Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2411. Wien, Samstag, den 13. Mai 1871
[1]Italienische Oper.
Wien, 12. Mai.
0003Ed. H. Zwei Operngesellschaften wirken zur Stunde
0004gleichzeitig in Wien: die stabile deutsche des Hofoperntheaters
0005und eine italienische Gast- oder Wandergesellschaft, welche
0006unter Führung des Impresario Pollini sich im Theater
0007an der Wien niedergelassen hat. Die zwei ersten Opern der
0008italienischen Sänger, Rossini’s „Barbier“ und Donizetti’s
0009„Don Pasquale“, haben das Wiedener Theater bis an
0010die Decke gefüllt, und an denselben zwei Abenden erzielte das
0011Hofoperntheater mit „Troubadour“ und „Jüdin“ seine höchsten
0012Einnahmen. Hier wie dort kein Billet zu haben. Diese
0013Wahrnehmung eröffnete einen erfreulichen Blick auf das An-
0014wachsen künstlerischen Bedürfnisses in Wien und bestätigte
0015unsere an dieser Stelle wiederholt ausgesprochene Ansicht von
0016der Lebensfähigkeit einer zweiten Opernbühne in Wien. Wie
0017Laube’s im Entstehen begriffenes „Stadttheater“ ohne Zweifel
0018den Beweis liefern wird, daß es auf einer richtigen Voraus-
0019setzung fuße, nämlich der Existenz-Berechtigung eines zweiten
0020Schauspieles neben dem nicht mehr ausreichenden Burgtheater,
0021so muß auch die Errichtung einer zweiten, kleineren Opern-
0022bühne in Wien täglich mehr Aussicht gewinnen. Ja, die
0023Chancen der letzteren dürften insofern noch günstiger stehen,
0024als sie dem Hofoperntheater nicht auf gleichem Boden Con-
0025currenz machen, sondern abseits vom Ballet und der Großen
0026Oper das kleinere Genre pflegen, sich als Spieloper constitui-
0027ren würde. Die oben erwähnten Doppelvorstellungen haben
0028gezeigt, daß die Große Oper selbst mit längst bekannten, stark
0029abgespielten Werken eine ungeschwächte Anziehungskraft be-
0030hauptete, während gleichzeitig ein hinreichend großes Publicum
0031sich nach dem ruhigeren, erheiternden Genusse der Opera buffa
0032sehnt. Letztere ist aus dem Hofoperntheater so gut wie aus-
0033geschlossen oder fällt doch nach einigen schwachen Anläufen
0034immer wieder von selbst heraus. Musikalische Lustspiele, wie
0035die Lortzing’schen, wie die meisten französischen, wie die von
0036Rossini und Donizetti, gibt man dort nicht, kann man zum
0037größten Theile gar nicht geben. Eine zweite, kleinere Oper —
0038räumlich und musikalisch kleiner — könnte in Wien Besitz
0039ergreifen von den vereinigten reichen und reizvollen Gebieten der
0040italienischen Opera buffa, der französischen Opéra comique und
0041des (im weiteren Sinne zu fassenden) deutschen Singspieles.
0042Bezüglich der Opera buffa hat sich die Empfänglichkeit unseres
0043Publicums vollauf bewährt in den beiden Antrittsvorstellungen
0044der Italiener: „Barbier“ und „Don Pasquale“, so bekannt
0045auch diese Opern und so unbekannt (mit einer einzigen Aus-
0046nahme) ihm die Sänger waren. Diese Ausnahme, wie wir
0047nicht erst zu sagen brauchen, ist Désirée Artôt.
0048Es war im Jahre 1862, daß diese eminente Künstlerin
0049zum erstenmale (in Treumann’s Kaitheater) hier gastirte und
0050das Publicum unter Anderem mit ihrem unvergleichlichen
0051Vortrag des „Bacio“ enthusiasmirte, einem unbedeutenden
0052Walzer, mit welchem weder vor noch nach der Artôt irgend
0053eine Sängerin in Wien durchgriff. Der Erfolg dieses ersten
0054Gastspieles war um so schmeichelhafter für Fräulein Artôt,
0055als ihre Leistungen im Kaitheater einem süßen Kern in stach-
0056liger Schale glichen. Die störende Umgebung der Primadonna
0057und das barbarische Sprachengemenge hinderten den vollen
0058und reinen Genuß. Dieser wurde uns erst, als Désirée
0059Artôt im Frühling 1864 an der italienischen Stagione im
0060Kärntnerthor-Theater theilnahm und noch im Laufe desselben
0061Jahres bei der deutschen Oper daselbst gastirte. Wer erinnert
0062sich nicht ihrer beiden vortrefflichen Rollen in deutscher Sprache:
0063Gretchen im „Faust“ und Angela im „Schwarzen Domino“!
0064Ihre Beliebtheit schien damit den Gipfel erreicht zu haben,
0065und dennoch ging’s im Frühling 1866 noch eine Stufe
0066hinauf. Da wirkte das unvergleichliche Sänger-Quartett:
0067Artôt, Calzolari, Everardi und Zucchini zusammen, um Opern
0068wie den „Liebestrank“, „Cenerentola“, „Barbier von Sevilla“
0069u. s. w. zu wahren Mustervorstellungen zu erheben. Mit
0070diesem kleinen, auserwählten Verein läßt sich die gegenwärtig
0071gastirende Pollini’sche Gesellschaft in ihrer Totalwirkung freilich
0072nicht vergleichen. Zwischen dem Tenoristen Minetti und
0073Meister Calzolari gähnt eine Kluft, so groß beinahe wie
0074der Abstand des Signor Bossi von dem unwiderstehlichen
0075Buffo Zucchini. Auch Signor Padilla, obgleich ein
0076gewandter und begabter Sänger, steht an Gesangskunst und
0077natürlicher Laune ohne Frage hinter Everardi. Nur die
0078Artôt ist glücklicherweise wieder da und dieselbe geblieben —
0079beinahe. Wir haben im Laufe der letzten Jahre so oft und
0080warm von dem großen Talente dieser Künstlerin gesprochen,
0081es in den verschiedensten Rollen so sorgsam begleitet, daß es
0082überflüssige Wiederholung wäre, es wie etwas Neues, Fremdes
0083abermals zu schildern. Wer einen Begriff von Gesangskunst
0084und einigen Sinn dafür hat, der kann den Leistungen der Artôt nur
0085mit freudiger Bewunderung folgen. Die treffliche, besonders im
0086Mezza-voce reizende Tonbildung, die erstaunlich ausgebildete
0087Virtuosität bei müheloser, spielender Beherrschung aller Schwie-
0088rigkeiten, die geistreiche Feinheit des Details, endlich über dem
0089Ganzen der wohlthuende Hauch feiner Bildung und maßhal-
0090tender Grazie — Eines reicht dem Anderen die Hand, um den
0091Gesangsleistungen der Artôt den Kranz der Meisterschaft zu
0092winden. Madame Artôt-Padilla hat, seitdem wir sie
0093zuletzt gehört (1867), an Stärke nicht blos des Körpers, son-
0094dern auch der Stimme ohne Frage zugenommen. Die höch-
0095sten wie die tiefsten Töne klingen voller und kräftiger; hin-
0096gegen scheint uns die Stimme etwas von dem sammtweichen
0097Schmelz, von jenem süßen Flötenton eingebüßt zu haben, der
0098ihr früher so eigenthümlich war. Das Organ hat jetzt,
0099namentlich bei stärkerem Ansatze, einen mehr schmetternden
0100Charakter, und im Bewußtsein dieses Kraftzuwachses liebt es
0101die Künstlerin, viele Stellen energischer als sonst herauszu-
0102singen. Stimme und Persönlichkeit, Spiel und Vortrag zeigen
0103somit eine kleine Veränderung nach Seiten des Kräftigen,
0104Energischen hin — ein Gewinn, welcher kaum ohne eine kleine
0105Einbuße an der ursprünglichen Feinheit und Zierlichkeit zu
0106denken ist. Noch mehr als in früheren Jahren gefällt sich
0107Madame Artôt in dem sturmwindartigen plötzlichen Crescendo
0108und Decrescendo, mit welchem sie rapide Scalenläufe hinauf-
0109und herabschleudert — ein Bravourstückchen, das allerdings sei-
0110nen Effect nie verfehlt. Das Vollendetste, was wir diesmal
0111von der Artôt gehört, ist ihr Vortrag eines römischen Volks-
0112liedes: „La Mandolinata“, das auch in der concertmäßigen
0113Appretur (durch Badili) seine Originalität nicht eingebüßt
0114hat. Madame Artôt legt es in die „Gesangslection“ der
0115Rosina ein und singt es bezaubernd.
0116Die beiden Rollen, mit welchen Madame Artôt ihr Gast-
0117spiel eröffnete, passen ihr vortrefflich: Rosina im „Barbier“
0118und Norina im „Don Pasquale“. Die erste Rolle ist
0119durch zahlreiche Wiederholungen bekannt, die zweite sang Ma-
0120dame Artôt in Wien zum erstenmale. Sie versteht es, das
0121bösartige Geschöpf mit dem melodischen Namen Norina an-
0122ziehend, ja beinahe liebenswürdig zu machen. Der Inhalt [2]
0123des ganzen „Don Pasquale“ ist bekanntlich nichts Anderes
0124als eine fortgesetzte unerhörte Prellerei eines alten Herrn, der
0125am Ende kein anderes Verbrechen beging, als alt und eitel
0126zu sein. Die junge hübsche Norina nimmt keinen Anstand,
0127unter gleißnerischer Maske sich den Alten förmlich zum Gat-
0128ten zu erschmeicheln und zu erlügen, blos damit er alle Qua-
0129len und Impertinenzen, die sie gleich nach Abschluß des Con-
0130tractes ihm zufügt, ihr mit einer erklecklichen Summe ab-
0131kaufe. Das einzige Motiv, das einen mildernden Schein auf
0132diese Gaunerei werfen könnte — Norina’s Liebe zu dem nicht
0133reichen Ernesto — ist vom Dichter wie vom Componisten nur
0134sehr schwach accentuirt. Chamisso’s Refrain: „Katzennatur,
0135Katzennatur!“ ist das richtige Motto für den Charakter die-
0136ser Norina. Die Rosina im „Barbier“ steht wie eine Heilige
0137dagegen; ist doch sie die Gequälte, die aus Nothwehr, frei-
0138lich nicht ohne Wonne, einen tyrannischen Vormund hinter-
0139geht, welcher sein vom Leben abgesperrtes Opfer schließlich
0140auch zu Tode heiraten will. Auch im „Barbier“ ist Rosina’s
0141Liebe zu Almaviva schwach betont. Rossini hat dem Figürchen
0142allen erdenklichen Glanz und Esprit, aber keinen
0143Athemzug Gemüth gegeben. Musikalisch befindet sich die
0144Darstellerin der Norina ungefähr in gleicher, drama-
0145tisch in viel schwierigerer Lage. Gemüth wird keine
0146Sängerin diesem Charakter einhauchen können, der vom Dich-
0147ter gefallsüchtig und herzlos geschaffen ist. Im glücklichsten
0148Falle vermag sie einen Grundton muthwilliger Heiterkeit und
0149Laune anzuschlagen, der die ganze Fopperei mehr als den
0150Spaß eines übermüthigen Kindes erscheinen läßt, denn als
0151die ausgeklügelte Kriegslist einer geriebenen Kokette. Diesen
0152Rettungsweg hat seinerzeit Adeline Patti, ihrer kleinen, be-
0153weglichen Persönlichkeit entsprechend, eingeschlagen und mit der
0154frischen, natürlichen Laune eines enfant gâté behauptet.
0155Madame Artôt besitzt zu viel Kunstverstand, um zu über-
0156sehen, daß für die Reife und Fülle ihrer Erscheinung nicht
0157sowol kindischer Uebermuth als geistige Ueberlegenheit das
0158passendere Ausdrucksmittel biete. Und im Ausdrucke dieser
0159geistigen Ueberlegenheit dem einfältigen Pasquale gegenüber
0160war sie nahezu großartig. Sie hielt sich überwiegend an die dem
0161Libretto zu Grunde liegende Originalfigur, an die „Listige
0162Witwe“ von Goldoni. Die zwei contrastirenden Hälften,
0163in welche das Benehmen Norina’s zerfällt (die angelnde Ko-
0164ketterie vor dem Contracte und nachher die Grausamkeit
0165gegen den gefangenen Fisch), waren so viel als möglich durch
0166Laune und Anmuth ausgeglichen. Gesanglich strahlte die ganze
0167Rolle in flitterlosem Glanze. Die geschmackvolle Vertheilung
0168von Licht und Schatten, von Nachdruck und Weichheit, die
0169Lebendigkeit des Vortrages, die bis in die einzelne musikalische
0170Phrase Feuer und Mannichfalt brachte, die Beherrschung der
0171Bravour durch ein bis zur Vollendung geschultes Stimm-
0172Material und vor Allem die künstlerische Beseelung der (an
0173sich oft leeren) Tonreihen gaben der Leistung Madame Artôt’s
0174das ausgezeichnetste Gepräge.
0175Was die übrigen Mitglieder der Pollini’schen Gesellschaft
0176betrifft, so steht jedenfalls Herr Padilla seiner Gattin
0177Désirée Artôt künstlerisch am nächsten. Gehalt und Umfang
0178seines fast die Tenorlage erreichenden Baritons sind stattlich
0179genug, die Behandlung der Coloratur ist sehr geläufig, die Er-
0180scheinung elegant und beweglich, das Spiel äußerst gewandt.
0181Nur allzu viel des Guten that Herr Padilla in letzterem Punkt,
0182er brachte als Figaro so viel Detail, so übermäßig schildernde
0183Mimik, daß z. B. die erste Arie ganz zerpflückt erschien. Ein
0184Sänger überzeugt nicht, wenn er jede Note ein- und zweimal
0185mimisch unterstreicht und musikalisch Zusammengehöriges durch
0186pantomimische Einschiebsel trennt. Auch rein musikalisch be-
0187trachtet, ist Padilla’s Vortrag mehr detaillirt und raffinirt als
0188seelenvoll, das geistreiche Spiel mit scharf geschliffenen Pointen
0189behält stets die Oberhand über die natürlich ausströmende
0190Empfindung. Möglich, daß Herr Padilla am ersten Abend
0191sich durch besonders aufgeregtes Spiel aus einer gewissen Be-
0192fangenheit herausarbeiten wollte; als Malatesta im Don
0193Pasquale war er in Gesang und Spiel viel ruhiger und
0194natürlicher. Letztere Rolle verdient unbedingtes Lob. Der
0195Tenorist Signor Minetti besitzt eine von den Halsstimmen,
0196die bei jugendlichen Tenoren durch Weichheit und Schmelz
0197sehr anmuthen können, bei denen jedoch der jugendfrische Duft
0198des Klanges unersetzlich ist. Herr Minetti hat leider diese
0199Zeit der Blüthe hinter sich. Sein Ansatz ist mühelos,
0200Portamento und Coloratur verrathen eine gediegene Technik,
0201welcher nur die Kunst fehlt, den Ton verschiedener zu färben.
0202Man hört bei Minetti stets die gleiche Klangfarbe, und diese
0203wird bei einigermaßen starkem Ansatz scharf und hart. Dra-
0204matisch verkörpert Herr Minetti das phlegmatische Tempera-
0205ment mit einem Stich ins gutmüthig Philiströse. Als Ernesto
0206im „Don Pasquale“ sah er aus wie ein Schulmeister, der
0207früher beim Militär war. Das hindert nicht, Herrn Minetti
0208als einen durchaus anständigen tüchtigen Sänger anzuerkennen.
0209Am wenigsten hat uns der Baßbuffo Signor Bossi
0210(nicht Rossi, wie es durch einen Druckfehler anfangs lautete)
0211befriedigt. Er hat zwar mehr Stimme, als die meisten sei-
0212ner italienischen Buffo-Brüder, allein er verwendete sie fast nur
0213forte und fortissimo, und da klingt sie unangenehm roh und
0214starr. Wenn man Herrn Bossi so ununterbrochen, auch in
0215den gleichgiltigsten Secco-Recitationen, mit voller Stimme
0216singen hört, glaubt man einen Tauben vor sich zu sehen, der
0217seine ganze Umgebung für taub hält und demgemäß anschreit.
0218Als Don Bartolo wirkte er durch die traditionellen Lazzi,
0219die er in Spiel und Gesang mit großer Sicherheit, aber wenig
0220natürlichem Humor handhabt. Die Rolle des Don Pasquale
0221(für Lablache geschrieben) macht viel größere Anforderun-
0222gen, welchen der starre Al fresco-Gesang Bossi’s kaum zur
0223Noth genügen kann. Was ein Baßbuffo von echter komi-
0224scher Kraft aus dieser dankbaren Rolle machen kann, hat man
0225an Zucchini und Anderen gesehen. Wer noch in lebhafter
0226Erinnerung hat, wie köstlich Zucchini die eitle Selbstgefällig-
0227keit und Lüsternheit des alten Pasquale in Haltung und Miene
0228ausdrückte, der erschrickt fast über die finstere Galeeren-Phy-
0229siognomie, mit welcher Bossi’s Pasquale auftritt. Wir hören,
0230daß Bossi, bisher in ernsten Baßpartien beschäftigt, sich jetzt
0231zum erstenmale als Buffo versucht — das würde Manches
0232erklären und entschuldigen. Ein wahres und großes Komiker-
0233talent, im Gegensatze zu dem angelernten des Herrn Bossi,
0234entfaltete Herr Ronconi in der kleinen Rolle des Don
0235Basilio. Gleich seinem berühmteren Bruder Giorgio Ronconi
0236hat unser Sebastian Ronconi aus den Stürmen einer nahezu
023740jährigen Operncarrière nur mehr bescheidene Stimmreste
0238gerettet; zum Unterschied von jenem, dem Distoniren ret-
0239tungslos verfallenen Giorgio, singt er aber richtig. Sein Don
0240Basilio ist eine vollendete Jesuiten-Figur von drastischer
0241Komik. In Bezug auf Chöre und Orchester ist es rathsam,
0242recht bescheidene Anforderungen ins Theater an der Wien
0243mitzubringen; die Tempi des Herrn Capellmeisters Genée
0244zeichnen sich, besonders im „Don Pasquale“, durch behutsame
0245Langsamkeit aus. Der Beifall des Publicums in beiden ita-
0246lienischen Vorstellungen war allgemein und stürmisch.