich durch
0212und durch gut und ernsthaft und ein wahrer Musiker, und
0213dann hat sein Wesen eine gewisse Ruhe ohne Kälte, Vor-
0214nehmheit ohne allen Dünkel, wie ich’s liebe. Ich fühlte mich
0215so recht behaglich mit ihm; wo wir einer Meinung waren,
0216freute mich’s, und wo wir auseinandergingen, war mir’s
0217wieder interessant — kurz du hast mir gewiß nicht zu viel von
0218ihm gesagt, und ich danke dir für den frohen Tag, den ich
0219mit ihm zugebracht habe. Nur Eins hat mir leid gethan an
0220ihm, das ist eine gewisse Resignation in seinem Wesen,
0221namentlich hinsichtlich der Compositionen, die mir nur durch
0222den Mangel an anregender, theilnehmender Umgebung, nicht
0223aus tieferen Gründen herzustammen schien; aber darum that
0224es mir doppelt leid, und ich gäbe was d’rum, wenn ich länger
0225mit ihm hätte zusammen sein können, um dem mehr nachzu-
0226spüren. Denn als wir über seine Messe sprachen und ich ihm
0227aufrichtig angab, was mir darin sehr zusagte und was nicht,
0228und als ich ihn bat, eine neue, noch bessere zu machen, die
0229die Fehler nicht hätte, an denen er sich stieß und die ihn selbst
0230mehr störten, als die Anderen wol, da wurde er lebendiger,
0231als ob es ihm neu wäre, daß ein Musiker an den Sachen
0232des anderen herzlichen Antheil nehmen kann, und er versprach
0233mir, eine neue Messe zu schreiben, und ich glaube, an dem
0234Tage dachte er ernstlich daran. Aber ich fürchte, wenn die
0235Zweifel dann wieder kommen, ohne daß sie Einer wegleugnet
0236und vertreibt, und wenn die Umgebungen wieder erkälten,
0237statt anzuregen, dann wird er wenig mehr in diese Stim-
0238mung zurückkommen oder die ganze Sache gar vergessen.
0239Doch schreibe ich ihm nächstens und erinnere ihn an sein Ver-
0240sprechen; das sollte schön sein, wenn ich’s wirklich dazu
0241brächte, daß er die Messe schriebe.“ Ich konnte mir’s nicht
0242versagen, diese ganze, den Besuch bei Hauptmann betreffende
0243Stelle aus Mendelssohn’s Brief hier mitzutheilen, weil sie
0244von der Bescheidenheit, Wärme und Liebenswürdigkeit
0245Mendelssohn’s ein deutlicheres Bild gibt, als spaltenlanges
0246Lob. — Interessant ist auch Mendelssohn’s Mittheilung über
0247eine Soirée in Kassel, in welcher er spielen mußte. „Ich
0248stellte mich ungeberdig genug an, und es gelang mir auch
0249schlecht. Einmal mag ich nun vor Hofmarschallinnen nicht
0250spielen, ich passe da nicht hin, und dann machte mich Spohr [3]
0251befangen. Er hatte mir den Morgen sein neues Oratorium
0252vorgesungen, ohne daß mir warm dabei geworden wäre, und
0253da denke ich immer, es müßte ihm bei meinen Sachen noch
0254schlimmer gehen, sie müßten ihm mißfallen. Denn er schreibt
0255doch seine Ueberzeugung hin, das muß wahr sein, und lügt
0256nicht dem Publicum zuliebe; darum bin ich ihm auch gut,
0257ob ich gleich das Wenigste von seiner Kirchenmusik und gar
0258keine enharmonische Verwechslung leiden kann.“


0259In Düsseldorf hatte bekanntlich Mendelssohn’s anfäng-
0260liche Begeisterung für das Theater und seine Harmonie mit
0261Immermann bald ein Ende: die kalte Realität verscheuchte
0262erbarmungslos die idealistischen Träume. Am 2. December
02631834 schreibt er an Hauser: „Seit ich das Theaterwesen
0264über Bord geworfen habe, ist mir sauwohl. Curios, Immer-
0265mann und einige Andere nehmen mir’s schrecklich krumm und
0266halten wenig auf mich, und so was ennuyirt mich sonst stark;
0267diesmal aber glitscht es ab, wie Wasser von einem Wachs-
0268tuchhut, und ich sitze darunter im Trockenen.“


0269Gegen Preisausschreibungen hatte Mendelssohn einen ein-
0270gefleischten Widerwillen. „In Wien,“ schreibt er (1835) an
0271Hauser, „haben sie für die beste Symphonie einen Preis von
027250 Ducaten ausgesetzt, und Seyfried, Umlauf und Conradin
0273Kreutzer und Consorten sollen’s entscheiden, lauter Kerls, die
0274keine Symphonie zusammenbringen können, und wenn sie sich
0275drei Jahre kasteiten. Wär’ es ein Comité von den besten Com-
0276ponisten der ganzen Welt, so möcht’ ich auch um keinen Preis
0277concurriren; der bloße Gedanke, daß ich eine Preismusik com-
0278ponirte, machte mich so unmusikalisch wie Umlauf und Seyfried 
0279zusammengenommen. Und hätte ich eine Symphonie fertig liegen,
0280so würde ich mich wohl hüten, die hinzuschicken, denn da können
0281die andern Leute drüber urtheilen, und am Ende findet sich’s
0282doch, ob sie was taugt oder nicht. Das ist so eine Art Treib-
0283hauscultur, und die 50 Ducaten sind das Mistbeet, ob aber
0284eine Cactus-Symphonie herauskommt, ist die große Frage.“
0285Auch mit seinem chronischen Librettoschmerz wendet sich Men-
0286delssohn um Rath an Hauser. „Wenn ich nur (schreibt er
0287aus Düsseldorf 1835) einen rechten Text kriegen könnte,
0288hungrig genug bin ich darauf, und wollte nicht übel darüber
0289herfallen. Aber Klingemann thut gar nichts und macht mir
0290keinen Vers, und sonst kenne ich keinen ordentlichen Dichter-
0291menschen. Jetzt muß ich darüber lachen, daß ich es einmal
0292mit Immermann hatte versuchen wollen. Bei diesen jetzigen 
0293Theater-Angelegenheiten habe ich den Mann und seinen mir
0294widrigen Charakter recht kennen gelernt, und sehe nun, wie
0295dumm das von mir war, so im Allgemeinen an einen
0296deutschen Dichter und dessen Frische zu glauben. Das geht
0297Alles in Vornehmigkeit und Selbstbewußtsein unter; wenn
0298Einer jetzt wol einen Vers macht, den die Journale loben
0299können, oder gar wirkliches Talent hat, so kriegt er gleich so
0300verteufelt viel Selbstbewußtsein, daß er gar nichts Andres
0301mehr weiß, und statt sich munter umherzutummeln und sich’s
0302sauer werden zu lassen, ruht er gleich auf den Lorbeern, die
0303er noch lange nicht hat. Gott bessere es; sind doch die Musiker
0304ebenso. Aber die Maler hier, die muß man loben; das sind
0305ordentliche Menschen, und fleißig und freuen sich ihres Lebens.“


0306Nach einigen Frankfurter und Berliner Intermezzos fol-
0307gen nun die Briefe fast ununterbrochen aus Leipzig, wo Men-
0308delssohn festen Fuß gefaßt. Von dort animirt er 1843 Hauser,
0309nach Leipzig zu kommen, nachdem er zwei Jahre früher ihm
0310abgeredet, ein Engagement in Berlin zu suchen.**) Der
0316Wunsch, Mendelssohn in Wien zu sehen, veranlaßt Hauser zu
0317einer Art Vermittlerrolle zwischen diesem und der Gesellschaft
0318der österreichischen Musikfreunde, welche den „Paulus“ gerne
0319unter Mendelssohn’s persönlicher Direction gegeben hätte.
0320Aus der Reise wurde bekanntlich nichts; Mendelssohn, an-
0321fangs geneigt, zu kommen, fühlte sich jedoch durch das wenig
0322correcte und wenig rücksichtsvolle Benehmen der „Gesellschaft“
0323bald zum entgegengesetzten Entschlusse veranlaßt. Seine aus-
0324führlichen Briefe über diesen Punkt sind für die früheren
0325Musikverhältnisse in Wien und namentlich für die gedachte
0326„Gesellschaft“ nicht eben rühmlich. Auf das angelegentlichste
0327empfiehlt Mendelssohn im Jahre 1846 seinem Freunde Hauser 
0328die Jenny Lind. „Ich bilde mir ein, es muß dir mit
0329ihr so gehen, wie mir, dem sie eigentlich niemals eine Fremde,
0330sondern wie eine „von den Unsrigen“ (von der unsichtbaren
0331Kirche, über die du mir sonst zuweilen schriebst) erschienen
0332ist. Sie zieht mit uns Allen, die wir’s mit der Kunst redlich
0333meinen, Einen Strang, denkt an dasselbe, strebt nach demsel-
0334ben, und darum ist alles Gute, was ihr in der Welt wider-
0335fährt, mir genau so schmeichelhaft, als wenn’s mir selbst wi-
0336derführe, und hilft mir und uns Allen ebenso gut weiter.
0337Und dir, dem Sänger, muß es noch gar eine beson-
0338dere Freude sein, diese Vereinigung von glücklich-
0339ster Anlage, tiefstem Studium und innerster Herz-
0340lichkeit einmal endlich zu finden.“ — In den letz-
0341ten Briefen Mendelssohn’s tritt sein Wunsch, nach
0342Wien zu kommen, immer bestimmter auf. „Wahr-
0343haftig, ich muß einmal nach Wien,“ schreibt er im
0344Mai 1846 an Hauser, „ich höre doch gar zu viel rechts und
0345links davon erzählen, und ihr sagt mir Alle so viel Freund-
0346liches über meine Musik und so viel Außerordentliches über
0347ihre Ausführung dort, daß mir der Mund sehr wässerig wird.
0348Vielleicht bring’ ich den „Elias“ an, wenn er ganz neu ist,
0349so gegen den Winter, oder ich warte, bis ich einen Opernstoff
0350gefunden und componirt habe und bis die Jenny Lind wieder
0351einmal da ist — und das Letztere wäre mir das Liebste —
0352aber auf irgend eine Art hoffe ich mir doch eure Kaiserstadt 
0353einmal selbst anzusehen, und dann gehe ich zuerst nicht nach
0354dem Stephansthurm, auch nicht zum Sperl, sondern in die
0355Bärenmühle. Aber da wohnst du freilich nicht mehr — also
0356dahin, wo du wohnst!“ — Leider ist dieser Plan, auf dessen
0357Realisirung Hauser sich wie ein Kind gefreut, durch den frühen
0358Tod Mendelssohn’s in traurigster Weise vereitelt worden.
0359Während sich in Wien Alles zum frohen Empfange des Mei-
0360sters und zur ersten Aufführung des „Elias“ rüstete, kam
0361ganz unerwartet die Nachricht von seinem Tode, am 4. No-
0362vember 1847. Seine letzten Briefe an Hauser schrieb Men-
0363delssohn am 27. September 1846, kurz nach seiner Rückkehr
0364aus England nach Leipzig. Der heiter scherzende Schluß ist
0365weit entfernt von jeder Ahnung, daß es der letzte Brief an
0366den Freund, der letzte Gruß im Leben sei! Dieser Schluß
0367lautet: „Bleib’ mir gut, deinem alten, sehr unveränderlichen,
0368aber sehr eiligen, aber sehr vergnügten, die Seinigen sehr wohl
0369angetroffen habenden, sehr faulen, die Deinigen tausendmal
0370grüßenden, einen miserablen Briefstyl schreibenden, mit seinen
0371fünf Kindern fast täglich spazieren fahrenden, ihnen Kuchen kau-
0372fenden, sie möglichst erziehenden und dennoch fast gelbschnäb-
0373lichen, burschikosen und die verfluchten Philister von ganzer
0374Seele perhorrescirenden, wohlbekannten Felix Mendelssohn-
0375Bartholdy m. p.“

Fußnoten
  • *)Dieser Wunsch wurde erst 32 Jahre später erfüllt, durch die
    erste Aufführung der „Matthäus-Passion“ im Jahre 1862.
  • **)Dieser Brief, ddo. Berlin, 12. October 1841, ist seltsamer-
    weise das einzige an Hauser gerichtete Schreiben Mendelssohn’s, wel-
    ches in die gedruckte Sammlung Mendelsohn’scher Briefe (2. Band,
    S. 306) aufgenommen wurde. Und doch hat Hauser dem Heraus-
    geber den ganzen reichen Briefschatz zur Disposition gestellt.