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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2530. Wien, Sonntag, den 10. September 1871

[1]

Hofoperntheater.

(„Die Meistersinger.“ Herr Betz. Fräulein Murska. „Fantasca“. „Die Weiße Frau“.)


0003Ed. H. Ein günstiges Geschick ließ mich von einer Bade-
0004reise gerade rechtzeitig eintreffen, um noch Herrn Betz in
0005seiner letzten Gastrolle als Hanns Sachs zu hören. Schon
0006von der ersten Münchener Aufführung der „Meistersinger“
0007her war mir diese musterhafte Leistung bekannt; seither hat
0008Betz nichts von dem Mark und Umfang seiner Stimme ein-
0009gebüßt, wenn sie auch in der weit günstigeren Akustik des
0010Münchener Theaters etwas stärker klang. In der Kunst des
0011Vortrages ist Herr Betz noch fortgeschritten; die Correctheit
0012und Eleganz seiner Declamation, von der Deutlichkeit des
0013einzelnen Wortes bis zu der klaren Auseinandersetzung ganzer
0014complicirter Perioden, kann kaum noch gesteigert werden. In
0015dem Monolog und den Dialogen des dritten Actes bringt
0016Betz eine Nuancirung des Tones, ein Mezza voce im Sprech-
0017gesang, welche dem letzten Ideal einer Vereinigung von Rede
0018und Gesang ganz nahe kommt. Betz sucht nicht etwa durch
0019gewaltsame Deutlichkeit, durch starkes Accentuiren den decla-
0020matorischen Anforderungen gerecht zu werden, im Gegentheil
0021behandelt er viele Stellen ganz leicht, in flüchtigem Conver-
0022sationston, wodurch nicht nur der Eindruck ein weit natür-
0023licherer wird, sondern obendrein die langwierigen Reden des
0024Hanns Sachs viel von ihrer lästigen Monotonie verlieren.
0025In Miene und Bewegung bleibt Betz von Anfang bis zu
0026Ende schlicht und bürgerlich, nirgends schlägt das heroische
0027Pathos Lysiart’s oder Pizarro’s seinem Hanns Sachs in den
0028Nacken. Leider habe ich Herrn Betz nur in den „Meister-
0029singern“ gehört, kann somit auch nicht beurtheilen, ob und
0030wie weit seine anderen Rollen (man behauptet dies nament-
0031lich von Don Juan und Nelusco) hinter Hanns Sachs zurück-
0032stehen. Es ist sehr möglich, daß solche Partien sich dem
0033reflectirenden Wesen dieses Künstlers nicht recht assimiliren,
0034daß er uns Manches schuldig bleibt, wo leidenschaftliches
0035Ausströmen des Gefühles uns unmittelbar mit fortreißen soll.
0036Leicht möglich auch, daß unser Publicum, etwas verwöhnt
0037von dem blendenden Effect der „offenen“ Töne anderer
0038Baritonisten oder von der italisirenden Manier im Vortrag 
0039der Schlußphrasen, auch diese an Herrn Betz vermißt hat,
0040deren Abgang eben keinen künstlerischen Mangel bedeutet.
0041Außer Zweifel dünkt mir jedoch das Eine: daß Herr Betz in
0042der Rolle des Hanns Sachs vollendet und ohne Rivalen da-
0043steht. Frau Dustmann, welche am selben Abend zum ersten-
0044mal in den „Meistersingern“ mitwirkte, ist die beste Eva,
0045die man in Wien gehört. Fräulein Ehnn, so ausgezeichnet
0046in dem engbegrenzten Kreise ihrer Lieblingsrollen, sang die
0047Eva mit auffallender Gleichgiltigkeit und trachtete auch so
0048schnell als möglich, dieser undankbaren Rolle sich zu entledi-
0049gen. Frau Dustmann, eine echte Künstlernatur, ist immer
0050bei der Sache, immer voller Hingebung an jede Rolle, die
0051sie eben darstellt. Daß jüngst diese Hingebung mitunter etwas
0052zu viel that, kann Niemand verübeln. Man kennt die Auf-
0053regung, mit welcher Frau Dustmann zum erstenmale eine
0054neue Rolle spielt; auch ist diese Eva-Rolle ganz dazu ange-
0055than, gerade eine gereiftere Künstlerin zu allzu lebhafter Be-
0056tonung des Naiven zu verleiten. Die nächsten Wiederholungen
0057werden die nöthige Ruhe schon hinzubringen. Im dritten
0058Acte ist Frau Dustmann jetzt schon vollendet; ihr stummes
0059Spiel beim Eintritt des Ritters in die Werkstatt war von
0060plastischer Schönheit und hinreißender Empfindung, der Vor-
0061trag des Quintetts zart und innig. Nach dieser Scene fiel
0062ein schöner Blumenkranz Frau Dustmann zu Füßen; der
0063stürmische Beifall des Publicums ratificirte diese Huldigung
0064eines Einzelnen und machte sie zur Huldigung Aller. Gewisser-
0065maßen ein Gegenstück zu Frau Dustmann’s dramatischem Eifer
0066bildete die auffallende Passivität des Herrn Rokitansky,
0067welcher die Rolle Pogner’s mit halber Stimme, schlaff herab-
0068hängenden Armen, fast mit geschlossenen Augen absang. Ein
0069neben mir sitzender fremder Künstler fragte wiederholt, ob das
0070wirklich Rokitansky sei, der „junge“, der „berühmte“ Roki-
0071tansky? Gern hätte ich den geschätzten Sänger für einen
0072entfernten Bruder ausgegeben, so uralt und rühmlos sang
0073dieser junge berühmte Rokitansky. Da Herr Rokitansky in
0074den ersten Vorstellungen der „Meistersinger“ gezeigt hat, daß
0075er es besser kann, so bedarf es vielleicht nur dieser freund-
0076schaftlichen Mahnung, damit er es auch wieder besser mache.


0077Herr Betz sang einige Stellen, die bisher auf ausdrück-
0078liches Begehren unseres trefflichen einheimischen Sachs-Dar-
0079stellers, des Herrn Beck, gestrichen waren. Es gewährte un-
0080leugbar Interesse, diese Stellen (im Monolog „Wahn!“ und 
0081dem darauf folgenden Zwiegespräch mit Stolzing) einmal zu
0082hören. In Hinkunft würden wir sie aber lieber wieder ent-
0083behren. Gewiß liegt es im Vortheil der ganzen Scene, daß
0084Stolzing nach den Worten: „Ich hatte einen wunderschönen
0085Traum“, gleich die schöne Erzählung dieses Traumes vor-
0086trage, mit Ueberspringung des dazwischen sich ausbreitenden
0087trostlosen Dialogs. Selbst vom Standpunkt unbedingter
0088Wagner-Verehrer muß man gegen die unverkürzte Aufführung
0089der „Meistersinger“ und für ausgiebige Striche darin plaidi-
0090ren. Wenn eine Oper, deren complicirter Styl und berau-
0091schende Tonmasse ohnehin an die Aufnahmsfähigkeit der Hörer
0092die höchsten Ansprüche macht, von 1/3 7 bis 3/4 11 Uhr dauert,
0093so ist damit wol die Grenze des Zulässigen oder Zweck-
0094mäßigen erreicht. Die Kürzungen, mit welchen die „Meister-
0095singer“ hier eingeführt wurden, waren quantitativ unbedingt
0096nothwendig und sind qualitativ die besten, die sich überhaupt
0097darbieten. Und trotz dieser Kürzungen, in welch deprimirtem
0098Zustand findet nicht die zweite Hälfte des dritten Actes (also
0099gerade das beste Stück der Oper) die Hörerschaft vor! Die
0100musikalische Aufnahmsfähigkeit des Menschen unterliegt Natur-
0101gesetzen, die man nicht verhöhnen darf, ohne daß sie sich an
0102dem Werke und dessen Autor sofort selbst rächen. Ueber die
0103Kürzungen in den „Meistersingern“ zu klagen, vermag wol
0104nur blinder Fanatismus oder jene systematische Tadelsucht,
0105welche man neuestens in einem Theil der Wiener Musikkritik
0106wieder bemerkt. Seltsam, daß die zahlreichen, aus halb
0107Europa hier zusammenströmenden Fremden von den Auffüh-
0108rungen im neuen Opernhaus mit höchster Achtung, ja mit
0109Bewunderung sprechen, während man aus der Lectüre gewisser
0110Wiener Kritiker vermuthen möchte, unsere Oper stünde unge-
0111fähr auf dem Niveau von Olmütz oder Reichenberg! Was
0112namentlich die „Meistersinger“ betrifft, so wird man sie im
0113Großen und Ganzen nirgends besser hören, und was die
0114Hauptsache, die unvergleichliche Rhythmik und Nuancirung im
0115Orchester betrifft, gewiß nirgends so gut hören, als unter
0116Herbeck’s Leitung in Wien.


0117Neben dem Gastspiel von Betz war es Taglioni’s Ballet
0118Fantasca“, was das größte Aufsehen machte im neuen
0119Opernhause. „Fantasca“ darf für die beste Tanznovität seit
0120Flick und Flock“ gelten; sie ist überdies die glänzendste
0121Balletvorstellung, deren sich unsere Bühne rühmen kann. Eine
0122bunte Reihenfolge grotesk komischer Abenteuer und Hexereien, [2]
0123beinahe eine Comödie für Kinder, toll, aber unterhaltend. In
0124keinem Kunstzweige wird uns das „genre ennuyeux“ so
0125furchtbar, die Langweile so langweilig, wie im Ballet. Der
0126lustige Unsinn, der sich wohlgemuth als solcher gibt und als
0127solcher ergötzt, ist tausendmal besser, als der getanzte tragische
0128Unsinn, der ernsthaft genommen sein will und sich untersteht,
0129uns rühren zu wollen. Von der specifisch dramatischen Be-
0130deutung und Fähigkeit des Ballets überhaupt hege ich eine
0131geringe Meinung; kennt es doch keinen dramatischen Conflict,
0132sondern nur äußerliche Hemmnisse und äußerliche Ueberwin-
0133dung derselben, keine Charaktere, sondern nur eine allgemeine
0134Färbung durch Empfindungen. Daher wirken gute komische
0135Ballete immer befriedigender als ernste; jene beruhen mehr
0136auf dem Thatsächlichen, auf dem Augenfälligen der Begeben-
0137heit, das leicht zu verstehen und kaum zu mißdeuten ist.
0138Fantasca“ wirkt durch eine glückliche Vereinigung des Ko-
0139mischen mit dem Wunderbaren, aus welcher eine fast unab-
0140sehbare Zahl von prachtvollen und lustigen Ueberraschungen
0141hervorgeht. Dieses Feuerwerk von Zaubereien läßt uns kaum
0142zur Besinnung kommen und macht die Novität auch für große
0143Kinder unterhaltend. Die unterseeischen Abenteuer in „Flick
0144und Flock“ werden hier gleichsam durch ihre ritterlichen
0145Doppelgänger Floramour und Espéron auf der Erde fortge-
0146setzt, im Urwald, auf dem Nordpol u. s. w. Ihr Aufenthalt
0147in der verhexten Küche wimmelt von ergötzlichen, zum Theile
0148ganz neuen Thorheiten. In der choreographischen Ausfüh-
0149rung dieses Zaubermärchens sind die langwierigen Soli, die
0150getanzten Adagios, die zur Verzweiflung treibenden Elegien
0151auf den Fußspitzen fast gänzlich zurückgedrängt; Ensemble-
0152tänze, Massen-Entfaltungen, malerische Gruppen-
0153Effecte herrschen vor. Dabei hat die Decorationskunst
0154und Maschinerie natürlich eine hervorragende Rolle zu
0155spielen und spielt sie bewunderungswürdig. Wo einmal
0156ein selbstständiges Ballet gepflegt wird, wie in Wien und
0157Berlin, da läßt sich solcher Prunk, so kostspielig er leider ist,
0158nicht entbehren. Wenn das Ballet nicht durch vollständigen
0159Sinnenzauber gefangennimmt, wenn wir ruhig nach dem
0160Warum des durch Tanz Dargestellten oder gar nach seinem
0161geistigen Gehalt fragen: dann ist es schon verloren. Wir
0162müssen in einer Art Trunkenheit des Auges von Scene zu
0163Scene schwelgen, oder Alles war vergeblich. Die Balletmusik 
0164zur „Fantasca“ verräth wenig Feuer und Originalität in den
0165eigentlichen Tänzen; in den dramatischen Scenen hingegen,
0166als fortlaufend interpretirende, melodramatische Begleitung
0167bewegt sie sich sehr geschickt, mitunter sein und graziös. Die
0168Musik in der Hexenküche, die auf den Eisfeldern des Nord-
0169pols und noch andere Stellen gehen über das rohe Handwerk
0170hinaus, an das die neueren Ballet-Componisten uns gewöhnt
0171haben; sie verrathen den talentvollen Autor der „Satanella“-
0172Musik. Nur der ohrenmörderische Unfug mit den Blech-
0173musiken auf der Bühne scheint in den Balleten keine Grenze
0174mehr zu kennen. Wer das meiste Lob verdient in der „Fan-
0175tasca“? Alle zusammen. Unter den handelnden Personen
0176ragen blos Frappart und Price hervor, Komiker von
0177unbezahlbarer Laune und Lebendigkeit. Sie sind die wahren
0178Hauptpersonen des Stückes, nicht Fantasca. Diese hat eigent-
0179lich nichts zu thun, als wunderbar schön zu sein, denn all die
0180haarsträubenden Mißgeschicke, welche Verliebte aller Nationen
0181vor unseren Augen erdulden, werden nur ob Fantasca’s
0182Schönheit bestanden. In diesem Betracht ist die Besetzung
0183der Titelrolle durch eine Tänzerin, deren ganzes Ansehen auf
0184ihrer wirbelnden Fußspitze beruht, etwas unwahrscheinlich.


0185Auf „Fantasca“ folgte — um chronologisch fortzuschrei-
0186ten — das kurze Gastspiel-Intermezzo von Fräulein Murska.
0187Angesichts des luxuriösen Urlaubskapitales, das Fräulein Ra-
0188batinsky
noch immer aus ihrer am 30. Mai erlittenen
0189Rienzi“-Schramme schlägt, war die Berufung Fräulein Murska’s
0190das bestmögliche Aushilfsmittel. Die gefeierte Coloratur-
0191Sängerin soll auch diesmal in ihren Lieblingsrollen Lucia 
0192und Martha ein zahlreiches Publicum höchlich entzückt haben
0193— aus eigener Anschauung weiß ich nichts darüber zu berich-
0194ten. Lucia und Martha (Vorstellungen, die schon an sich
0195jedem Kritiker wie Kriegsjahre doppelt anzurechnen wären)
0196sind hier von Fräulein Murska seit 10 Jahren so oft und
0197so gleichmäßig abgesungen worden, daß man jeden Accent und
0198jede Handbewegung von ihr ganz genau voraus weiß. Die
0199Abende (außerhalb des Theaters) waren unwiderstehlich schön,
0200und der Kritiker ist doch auch ein Mensch „sozusagen“.


0201Um so einladender lockte der Anschlagzettel, welcher
0202Tags nach der „Lucia“ „Die weiße Frau“ verhieß. Zu
0203lange war unserem Repertoire dieses reizvolle Werk vorent-
0204halten, für dessen sorgfältige Inscenirung die Direction un-
0205sern Dank verdient. Kaum Eine Note, kaum Ein Wort klingt
0206veraltet in dieser bald fünfzig Jahre alten Oper. Ein ge-
0207radezu musterhaftes Libretto trägt hier eine Musik voll An-
0208muth und Melodienreiz, von geistreicher Charakteristik und
0209feinem Stylgefühl. In der französischen Opernliteratur be-
0210hauptet Boieldieu’s „Weiße Frau“ ungefähr die Stellung,
0211der „Barbier von Sevilla“ in der italienischen, der „Frei-
0212schütz“ in der deutschen: als vollkommenster Ausdruck der
0213nationalen Eigenthümlichkeit im musikalischen Drama. Wie
0214der „Freischütz“ bei uns, so hat die „Weiße Frau“ in Frank-
0215reich obendrein die gleiche Mission erfüllt, gegen die herein-
0216brechende Rossini-Herrschaft aus eigenen Mitteln zu protestiren,
0217die Nation auf sich selbst zu besinnen. So echt französisch 
0218die Musik ist, sie athmet doch zugleich die eigenthümliche Ro-
0219mantik, mit welcher Walter Scott das Schloß Avenel und
0220seine Bewohner zu schildern wußte. Wie viel ist von Boiel-
0221dieu in der Behandlung solcher Stoffe zu lernen! Man be-
0222obachte nur, wie sinnig und nur so leichthin der Hintergrund
0223der Situation ausgemalt ist, z. B. bei dem Gewitter am Schluß
0224des ersten Actes, dann vor dem Erscheinen der weißen Frau,
0225bei der Licitations-Scene etc. — wie mit den kleinsten Mitteln,
0226mit ein paar Accorden der Hörer sofort in die Stimmung
0227versetzt wird, wie mit wenigen Zügen die Nebenfiguren fest
0228gezeichnet sind. Der Erfolg der Oper entsprach gleich an-
0229fangs ihrem Werthe: „Die weiße Frau“ hat in ihren ersten
0230Lebensjahren der Pariser Opéra Comique jährlich gegen eine
0231Million Francs eingetragen und konnte bereits vor mehreren
0232Jahren daselbst ihre tausendste Aufführung feiern. Die Be-
0233gierde nach der „Weißen Frau“ war seinerzeit allenthalben
0234so rege, daß Provinzbühnen, welche sich die Partitur nicht
0235verschaffen konnten, das Textbuch allein, ohne Musik, auf-
0236führten.


0237Zu den allerbesten Leistungen im neuen Opernhause ge-
0238hört „Die weiße Frau“ nicht; der intime Reiz dieser feinen
0239Genremalerei büßt Vieles ein in den weiten Hallen. Man hat
0240indessen nichts verabsäumt, um die Vortheile des größeren
0241Raumes und der stärkeren Besetzung überall dort zu benützen,
0242wo sie die Wirkung unterstützen können; so vor Allem in der
0243Introduction und in der Versteigerungs-Scene. Herr Walter 
0244ist bekanntlich ein recht munterer, liebenswürdiger George
0245Brown; er singt die zärtlichen Stellen mit warmer Empfin[3]-
0246dung und excellirt in den beiden großen Monodien des zwei-
0247ten und dritten Actes durch glückliche Behandlung des Falsetts
0248und der halben Stimme. In der gesprochenen Prosa kann
0249er sich noch nicht vollständig von dem Zwang des gewöhnli-
0250chen Theaterpathos losmachen, wie beispielsweise die Erzählung
0251von dem Tode des Obersten im ersten Act, dann der über-
0252triebene Ausruf: „Nein, so ist es nicht“ bei dem Nachsingen
0253des Wiegenliedes im dritten Art beweisen. Wie Herrn Walter 
0254mit dem George Brown die weitaus größte Aufgabe in der
0255Oper, so ist ihm auch der Löwenantheil des Applauses zuge-
0256fallen. Frau Dustmann sang die Miß Anna unter leb-
0257haftem Beifall; die Rolle paßt jedoch wenig für die Indivi-
0258dualität dieser Künstlerin, welche ausgeprägte Charaktere mit
0259starken Leidenschaften braucht. Anna ist in dem Stücke nicht
0260viel mehr als eine glückliche Retterin in der Noth, um nicht
0261zu sagen ein Rettungsmittel. Zu näherer psychologischer
0262Charakteristik fehlen fast alle Anhaltspunkte. Die Partie wird
0263meist von Coloratur-Sängerinnen dargestellt, im Styl nichts-
0264sagender Backfische. Frau Dustmann, welche keine Rolle
0265spielt, ohne früher darüber nachzudenken, suchte und fand den
0266dramatischen Ausgangspunkt für die Miß Anna in der geisti-
0267gen Ueberlegenheit und Thatkraft dieser jungen Dame, welche
0268schon bei ihrem ersten Auftreten von Plänen zur Rettung des
0269Schlosses Avenel ganz erfüllt ist. Die Auffassung ist voll-
0270kommen begründet, nur gerieth die Ausführung um einige
0271Farbentöne zu grell, das Selbstbewußtsein Anna’s kam in den
0272ersten Scenen gar zu nachdrücklich und anmuthlos zum Vor-
0273schein. Vortrefflich spielte Frau Dustmann die nächtliche
0274Scene mit George, in welcher nur die Gesangscoloratur ihr
0275einige Schwierigkeit zu bereiten schien. Fräulein Minnie
0276Hauck, welche unter ihren Colleginnen der Dustmann am
0277nächsten steht in echt künstlerischer, eifriger Hingabe an das
0278Kunstwerk, war als Pächterin Jenny munter und graziös wie
0279immer. Herr Pirk wird seit seinem classischen Lehrjungen
0280David täglich sicherer und wirksamer im Fache der Natur-
0281burschen-Tenore, welches nunmehr auch einen sehr tüchtigen
0282Pächter Dickson an ihm gewonnen hat. Herrn Draxler’s 
0283Gaveston und Fräulein Gindele’s Margarethe sind be-
0284währte Leistungen, welche neuerlicher Anerkennung nicht erst
0285bedürfen.