Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2581. Wien, Dienstag, den 31. October 1871
[1]Musikalische Neuigkeiten. III.
(„Beethoven’s Leben“, von Thayer. „Johann Joseph Fux“, von Köchel.)
0003Ed. H. Soeben ist der zweite Band von Thayer’s
0004Beethoven-Biographie erschienen, sechs Jahre nach Veröffent-
0005lichung des ersten. An Gewissenhaftigkeit der Forschung ist die
0006Fortsetzung dem Anfange ebenbürtig, an Reichthum des In-
0007halts übertrifft sie ihn. Thayer hat für seine Arbeit ein er-
0008staunliches Material bewältigt, jeden Zettel geprüft, jede
0009Zeitung durchsucht, jede Tradition verfolgt. Die Ausführlich-
0010keit, mit welcher er einzelne, oft wenig erhebliche Punkte erörtert,
0011gilt glücklicherweise immer nur dem Factischen; der bloßen
0012Phrase gönnt er nicht eine einzige Zeile. Der zweite Band be-
0013handelt die Zeit von 1796 bis 1806, also nicht mehr als
0014zehn Jahre. Daß der Verfasser über diesen Zeitraum von
0015Beethoven’s 26. bis 36. Lebensjahre vieles Neue von Wichtig-
0016keit entdeckt habe, kann man nicht behaupten. Die Haupt-
0017sachen sind durchwegs bekannt, und über manche Partien, wie
0018zum Beispiel die Herzensgeschichten Beethoven’s, muß der auf-
0019klärungsbegierige Leser sich mit spärlichen Resultaten bescheiden.
0020Allein auch da, wo die greifbare Ausbeute von Thayer’s
0021Forschung gering ausfiel, bleibt die Methode seines Forschens
0022von großem Werth. Mit einer Exactheit, welche, an natur-
0023wissenschaftliche und philologische Forschungen erinnernd, in
0024die Musikgeschichte erst durch Jahn eingeführt worden ist,
0025sondert Thayer genau die beglaubigte Thatsache von der blos
0026wahrscheinlichen oder möglichen. Wo ein unerforschlicher, un-
0027beweisbarer Rest bleibt, sucht Thayer sein Heil nicht in phan-
0028tastischen Combinationen, sondern sagt rundweg: Das weiß
0029man nicht. Wenn die Leuchte dieses Forschers auch nichts
0030Anderes geleistet hätte, als den Nebel zu zerstreuen, welchen
0031leichtgläubige Ueberlieferung oder romanhafte Schriftstellerei
0032um gewisse Erlebnisse Beethoven’s angehäuft, wir müßten ihr
0033Verdienst hoch anschlagen. Wenig über 40 Jahre sind seit
0034Beethoven’s Tod verflossen, noch leben nicht wenige Männer,
0035die den Meister gekannt, und doch haben sich über ihn bereits
0036Mythen gebildet, Fabeln festgenistet, deren Beseitigung täglich
0037schwieriger wird. Dazu gehört insbesondere Beethoven’s Nei-
0038gung zu der jungen Gräfin Julia Guicciardi (später ver-
0039ehelichten Gräfin Gallenberg). Alle Biographen haben, Schindler
0040blindlings nachbetend, diesem zärtlichen Verhältniß eine außer-
0041ordentliche Wichtigkeit beigelegt und dasselbe allmälig durch ro-
0042mantische Zuthaten zu einer vollständigen Tragödie aufgebauscht.
0043Für ein unantastbares Beweisstück dieser „unglücklichen Leiden-
0044schaft“ galt bis heute ein nach Beethoven’s Tod in seinem
0045Schreibtische aufgefundener Brief mit zwei Postscriptis, auf
0046zwei Stücke Briefpapier mit Bleistift geschrieben, ohne An-
0047gabe des Ortes, der Jahreszahl und der Person, an die er
0048gerichtet. Dies war das Original der berühmten von Schindler
0049veröffentlichten „Drei Briefe Beethoven’s aus einem ungari-
0050schen Badeorte an seine geliebte Julie v. Guicciardi“. Obwol
0051gar kein Grund zu der Annahme vorlag, diese Briefe seien für
0052die Gräfin Guicciardi bestimmt gewesen, hat man dies auf
0053die bloße Angabe Schindler’s hin über dreißig Jahre lang als
0054unumstößliche Wahrheit betrachtet. Thayer beweist jetzt mit
0055schlagenden Gründen, daß die „drei Briefe“ gar nicht an
0056Julie gerichtet sein konnten! „Alle also, welche mit Thränen
0057der Sympathie diese Werthers-Leiden, von dieser Lotte ver-
0058ursacht, gesehen haben, mögen ihre Thränen trocknen. Sie
0059können sich mit der Versicherung beruhigen, daß die Kata-
0060strophe keineswegs so unglücklich war, wie sie dargestellt wird.“
0061Als Julie zwei Jahre, nachdem sie Beethoven kennen gelernt,
0062den Grafen Gallenberg heiratete (1803), machte der ver-
0063schmähte Liebhaber, treu seinem Zmeskall gegenüber ausge-
0064sprochenen Grundsatze: „Was nicht zu ändern ist, darüber kann
0065man nicht zanken“, gute Miene zum bösen Spiele und wen-
0066dete sich zu der Ausarbeitung der Symphonie Eroica. Auch die
0067Anekdote, daß Beethoven sich aus Schmerz über Julia’s Un-
0068treue in dem Erdödy’schen Schloßgarten zu Tode hungern
0069wollte, wird fortwährend auf bloßes Hörensagen nacherzählt,
0070ohne daß der entfernteste Anhaltspunkt vorläge, jenen (an sich
0071sehr unwahrscheinlichen) Selbstmordversuch mit der Guicciardi’-
0072schen Angelegenheit in Verbindung zu setzen. So kann denn Thayer
0073auf Grund mühsamer, gewissenhafter Untersuchungen die große
0074Masse der an diese Liebesgeschichte verschwendeten schwülstigen
0075Beredsamkeit „mit Einem Worte als sinnloses Gerede“ be-
0076zeichnen.
0077Natürlich lassen die sentimentalen Beethoven-Kritiker,
0078welche aus jeder Note das Gras ihrer „Bedeutung“ wachsen
0079hören, sich auch nicht nehmen, daß die Oper „Leonore“
0080(„Fidelio“) in engem Zusammenhang mit jener Liebesgeschichte
0081Beethoven’s stehe, und daß die schönsten Stellen darin ein
0082unmittelbarer Erguß von Gefühlen für Julie seien. Das voll-
0083ständige Skizzenbuch Beethoven’s zur „Leonore“ zeigt aber
0084augenscheinlich, daß jede Nummer, von der ersten bis zur
0085letzten, das langsame Ergebniß einer fortdauernden Arbeit und
0086unverdrossenen Studiums war. „Wäre diese Oper,“ fügt
0087Thayer hinzu, „die einzige großartige Ausnahme in einer
0088langen Reihe mittelmäßiger dramatischer Compositionen, dann
0089könnte man vermuthen, daß sie das Erzeugniß einer plötzlichen
0090und einzelstehenden Inspiration, die Wirkung der Liebe gewe-
0091sen wäre. In Wirklichkeit aber stand Beethoven’s Genius und
0092sein schöpferisches Talent zu hoch, als daß wir nöthig hätten,
0093die Entstehung schöner Musik in irgend einem seiner Werke
0094auf vermeintliche besondere Ursachen zurückzuführen.“ Dieser
0095Satz ist der beste Prüfstein für die richtige Empfindung,
0096welche den Verfasser auch im Urtheil über rein musikalische
0097Dinge leitet.
0098Die Unbefangenheit des Urtheils, welche Thayer bei
0099aller Verehrung für seinen Helden sich bewahrt, zeigt sich auch
0100in seiner freimüthigen, treffenden Schilderung von Beethoven’s
0101Charakter. Ein treues und erschöpfendes Bild von Beethoven
0102als Menschen würde, nach Thayer’s Ausspruch, einen beinahe
0103lächerlichen Contrast zu jenem bilden, welches gemeinhin als
0104das richtige betrachtet wird. Unser gegenwärtiges Zeitalter
0105muß zufrieden sein, in Beethoven bei all seiner Größe eine
0106durchaus menschliche Natur zu finden, die, wenn sie mit un-
0107gewöhnlichen Kräften ausgestattet war, gleichzeitig auf der
0108anderen Seite ungewöhnliche Schwächen zu erkennen gibt. Es
0109war das große Mißgeschick von Beethoven’s Jugend, da seine
0110guten und schlimmen Neigungen von Natur außergewöhnlich
0111lebhaft und stark waren, daß er nicht unter dem Einflusse
0112einer weisen und strengen elterlichen Zucht aufgewachsen war
0113und daß er nicht früh zu jener Gewohnheit der Selbstbeherr-
0114schung geführt wurde, die, wenn sie sich einmal befestigt hat,
0115den Charakter läutert und umgestaltet. In allen Beziehungen
0116begleiteten Beethoven die Folgen einer fehlenden sittlichen [2]
0117Jugenderziehung durch sein ganzes Leben hindurch und sind
0118in dem häufigen Zwiespalt zwischen seiner schlimmeren und
0119seiner besseren Natur und in seiner beständigen Neigung zu
0120Extremen sichtbar. Heute geräth er über irgend eine vielleicht
0121recht kleinliche Sache in ganz unmäßigen Zorn; morgen über-
0122schreitet seine Reue beiweitem das Maß seines Fehlers. Heute
0123ist er stolz, eigensinnig, beleidigend, sorglos gegenüber den An-
0124sprüchen, welche die Gesellschaft Menschen von hohem Range
0125zugesteht; morgen ist seine Unterwürfigkeit noch größer, als es
0126die Verhältnisse erfordern. Mit diesen Bemerkungen will der Ver-
0127fasser die Fehltritte Beethoven’s nicht als etwas Anderes darstellen,
0128denn als unerfreuliche und traurige Episoden in dem allgemei-
0129nen Verlauf seines Lebens. Gegenüber den Bemühungen an-
0130derer Biographen, welche Beethoven zu einem vollkommenen
0131Menschen-Ideal verklären, war es eine Nothwendigkeit, auch
0132die Fehler desselben zu nennen und zu erklären. Aus dem
0133gleichen Grunde ehren wir den aufrichtigen Ausspruch des Ver-
0134fassers, daß beim Studium von einigen 800 Briefen Beetho-
0135ven’s als überraschende Thatsache „die völlige Bedeutungslo-
0136sigkeit“ der beiweitem größten Zahl derselben hervortritt. Es
0137ist freilich nicht Beethoven’s Schuld, daß spätere Biographen
0138jeden dieser Zettel verewigen zu müssen glaubten.
0139Einen wohlthuenden Eindruck macht auch die Unpartei-
0140lichkeit Thayer’s in Beurtheilung der beiden Brüder
0141Beethoven’s, welche bekanntlich in allen bisherigen Bio-
0142graphien sich wie ein paar Teufel ausnehmen. Eine besonders
0143hohe Vorstellung von ihrem Charakter kann und will der
0144Verfasser uns keineswegs erregen. „Allein, so wenig Beetho-
0145ven ein Muster von Güte war, so wenig waren seine Brüder
0146abschreckende Beispiele von Ungerechtigkeit.“ Thayer weist nach,
0147daß sowol Ries als Schindler unter dem Einfluß starker
0148persönlicher Abneigung gegen diese Brüder schrieben, und daß
0149insbesondere Karl, dem sie anmaßende Einmischung in Beetho-
0150ven’s Geschäfte vorwerfen, demselben als vertrauter und kun-
0151diger Geschäftsführer werthvolle Dienste geleistet hat.*)
Auch
0157darf zuversichtlich behauptet werden, daß Beethoven schon vom
0158Jahre 1800 an von jeder Sorge um den Unterhalt Karl’s
0159wie Johann’s befreit war.
0160Durchwegs interessant sind Thayer’s Forschungen über
0161die ersten Aufführungen des „Fidelio“ im Theater an der
0162Wien, und neu erscheinen darunter die Mittheilungen des
0163kürzlich in hohem Alter verstorbenen Tenoristen Röckel, des
0164Florestan vom Jahre 1806. Daß das Publicum anfangs
0165von dieser Oper mehr betroffen als entzückt war, wird von
0166Thayer mit Recht begreiflich gefunden. „Schon die Ouver-
0167türe,“ sagt er, „war zu neu in ihrer Form, zu gewaltig in
0168ihrem Inhalt, um unmittelbar verstanden zu werden; und
0169im Jahre 1806 gab es wol in ganz Europa kein Publicum,
0170das im Stande gewesen wäre, in dem Feuer und dem tiefen
0171Ausdrucke der hauptsächlichsten Vocalnummern einen entspre-
0172chenden Ersatz für die oberflächliche Anmuth und die melo-
0173dischen Reize der beliebten Tagesopern zu finden — Eigenschaf-
0174ten, welche den Meisten im „Fidelio“ zu fehlen scheinen.“
0175Erklärte doch selbst Cherubini von der Ouvertüre, daß
0176er wegen Bunterlei an Modulationen darin die Haupttonart
0177nicht zu erkennen vermocht. Außerdem bringt Thayer zur
0178Ehrenrettung des vielverleumdeten Wiener Publicums manche
0179Thatsache vor, welche vollständig die Bemühungen unterstützt,
0180die ich für diese Ehrenrettung in meiner „Geschichte des
0181Wiener Concertwesens“ gemacht. Thayer bestätigt, „daß in
0182Wien die Werke keines anderen Componisten der jüngeren
0183Generation einen so schnellen und ausgedehnten Absatz fan-
0184den, wie die Beethoven’s“. Schon sehr früh wurde ihre aus-
0185gebreitete Popularität in einer Weise anerkannt, welche in
0186der deutschen periodischen Presse ohne Beispiel ist, nämlich
0187durch ein vollständiges, nach Rubriken geordnetes Verzeichniß
0188der „Werke des Herrn Ludwig van Beethoven“ veröffentlicht
0189in der Wiener Zeitung vom 30. Januar 1805. Schon da-
0190mals wurde Beethoven überall nur mit Mozart und Haydn
0191in Eine Reihe gesetzt; „der unbekannte Schüler, der 1792 nach
0192Wien gekommen, war im Jahre 1804 ein allgemein aner-
0193kanntes Glied des großen Triumvirats“.
0194Thayer’s Werk (das wol auf vier Bände anwachsen
0195dürfte) ist breit angelegt und mit minutiöser Gründlichkeit
0196abgefaßt. Das ist kein Tadel, denn das Werk handelt von
0197Beethoven, dem größten Componisten, dessen Musik den
0198Lesern so bekannt und theuer ist, wie dessen Persönlichkeit be-
0199deutend und selbst in Nebendingen interessant. Was soll man
0200aber dazu sagen, wenn über Johann Joseph Fux, den Hof-
0201capellmeister Karl’s VI., ein Buch von 771 Seiten größten
0202Octavformats geschrieben wird? Herr Ludwig Ritter v. Kö-
0203chel, rühmlichst bekannt durch seinen thematischen Katalog
0204der Mozart’schen Werke, hat dieses Kunststück fertig gebracht.
0205Gewiß hegt Jedermann die aufrichtigste Hochachtung für die
0206unermüdliche Arbeitskraft und den Forscherfleiß des Verfas-
0207sers. Allein wo die Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit so
0208weit geht, daß nahezu ganze Archive wörtlich abgedruckt wer-
0209den, da springt unsere Bewunderung leicht in Grausen über.
0210Herr v. Köchel hat nicht blos jedes auf Fux und dessen Fa-
0211milie bezügliche Document in extenso abgedruckt (ganze Ver-
0212lassenschafts-Abhandlungen sammt den Quittungen der Lega-
0213tare, den Messen-Stiftsbriefen etc.), sondern auch an dreihun-
0214dert im Archive des Obersthofmeister-Amtes ruhende Gutachten
0215und Bescheide über Anstellung, Gehaltsverbesserung, Pen-
0216sionen von Hofmusikern, ihrer Witwen und Waisen! Aus den
0217Folianten der Hofrechnungen von 1543 bis 1740 zog Köchel
0218den vollständigen Status der Hofcapelle mit der Angabe des
0219Eintrittes und Austrittes, des Gehaltes u. s. w. jedes ein-
0220zelnen Musikers. (Dieses Verzeichniß ist übrigens schon in
0221einer eigenen Monographie Köchel’s über die Hofcapelle [Wien,
02221869] enthalten.) Der Verfasser gibt uns ferner ein voll-
0223ständiges Register aller von 1631 bis 1740 am kaiserlichen
0224Hofe gegebenen Opern, Serenaden, Festspiele und schließlich
0225ein thematisches Verzeichniß sämmtlicher Fux’schen Composi-
0226tionen. Ein thematisches Verzeichniß von mehr als
0227400 Werken des J. J. Fux! Der musikalische Leser begreift,
0228was das sagen will — aber schwerlich, wozu es nützen soll.
0229Wenn ein Biograph dieses Hofcapellmeisters die Titel seiner
0230Opern und die Zahl seiner Messen, Vespern etc. anführt, so
0231dürfte er das Nöthige gethan haben, da man behufs eines
0232genaueren Studiums dieser Werke ohnehin die Hofbibliothek
0233besuchen muß, welche die überwiegende Mehrzahl die-
0234ser Compositionen in stattlichen Folianten und beque-
0235mer Uebersicht besitzt. Weit über Oesterreich hinaus
0236gefeiert war Fux nur als Theoretiker durch sein [3]
0237lateinisch geschriebenes Lehrbuch: „Gradus ad Parnassum“
0238(1725), welchem der Ruhm der ersten wahrhaft praktischen
0239Anweisung zur Composition gebührt. In seinen Compositio-
0240nen ist er zunächst und vor Allem Meister des Satzes, im
0241Sinne jener Zeit, welche in der correcten Ausführung künst-
0242licher, contrapunktischer und fugirter Stimmenverflechtung das
0243Ideal der Musik erblickte. Seine Opernmusik (so viel ich
0244davon kenne) erhebt sich nicht über das Niveau des damals
0245beliebten italienischen Geschmackes; höher steht seine Kirchen-
0246musik, welcher Fux mit entschiedener Vorliebe und unermüd-
0247licher Fruchtbarkeit oblag. Bezeichnend für sein Ideal von
0248geistlicher Musik ist es übrigens, daß Fux für sein Meister-
0249werk in diesem Fache eine von Anfang bis zu Ende im
0250Canon geschriebene Messe erklärte. Diese, Karl dem VI.
0251gewidmete berühmte „Missa canonica“ könnte man den leben-
0252dig gewordenen „Gradus ad Parnassum“ nennen. Hätte
0253Fux neben seiner Gelehrsamkeit und contrapunktischen Tau-
0254sendkünstlerschaft die Genialität besessen, mit welcher seine
0255jüngeren Zeitgenossen Händel und Bach jene starren Formen
0256beseelten und durchgeistigten, wäre er, gleich diesen, ein großer
0257musikalischer Erfinder und Poet gewesen, so würden seine
0258Compositionen unmöglich so schnell und so vollständig ver-
0259gessen worden sein. Das Beste, was Fux geschaffen, kann
0260die Wahrheit des Satzes nicht umstoßen, daß erst mit Bach
0261und Händel unsere lebendige und lebensfähige Musik beginnt,
0262und daß durch diese beiden Meister alle vorhergehenden
0263deutschen Tonsetzer für uns auf ein lediglich historisches In-
0264teresse herabgedrückt worden sind.
0265Immerhin war Fux durch sein Ansehen und seine Stel-
0266lung als Hofcapellmeister unter drei Kaisern hervorragend genug,
0267um eine Biographie zu verdienen, etwa von dem Umfange
0268der gedrängten und doch so ausgezeichneten Monographie For-
0269kel’s über Sebastian Bach. Das Wesentliche, was Köchel
0270über Fux vorbringt, ließe sich leicht auf hundert Seiten zu-
0271sammendrängen. Dann würde sein Buch (dessen Herausgabe
0272nur durch die liberale Unterstützung der kaiserlichen Akademie
0273der Wissenschaften möglich wurde) größeren Nutzen stiften, es
0274würde mehr Leser und vielleicht sogar einige Käufer finden.
0275Für Musikfreunde, welche die wesentlichsten Daten des Buches
0276zu erfahren wünschen, ohne selbst zu lesen und zu kaufen, fügen
0277wir folgende Mittheilungen bei:
0278Auf die dürftigsten Nachrichten beschränkt, ohne beglau-
0279bigte Daten über den Geburtsort, das Geburts- und Todes-
0280jahr von Fux, begann Köchel auf gut Glück seine Forschun-
0281gen.**)
Den ersten Anhaltspunkt lieferte ein beim Wiener
0287Landesgerichte deponirtes Testament von Fux, aus welchem
0288erhellte, daß Fux verheiratet, aber kinderlos war und Ver-
0289wandte in Hirtenfeld bei Marein in Steiermark hatte. Herr
0290v. Köchel reiste nach Hirtenfeld, dem nunmehr sichergestellten
0291Geburtsorte seines Helden, durchstöberte alle Geburts- und
0292Sterbematrikeln und brachte einen großartigen Stammbaum
0293der Familie Fux zu Stande, auf welchem auch manche „Wol-
0294sinn, geborne Fuchsinn“ anmuthig herumklettert. Von dieser
0295unermüdlichen Fux-Jagd brachte Herr v. Köchel auch ein leben-
0296diges Stück Beute heim: den 94jährigen Bauer Peter Fux,
0297der natürlich von seinem berühmten Ahnherrn nichts wußte.
0298Die Nachforschungen nach Correspondenzen waren vergeblich,
0299da die steierischen Mitglieder der Familie Fux leider (gottlob?)
0300nicht schreiben konnten. Wir finden den neugebornen Johann
0301Joseph Fux, den wir in der Wiege zu Hirtenfeld verlassen,
0302erst als gemachten Mann und Organisten der Schottenkirche
0303in Wien wieder. Man kann sich den Schmerz vorstellen, mit
0304welchem der würdige Verfasser das Bekenntniß ablegt, daß
0305man über die ersten 36 Lebensjahre des Hofcapellmeisters
0306Fux nichts, aber auch gar nichts wisse. Ueber den muth-
0307maßlichen Bildungsgang desselben stellt Köchel übrigens einige
0308sehr annehmbare Vermuthungen auf. Fux wurde 1698 Hof-
0309compositor unter Kaiser Leopold I., später Domcapellmeister
0310bei St. Stephan und Vice-Hofcapellmeister des Kaisers Jo-
0311seph I., endlich (1715) wirklicher Hofcapellmeister unter
0312Karl VI. Er starb, 81 Jahre alt, geehrt und wohlhabend,
0313im Jahre 1741 und wurde am Freithofe von St. Stephan
0314neben seiner vorangegangenen Frau beigesetzt.