Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2553. Wien, Dienstag, den 3. October 1871
[1]Musikalische Neuigkeiten. II.
(Aufsätze von Ferdinand Hiller. — Nohl’s Beethoven-Feier. — Neue Compositionen
von Richard Wagner.)
0004Ed. H. Hat Robert Franz in seinem „Offenen Brief“
0005sich mit einer speciellen Untersuchung an die Musiker von Fach
0006gewendet, so ladet Ferdinand Hiller die ganze gute
0007Gesellschaft musikalischer Amateurs zu den Früchten und
0008Blüthen, die er neuerdings „aus dem Tonleben unserer Zeit“
0009gesammelt hat.*)
Die erste Folge dieser Hiller’schen Aufsätze,
0013welche, zwei Bändchen stark, im Jahre 1868 erschien, habe
0014ich damals mit ganz besonderem Vergnügen gelesen und be-
0015sprochen. Die jetzt hinzugekommene „zweite Folge“ ist zwar
0016nicht so reichhaltig wie jene erste, aber kaum weniger an-
0017ziehend; der Verfasser mag überdies Recht haben mit der Be-
0018merkung, daß die dicksten Individuen nicht immer die gesün-
0019desten sind, und daß ein schlanker Geselle sich in der Menge
0020leichter durchwindet, als einer, der zu vielen Raum in An-
0021spruch nimmt. Originelles, Glänzendes fehlt niemals bei
0022Hiller, und das Bekannte, Geläufigere weiß er mit einer
0023Grazie zu sagen, welche unwiderstehlich fesselt. Nur zu viele
0024Kunstschriftsteller bemühen sich, den Gedanken zu schminken,
0025Hiller versteht es, durch stylistische Meisterschaft den Gedan-
0026ken zu vergolden. Man sehe sich nur den „Nachruf an
0027Rossini“ an, der mit den Worten beginnt: „So mußtest du
0028auch fort, lieber armer Maestro, der du das Leben so sehr
0029liebtest und so unendlich von ihm verwöhnt worden bist.“
0030Ein Aufsatz, der so leicht und melodisch dahinfließt, wie
0031Rossini’sche Musik, so natürlich, als könnte das Jeder schrei-
0032ben — und doch ein kleines Meisterstück, das mit keinem
0033Worte aus der anfangs angeschlagenen Tonart fällt und einer
0034contrapunktischen Verflechtung von feiner Ironie und weh-
0035müthiger Herzlichkeit, von leichtem Witz und tiefem Urtheil
0036gleicht, deren Kunst uns entzückt, ohne daß wir sie merken.
0037Solcher Aufsätze enthält das Bändchen zwölf; Skizzen, welche
0038der Musikfreund mit reichlichem Nutzen, der stylistische Gour-
0039mand mit Hochgenuß und der musikalische Schriftsteller nicht
0040ohne Brotneid liest.
0041Den Anfang macht ein halb ernst, halb scherzhaft gehal-
0042tenes Genrebildchen: „Zu viel Musik“. Die Qualen eines
0043friedliebenden Menschen, der von Früh bis Abends verfolgt
0044wird von all den kleinen und großen Orgien unserer modernen
0045Musikvöllerei, sind hier mit echtem Humor geschildert. Die
0046Militärmusiken mit der modernen Specialität des „sentimen-
0047talen Trompeters“, die Gartenconcerte mit ihren sinnlosen
0048Potpourris, die Zugharmonika und der Leierkasten — nichts
0049ist vergessen. Letztgenanntes Folterwerkzeug berührt Hiller nur
0050sehr flüchtig, begreiflicherweise, denn nur wer in Wien lebt,
0051kennt den ganzen Umfang dieser Barbarei. Ist das wirklich
0052eine richtige Großstadt, ein Mittelpunkt der Civilisation, wo
0053die verstimmteste Pfeifenlade ein Recht hat, stundenlang
0054öffentlich zu schreien, wo zwei, auch drei Leier-Kannibalen in
0055Einer engen Gasse gleichzeitig „werkeln“ dürfen, ohne daß
0056man ihnen das Mindeste anhaben kann? Diese öffentliche
0057Ohrenquälerei behördlich zu erlauben und zu unterstützen, ist
0058und bleibt eine Grausamkeit, die allenfalls den afrikanischen
0059Raubstaaten zu Gesicht stehen würde, nimmermehr aber einem
0060löblichen Gemeinderath an der „schönen blauen Donau“.
0061„Seien wir ein wenig weniger musikalisch, und wir werden
0062musikalischer werden,“ so lautet die beherzigenswerthe Moral
0063der Hiller’schen Erzählung.
0064Es folgen drei „Musikalische Briefe“ von tieferem Ge-
0065halt und ausführlicherem Vortrag. Dem zweiten davon, wel-
0066cher Gervinus’ Buch: „Händel und Shakspeare“ kritisirt,
0067gebührt der Preis; neben dem Briefe „über Zukunftsmusik“
0068(im ersten Bande) ist er wol der gründlichste, gedankenreichste
0069Aufsatz, den Hiller veröffentlicht hat. Die schwierigsten Grund-
0070begriffe der Tonkunst, diejenigen, in welchen physikalische,
0071historische und ästhetische Gesetze sich kreuzen, sind hier
0072mit bewundernswerther Klarheit und Leichtigkeit be-
0073handelt. Die schimmernden Seifenblasen, welche Gervinus
0074in dem ersten (theoretischen) Theil seiner Arbeit
0075so majestätisch aufsteigen läßt, zerplatzen eine nach der an-
0076dern wie auf der Spitze einer Stecknadel. Und was speciell
0077die überschwengliche Vergötterung Händel’s betrifft, welche
0078den besonderen Theil jenes Buches bildet, so erfährt sie durch
0079Hiller eine Zurechtweisung, wie sie treffender und zugleich ge-
0080mäßigter kaum gedacht werden kann. Hier tritt der Ton-
0081künstler, der Musiker von Fach (der sich in Hiller gern
0082hinter dem Feuilletonisten versteckt), in sein volles Recht und
0083handhabt es mit siegesgewisser Kraft. Hiller bekundet in diesem
0084Essay eine so vollständige Kenntniß und Erkenntniß Händel’s,
0085daß er den beiden Generalpächtern dieses Meisters, Ger-
0086vinus und Chrysander, ungescheut zurufen darf: „Man muß
0087das Aus- und Unterlegen nicht so weit treiben, daß es dem,
0088was dasteht, geradezu widerspricht. So weit gehen aber die
0089excessiven Händelianer, und wo die offenbare, wenn auch
0090nicht intentionirte Unwahrheit anfängt, da muß man
0091protestiren.“
0092Was sonst noch „Gelegentliches“ geboten wird, sind
0093durchwegs Nachrufe an Verstorbene, die uns entweder kürz-
0094lich entrissen wurden (Rossini, Hauptmann), oder die aus
0095Anlaß hundertjähriger Jubiläen (Bach, Beethoven) gleichsam
0096eine zweite, großartigere Leichenfeier erhielten. Hiller’s Nach-
0097ruf an Moriz Hauptmann läßt uns trotz aller Wärme
0098die Bedeutung des Mannes mehr ahnen als erkennen. Es ist
0099überhaupt ein Wunsch, der nach der Lectüre Hiller’scher Auf-
0100sätze oft in uns zurückbleibt: der Verfasser hätte länger bei
0101seinem Gegenstande verweilen, nicht gar so schnell sich wieder
0102losmachen sollen. Hauptmann ist nur einem engeren Kreise
0103von Musikern bekannt; ohne Zweifel hat er sein Bestes im
0104Gespräche oder in freundschaftlichen Briefen gegeben. Nach
0105dem Wenigen, was mir aus diesen beiden Quellen selbst zu
0106schöpfen vergönnt war, muß ich Hiller unbedingt beipflichten,
0107wenn er von Hauptmann sagt: „Was hätte ein solcher Mann
0108als Kritiker leisten können! Man darf zweifeln, ob irgend ein
0109Lebender eine Idee davon gibt.“ Wer „einem solchen Manne“
0110künstlerisch und freundschaftlich so nahe stand wie Hiller,
0111der hätte wol ein vollkommenes Bildniß von ihm ausführen,
0112ihm ein dauerhafteres Denkmal setzen sollen.
0113Von Beethoven sprechen die fünf letzten Aufsätze des
0114Bändchens. Sie wurden aus Anlaß des Beethoven-Jubiläums [2]
0115für verschiedene Zeitungen geschrieben, weßhalb denn auch
0116manche Wiederholung nicht zu vermeiden war. Die Lectüre
0117des ganzen Cyklus verliert dadurch nicht an Interesse, denn
0118was Hiller absolut nicht kann, ist, langweilig oder schwerfäl-
0119lig werden. Die „Biographische Skizze“ zeichnet sich durch
0120klare, lebhafte Darstellung wie durch Unbefangenheit und
0121Selbstständigkeit des Urtheils aus. Der zweite Aufsatz: „Aus
0122den letzten Tagen Beethoven’s“, gehört zu den werthvollsten
0123biographischen Beiträgen, denn was er erzählt, ist Selbst-
0124erlebtes. Hiller hat als fünfzehnjähriger Knabe seinen
0125Meister Hummel im März 1827 nach Wien begleitet und
0126mit diesem mehreremale Beethoven auf seinem letzten Kran-
0127kenlager besucht. Aus den Gesprächen Beethoven’s hatte sich
0128Hiller damals das Wesentlichste notirt, und die Persönlichkeit
0129des Meisters wirkte so tief auf ihn ein, daß er jetzt die denk-
0130würdige Begegnung vollkommen treu und lebhaft wiederzu-
0131geben vermag. Durch ihren Gedankengehalt ragt unter diesen
0132Beethoven-Studien die Festrede: „Zum 17. December 1870“
0133hoch empor. Hier spricht Hiller von Beethoven’s Musik.
0134Seine Worte sind erfüllt von liebevoller Verehrung für den
0135Meister, von lebendigster Erkenntniß seines Genius, dabei
0136aber so ruhig, klar und unbefangen, so fern von künstlicher
0137Exaltation und eitlem Wortschwall, daß sie als Muster auf-
0138gestellt werden können, wie die schwierige Aufgabe eines sol-
0139chen Jubelfest-Artikels zu lösen sei. Seit Brendel aus miß-
0140verstandener Hegelei und mangelhafter Musikkenntniß eine
0141phrasenreiche „Geschichte der Musik“ geschrieben, welche bei
0142seinen Parteigenossen für geistreich gilt, ist es Mode geworden,
0143nur in metaphysisch verzücktem Tone von Beethoven zu schrei-
0144ben, so daß unbefangene Leser oft nicht wissen, ob hier von
0145einem großen Philosophen, einem neuen Religionsstifter, einem
0146politischen und socialen Reformator die Rede sei oder aber
0147von einem Musiker. Von Richard Wagner bis auf
0148Nohl und Louise Otto hat die „neudeutsche Schule“
0149diesen visionären Beethoven-Styl immer abgeschmackter fort-
0150gebildet. Im Gegensatze hiezu sucht und findet Hiller die
0151Größe Beethoven’s im Musikalischen, er bleibt vollständig inner-
0152halb des Kreises der Musik. Da ich seit Jahren die gleiche
0153Anschauung unermüdlich vertrete, darf ich so vollständigen
0154Einklanges mit Hiller mich aufrichtig freuen, und möchte
0155ich die betreffende Stelle dem Leser nicht vorenthalten.
0156„Man sucht heutigen Tages ein besonderes Interesse
0157darin,“ schreibt Hiller, „die Einzelheiten der Lebensumstände
0158großer Männer aufs genaueste zu erforschen. Es ist dagegen
0159nichts einzuwenden, so lange man nicht ihre geistigen Werke
0160und Thaten in einen allzu engen Zusammenhang zu bringen
0161versucht mit ihren Lebensverhältnissen, was zu den gewalt-
0162thätigsten Irrthümern führt — oder so lange man nicht in
0163verkehrtem Enthusiasmus die Bedeutendheit ihrer Productio-
0164nen in dem Geringfügigsten wiederfinden will, was man von
0165ihrem Wesen und Wandel erfährt. Es gab und gibt fort-
0166während Tausende von Männern, welche Beethoven gleich-
0167stehen an Hoheit des Charakters, an bürgerlicher Tugend, an
0168edler Auffassung des Lebens, und die nichts hervorzubringen
0169im Stande, was die Menschheit fördert. Daß Beethoven die
0170hohen Empfindungen und Anschauungen, die in ihm lebten, in
0171wunderbaren Kunstwerken aussprechen konnte, das macht ihn
0172zum großen Manne. Anderntheils wollen Viele die wesent-
0173lichste Größe dieser Werke in gewissen Ideen finden, die
0174denselben zu Grunde liegen sollen und die dann Jeder auf
0175seine Weise sich klar zu machen sucht. Aber nicht das, was
0176ein Kunstwerk verbirgt, sondern das, was es sagt, und die
0177Art und Weise, wie es gesagt wird, das macht seine Größe.
0178Und zwar liegt diese Größe in den Bedingungen der Kunst,
0179um die es sich handelt. Was uns erhebt, begeistert, wenn
0180wir Beethoven’sche Musik hören, es ist der Reichthum, die
0181Originalität, die Kühnheit der Erfindung, die unendliche
0182Mannichfaltigkeit der Melodien, ihr sinnlicher Reiz, verbunden
0183mit ihrer gemüthvollen Kraft, ihrer naiven Einfachheit, ihrer
0184leidenschaftlichen Energie — es ist die logische und doch wie-
0185derum so freie Weise ihrer Ausführung; es ist die gesunde,
0186ungesuchte und doch so originale Führung der Harmonie —
0187die farbenreiche, individuelle Anwendung der Klangwerkzeuge;
0188kurz die Erfüllung aller Bedingungen, die eine Tonschöpfung
0189erheischt, wenn sie den höchsten Ansprüchen genügen soll. Was
0190das heißt, wissen die Vielen, die, begabt und talentvoll, ver-
0191geblich versuchten und versuchen, es zu erreichen. In des
0192Wortes alterengster und hiedurch energischester Bedeutung sind
0193die Instrumentalwerke unserer großen Meister — Ton-
0194dichtungen, und die Beethoven’s sind die herrlichsten, die er-
0195habensten von allen.“
0196Ja, versteht sich denn das nicht von selbst? höre ich eine
0197und die andere schüchterne Stimme fragen. Es sollte sich
0198von selbst verstehen, ohne Zweifel, aber in unseren Tagen, den
0199Richard Wagner’schen, klingt es fast wie eine große neue Wahr-
0200heit. Man möchte solche Worte mit goldenen Lettern drucken,
0201kommt man gerade von der Lectüre anderer musikalischer
0202Bücher, welche mit gar keinen Lettern druckt werden sollten,
0203wie z. B. Nohl’s „Beethoven-Feier“.**)
Dieses Buch ist
0207in Styl und Inhalt das gerade Gegentheil von dem Hiller’-
0208schen. Aus den endlosen Pöllerschüssen zu Ehren Beethoven’s,
0209Liszt’s und Wagner’s — Nohl macht für diese Drei keinen
0210Rangunterschied — entwickelt sich ein ästhetischer Pulver-
0211dampf, der verfinsternd und athembeklemmend das ganze Buch
0212erfüllt. Ueber Beethoven bringt es nebst bekannten (von
0213Nohl selbst schon wiederholt publicirten) biographischen Daten
0214auch ästhetisch-historische Orakelsprüche vom Dreifuß der Zu-
0215kunftsmusik. In seinem monotonen Bombast gleicht Nohl’s
0216Styl einem Schaukelpferd, das, unaufhörlich in majestätischem
0217Hochtrab sich bewegend, niemals von der Stelle kommt. Er-
0218götzlich ist diese „Beethoven-Feier“ Nohl’s dadurch, daß sie
0219wiederum weit mehr von Richard Wagner spricht, als von
0220Beethoven. Als Seitenstück zu Beethoven’s Biographie servirt
0221der Verfasser eine Biographie Wagner’s; auf die Besprechung
0222der Wiener Beethoven-Concerte folgt gleich die der „Meister-
0223singer“, deren „entscheidender Sinn“ natürlich von dem armen
0224Herbeck und uns Wienern noch nicht so klar erkannt“ wor-
0225den ist. Wie auf den bekannten Schwarzwälder Pendeluhren
0226nach jeder halben Stunde ein hölzerner Vogel heraushüpft,
0227„Kukuk, Kukuk!“ ruft und verschwindet, so springt
0228Herr Nohl in seinen Büchern nach jedem Druckbogen
0229plötzlich mit dem Rufe: „Wagner, Wagner!“ empor,
0230um dann wieder in seinen „Gegenstand“ unterzutauchen.
0231Aus dem Tonkünstler Beethoven wird unter Nohl’s Händen [3]
0232eine Art philosophischer Bienenstock, in welchem abstracte Ideen
0233die Zellen für den späteren Wagner-Honig bauen. Nohl stellt
0234die „Frage“ auf, „ob Beethoven’s Größe wirklichen Bestand
0235habe“, das heißt, „ob sie aus demjenigen Grunde stammt, der
0236allein der Kunst wie dem Leben wahrhaft Leben und Dauer
0237gewährt — aus dem wirklichen Lebensgrunde der Zeit und
0238der Nation“. Und was diese Frage „in concreter historischer
0239Färbung“ am deutlichsten beantwortet, ist nach Nohl „das
0240Verhältniß zwischen Beethoven und Napo-
0241leon I., als dem ersten großen Repräsentanten der bewegen-
0242den Ideen unserer Zeit“. (!) „Mit Beethoven erst beginnt
0243das monumentale Schaffen der reinen Musik“, und bei Beet-
0244hoven selbst beginnt dieses monumentale Schaffen mit seiner
0245dritten Symphonie, der „Eroica“. Diese aber verdankt einzig (!)
0246der nahen persönlichen Berührung mit dem großen geschicht-
0247lichen Leben seiner Tage, verdankt ganz unmittelbar der Er-
0248scheinung des großen Napoleon ihre Entstehung. „Beet-
0249hoven’s ganzes späteres Schaffen (!) beruht wesentlich
0250mit auf diesem ersten entscheidenden Anstoß.“ „Eine über-
0251raschend großartige Bestätigung“ dieses Unsinnes oder, wie
0252Nohl sagt, „dieser einzig wirklichen Wahrheit in der Kunst“
0253findet er in — Richard Wagner’s Kaisermarsch! Schon
0254wieder der Kukuk! Nach Nohl besitzt Wagner’s Kaisermarsch
0255„allein im Trauermarsch der Eroica ein würdi-
0256ges Gegenstück“. Er feiert ihn als „ein wirklich erhabenes
0257Denkmal dieser denkwürdigen Zeit und ihrer entscheidenden
0258geistigen Mächte“ und schließt sein drittes Capitel von der
0259Beethoven-Feier mit den Worten: „Ja dieser Kaiser-
0260marsch ist überhaupt der musikalische Ausdruck der Stim-
0261mung und Verfassung unserer Zeit und Nation nach dieser
0262ethisch-geschichtlichen Seite hin!“ Wagner’s Kaisermarsch der
0263„Eroica“ ebenbürtig und der musikalische Ausdruck der großen
0264Ereignisse und geistigen Mächte unserer Zeit — weiter
0265läßt sich die blinde Vergötterung kaum mehr treiben! Man
0266kann ein erprobter Verehrer von Wagner’s Opern sein
0267und dennoch zugestehen, daß sein Kaisermarsch eine lahme,
0268gedankenarme, mühsam zusammengeschweißte Composition ist.
0269In seiner Kraft (erstes Motiv) stützig wie ein Roß, das nicht
0270vom Flecke will, in seiner Milde (zweites Motiv) weichlich-
0271sentimental, in den langen überleitenden Crescendos und Ro-
0272salien opernhaft banal, in dem Einfügen von Luther’s Choral
0273nüchtern und gekünstelt — erreicht dieser Kaisermarsch
0274nicht entfernt, was wir uns als Ziel und Wirkung einer
0275Gelegenheits-Composition großen Styls denken. Nichts
0276von dem ursprünglichen Feuer, dem fortreißenden Schwung,
0277der edlen Popularität, welche einem solchen Siegesmarsch
0278von 1871 unermeßliche Wirkung und Verbreitung gesichert
0279hätten. Diese musikalische Verherrlichung des glänzendsten
0280Blattes deutscher Geschichte ist eines Mannes von dem Talent
0281und dem Ruhme Wagner’s kaum würdig. Nachdem ich es
0282gewagt, Wagner’s Kaisermarsch zu tadeln, will ich auch
0283nicht zögern, die eben erschienenen drei Romanzen***)
von
0286ihm zu loben. Das Eine ist in den Augen der Wag-
0287nerianer vielleicht ein Frevel wie das Andere. Denn die drei
0288Romanzen sind melodiös, bei aller Pikanterie des Ausdrucks
0289einfach und natürlich, offenbar aus längst entschwundenen
0290Tagen, etwa aus seiner „Rienzi“-Zeit stammend. Wahrschein-
0291lich wurden sie in Paris componirt, verlegt und — vergessen,
0292bis jetzt ein Berliner Musikhändler ihre Spur wieder ent-
0293deckte, sie mit einer deutschen Uebersetzung versah und ohne
0294Zweifel damit bessere Geschäfte macht, als seinerzeit der in
0295Paris darbende junge Componist geahnt hat. „Man muß
0296nicht mit Liedern anfangen,“ sagte mir einmal Meyerbeer,
0297„da bleibt man unbekannt, unbeachtet. Nur wenn man später
0298mit Opern oder anderen großen Sachen Erfolg hat, kommen
0299die kleinen nachträglich von selbst wieder auf die Oberfläche.
0300Das war mein Fall.“ Es ist auch Wagner’s Fall. Die
0301drei Romanzen hätten ihn nicht berühmt gemacht, das steht
0302außer Zweifel — nun er es aber anderweitig ist, gewinnen
0303diese Kleinigkeiten ein eigenthümliches Interesse. Sie sind
0304keineswegs originell und starkgeistig wie der spätere Wagner,
0305dafür aber, was dieser längst zu sein verlernt hat: liebens-
0306würdig.