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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2546. Wien, Dienstag, den 26. September 1871

[1]

Musikalische Neuigkeiten. I.

Robert Franz’ Broschüre über die Bearbeitung von Vocal-Compositionen Bach’s und Händel’s.


0004Ed. H.*) Es war an einem September-Abend des Jah-
0008res 1862, daß Robert Franz mit mir im Mirabell-Garten 
0009in Salzburg um Sebastian Bach’s willen eingesperrt wurde.
0010In lebhaftem Gespräch über Bach, dessen Evangelium Robert
0011Franz mit unerschöpflicher Begeisterung verkündete, waren wir
0012lange den einsamen Garten auf und ab gewandelt, ohne zu
0013bemerken, daß wir daselbst die letzten Spaziergänger geblieben.
0014Da hörten wir das eiserne Gitterthor klirrend ins Schloß
0015fallen und sahen gerade noch, wie der pünktlichste aller In-
0016validen den großen Schlüssel umdrehte und abzog. Glückli-
0017cherweise erreichte unser Ruf den martialischen Wächter, wel-
0018cher keineswegs darauf bestand, uns die Nacht im Garten zu-
0019bringen zu lassen. Das Gespräch über Bach wurde unter
0020[?]stlichem Dache rüstig fortgesetzt. Wahrhaft rührend war
0021der apostolische Eifer, mit welchem Franz mich zu denjenigen
0022Werken Bach’s zu „bekehren“ unternahm, welche mir damals
0023befremdend, unverständlich, kalt entgegenstanden. Schon als
0024Knabe sattelfest im „Wohltemperirten Clavier“ und anderen
0025Instrumental-Compositionen Bach’s, hatte ich doch, wie die
0026meisten Musiker in Oesterreich, lange Zeit nur geringe Kennt-
0027niß von dessen Vocal-Compositionen und konnte namentlich für
0028die grübelnde Ascetik und den wunderlich krausen Vocalsatz
0029der mir bekannt gewordenen Kirchen-Cantaten mich nicht er-
0030wärmen. Franz war unermüdlich, mir zu erklären, was ich
0031mangelhaft kannte, mir zu preisen, was ich einseitig auffaßte.
0032„Sehen Sie sich,“ so schrieb er mir bald nach jener Garten-
0033scene, „diese Kirchen-Cantaten unbefangen an — ich zweifle
0034keinen Augenblick, daß Sie der hohe Geist derselben entzücken
0035wird. Treten Sie dem Meister zunächst aber mit dem Ge-
0036müthe nahe; der sichtende und ausgleichende Verstand wird
0037schon von selbst auch seine Rechnung finden. Glücklich würde
0038ich mich preisen, wenn ich ein Geringes dazu beitragen könnte.
0039Ihr Interesse auf des Mannes ungemessene Größe lebhafter
0040hinzulenken. Haben Sie sich erst in seine Art vertieft, dann
0041wird er auch Ihre Seele gefangen nehmen und umstricken,
0042wie er das an den Seelen unserer Lieblinge in der Kunst, an
0043Mozart, Beethoven, Mendelssohn und Schumann zu vollziehen
0044wußte: er schlug sie in Fesseln, um sie dafür um so freier
0045zu machen! Und das kann Jeder durch ihn an sich erle-
0046ben — schon darum muß er der Menschheit nähergebracht
0047werden!“


0048Und nicht blos durch das Wort, durch die That hat
0049Robert Franz seinen geliebten Altmeister Bach „der Mensch-
0050heit nähergebracht“. Diese That von unvergänglichem Werth
0051sind seine Bearbeitungen Bach’scher Vocal-Compositionen. Sie
0052förderten ungemein die Verbreitung und Aufnahme dieser
0053Werke und haben überhaupt zu Bach Manchen bekehrt, der,
0054zurückfröstelnd vor dem starren Gerippe der Original-Parti-
0055turen, nicht „mit dem Gemüth“ an den Meister heranzutreten
0056vermochte.


0057Daß die Mehrzahl begleiteter Vocal-Compositionen älterer
0058Meister eine lebendige Wirkung heute nur erreichen kann,
0059wenn eine künstlerisch nachhelfende Hand die Lücken darin er-
0060gänzt, den Klangkörper vervollkommt, die Andeutungen aus-
0061führt, geben wol derzeit alle Tonkünstler zu, welche die Musik
0062als lebendige Kunst und nicht als archäologisches Studium
0063auffassen. Nur über das Maß und über die Methode solcher
0064Nachhilfe kann Streit stattfinden. Wissen wir doch, daß die
0065meisten älteren Werke nicht nach dem Wortlaute der Parti-
0066turen aufgeführt worden sind. Der bezifferte Baß in diesen
0067Partituren beweist, daß Improvisation auf der Orgel oder
0068dem Clavier ergänzend hinzutrat, und beglaubigte Nachrichten
0069sagen uns, daß namentlich Bach, der über eine sehr unzu-
0070reichende Besetzung zu verfügen hatte, sein Accompagnement
0071fast zur Hauptsache machte, nothgedrungen dazu machen mußte.
0072„Wer das Delicate im Generalbaß und was sehr wohl accom-
0073pagniren heißt, recht vernehmen will,“ schreibt der alte 
0074Mitzler, „muß den großen J. S. Bach hören, welcher
0075einen jeden Generalbaß zu einem Solo so accompagnirt, daß
0076man denkt, es sei ein Concert und wäre die Melodie, so er
0077mit der ersten Hand machet, schon vorhero gesetzt worden.“
0078Gegen diese Klangwirkung voll Fülle und Leben, wie sie Bach’s
0079Cantaten unter seinen Händen gewannen, sind die uns über-
0080kommenen Partituren ganz eigentlich nur Partituren-Skizzen,
0081denen mehr oder minder das blühende Fleisch fehlt.
0082Werden diese Partitur-Skizzen — gegen die Absicht des Meisters
0083— wörtlich wiedergegeben, so klingen insbesondere die Arien und
0084Duette mit den unermüdlich mitlaufenden obligaten Instru-
0085menten dürftig, leer, oft geradezu widerwärtig und machen
0086das boshafte Wort eines „Modernen“ begreiflich, welcher beim
0087Anhören einer Bach’schen Arie mit obligater Violine äußerte:
0088das sei, wie wenn eine Mutter mit ihrem Kinde betteln geht.
0089Die Wiederherstellung und Ergänzung Bach’scher Partituren
0090im Geiste des Meisters zu vollziehen, ist eine unendlich schwie-
0091rige Aufgabe. Pedantische Philologen, denen der todte Buch-
0092stabe über Alles geht, werden sie nie erfüllen, ebensowenig
0093bloße Routiniers, welche zunächst nach leichterer Ausführbar-
0094keit trachten. Nur wer eine Künstlernatur, wer selbst Ton-
0095dichter ist, wird das sicher leitende feine Gefühl mitbringen,
0096was in solcher Nachschöpfung erlaubt sei, wie gewissenhaft
0097textgetreu er einzuhalten habe, „was sich ziemt“, und wie weit
0098er hinzufügen dürfe, „was gefällt“. Diese Begabung hat Nie-
0099mand in reicherem Maße bewährt, diese Kunst Niemand mit
0100größerer Meisterschaft geübt, als Robert Franz. Dem Bach’-
0101schen Geiste wahlverwandt, hat Franz mit einer Feinfühligkeit
0102ohnegleichen aus den todten Partituren heraus empfunden, wie
0103der alte Meister sich die lebendige Aufführung gedacht habe.


0104Robert Franz ist der Musikwelt zunächst als Componist
0105zahlreicher Lieder bekannt, die zu dem Zartesten und Gemüth-
0106vollsten gehören, was wir in diesem Fache besitzen. Ruhm und
0107Erfolg auf dieser Bahn haben ihn jedoch nicht abgehalten,
0108seit nahezu zehn Jahren auf eigenes Produciren beinahe zu
0109verzichten, um seine ganze Kraft auf die Bearbeitung Bach’-
0110scher und Händel’scher Werke zu wenden — ein seltener Be-
0111weis von selbstloser, werkthätiger Verehrung der großen [2]
0112Meister. Seine Beschäftigung mit Bach begann mit der
0113Bearbeitung von sechsunddreißig Arien (mit Clavier-Accom-
0114pagnement) aus verschiedenen Cantaten und Messen Bach’s,
0115denen neuestens als Seitenstück eine reiche Auswahl der
0116schönsten Arien von Händel folgte. Man höre nur, wie
0117das Alles klingt und sich rundet im Vergleiche mit anderen
0118Bearbeitungen dieser Stücke. Höhere Ziele steckte sich Franz mit
0119der Clavierbearbeitung von neun Bach’schen Cantaten; endlich
0120folgten ganze Orchester-Bearbeitungen größerer Werke: das
0121Magnificat“, die „Matthäus-Passion“ und mehrere der
0122schönsten Cantaten von Bach; außerdem Händel’sJubilate“,
0123Astorga’sStabat mater“ und Durante’sMagnificat“.
0124In diesen Bearbeitungen hat Franz in bescheidener und doch
0125wirksamster Weise das moderne Orchester zur Colorirung
0126jener in herrlichen Umrissen gedachten Tondichtungen ver-
0127wendet. Angesichts solcher Bearbeitungen über unberufene
0128Modernisirung zu klagen, ist uns unmöglich. Vielmehr unter-
0129schreiben wir mit Freuden den Ausspruch eines älteren Kritikers
0130über Robert Franz: „Eine Tondichtung in diesem Sinne
0131reproduciren, heißt nichts Anderes, als ihr das Recht und die
0132Bedeutung erkämpfen, die sie wirklich hat.“


0133In dem eben erschienenen „Offenen Brief“ erzählt uns
0134Robert Franz die lehrreichen Erfahrungen, die er durch lang-
0135jährige, unverdrossene Versuche gesammelt hat, und entwickelt
0136in klarer, anziehender Weise seine dabei beobachtete Methode.
0137In Halle war es, wo im Beginn der Vierziger-Jahre Franz,
0138als Dirigent der Sing-Akademie, die Musik Bach’s und
0139Händel’s zum Mittelpunkte derselben machte. Anfangs führte
0140er die Bach’schen Messen und Cantaten nach den Marx’schen
0141Ausgaben auf. „Zwar machte das Publicum zuweilen große
0142Augen, wenn ihm in einer Bach’schen Cantate ein seltsames
0143Zwiegespräch zwischen Flöte und Contrabaß vorgetragen wurde
0144oder wenn gar der Continuo einen langen, grämlichen Monolog
0145zum Besten gab — dergleichen focht uns aber weiter nicht
0146an und kam auf Rechnung der guten alten Zeit, die man
0147hinnehmen zu müssen glaubte, wie sie eben war.“ Den Solo-
0148nummern gegenüber griff Franz anfangs zum Rothstift und 
0149strich munter drauf los. Auf die Dauer konnte das nicht so
0150fortgehen: einmal wurde der Zusammenhang des Ganzen oft
0151bedenklich in Frage gestellt, dann standen wieder einzelne Arien
0152in gar zu herrlichen Umrissen da, als daß man sie ohnewei-
0153ters übersehen durfte. Franz entschloß sich zu dem Versuche,
0154ein Accompagnement auszuarbeiten. Zuerst versuchte er es mit
0155accordischen Ausführungen, ohne von der Wirkung befriedigt
0156zu sein. Später fiel ihm ein, es mit der polyphonen 
0157Schreibart zu versuchen. „Und siehe da: zu meiner freudigen
0158Ueberraschung wurde plötzlich Alles lebendig, die Stimmen
0159schienen nur darauf gewartet zu haben, daß man sie nieder-
0160schriebe, und waren offenbar prämeditirt worden. Schnell be-
0161griff ich, daß die Skizzen keineswegs flüchtige Entwürfe seien,
0162sondern ebenso vollendet und abgeschlossen wie der übrige
0163wirklich ausgeführte Tonsatz. Indem die alten Meister die-
0164selben aufzeichneten, schufen sie zugleich das noch fehlende Stimm-
0165gewebe im Geiste mit und konnten sich umsomehr darauf
0166verlassen, es wieder zu finden, als sie gewöhnlich selbst für
0167die Ausführung des Accompagnements Sorge trugen.“ Immer
0168von dem Streben geleitet, „hinter die eigentlichen Absichten der
0169Autoren zu kommen“, gelangte Franz durch zahllose, mühe-
0170volle Versuche zu einer festen Methode, die, auf dem Mate-
0171rial der Skizzen fußend, mit deren Bestandtheilen die Aus-
0172führung bestreiten lernte. „Sowol in der Structur des Basses,
0173als in dem Figurenwerk der Cantilene stellten sich Momente
0174dar, die sich zu Motivbildungen eigneten und mit denen gear-
0175beitet werden konnte — waren sie nur erst aufgefunden, dann
0176entwickelte sich der weitere Verlauf wie von selbst. Be-
0177greiflich genug: der Styl der alten Meister entsprang aus
0178den einfachsten, elementarsten Gesetzen — ihren Kunstgebilden
0179liegt ein ganz ähnliches Princip zu Grunde wie das, nach
0180welchem Pflanze, Blüthe und Frucht aus einem Keime
0181emportreiben.“ Die näheren technischen Ausführungen über
0182den Tonsatz und das Klangmaterial in Franzens Bearbei-
0183tungen möge man in der Broschüre selbst nachlesen; sie sind
0184lehrreich und überzeugend. Hier möge nur noch ein polemischer
0185Excurs des „Offenen Briefes“ Erwähnung finden, welcher 
0186gehöriges Aufsehen machen dürfte in Tonkünstlerkreisen; er
0187ist gegen Herrn Chrysander gerichtet. Dieser Herr
0188hat in der Leipziger Allgemeinen Musikzeitung, welche
0189unter ihrem früheren verdienstvollen Redacteur Bagge 
0190mit so viel Wärme für Robert Franz eingestanden war, die
0191Bearbeitungen des Letzteren mit hochmüthiger Ueberlegenheit be-
0192krittelt. Natürlich, „Madame file aussi,“ wie es in der franzö-
0193sischen Fabel heißt. Herr Chrysander, der allzeit Unfehlbare,
0194hat sich auch versucht in Bearbeitungen Händel’scher Vocal-
0195Compositionen und läuft nun wie eine böse Spinne gegen
0196Jeden los, der anders und besser spinnt. Was es aber für
0197Bewandtniß hat mit dem musikalischen Gespinnste des Herrn
0198Chrysander, das kann man aufs genaueste aus dem „Offenen
0199Brief“ von Robert Franz erfahren. Der Verfasser gibt eine
0200kleine Blumenlese der haarsträubendsten Satzfehler in Chry-
0201sander’s Bearbeitungen: offene Quinten und Octaven die
0202Menge, verstümmelte Accordfolgen, „welche Auge und Ohr
0203martern“, vorsündfluthliche Claviersätze von „knäuelartiger
0204Verwachsenheit“ u.s.f. Ohne sich auch nur zu Einem
0205leidenschaftlichen, heftigen Wort hinreißen zu lassen, lediglich
0206in Notenbeispielen sprechend, entrollt Franz ein musikalisches
0207Sündenregister, das geradezu vernichtend ist für den Nimbus
0208des armen Chrysander. Und dieser Mann, dem jede feinere
0209Empfindung für musikalischen Wohllaut abgeht, der Schul-
0210fehler gröbster Art arglos hinschreibt, hofmeistert Künstler
0211wie Mendelssohn-Bartholdy und Robert Franz ob ihrer
0212Händel-Bearbeitungen und belegt mit Interdict alle Sing-
0213Akademien, welche die „leidigen modernen Bearbeitungen“ be-
0214nützen? Herr Chrysander gefällt sich bekanntlich in der Rolle
0215eines unfehlbaren Musikpapstes von Deutschland, dessen fleißig
0216geübter Bannfluch unausweichlich die ewige Verdammniß für
0217den Betroffenen nach sich zieht. Der „Offene Brief“ von
0218Robert Franz wird hoffentlich nebst anderen guten Wirkungen
0219auch die haben, das krankhaft angeschwollene Selbstbewußtsein
0220unseres händelsuchenden Händel-Pächters angenehm herab-
0221zustimmen.

Fußnoten
  • *)Offener Brief an Eduard Hanslick. Ueber Bearbeitungen
    älterer Tonwerke, namentlich Bach’scher und Händel’scher Vocalmusik.“
    Von Robert Franz. (Leipzig bei C. Sander, 1871.)