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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2588. Wien, Dienstag, den 7. November 1871

[1]

Musik.

(Erstes Gesellschaftsconcert. — Rubinstein. — Hauptmann’s Briefe an Hauser. — Hofoperntheater.)

Wien, 6. November.


0005Ed. H. Die „Gesellschaft der Musikfreunde“ gab gestern
0006ihr erstes Abonnements-Concert. Die Novität, welche diesmal
0007mit der größten Spannung erwartet wurde, war der neue
0008Dirigent Anton Rubinstein. Glühende Verehrer, sowie tempe-
0009rirte Bewunderer dieses Künstlers — denn unbedingte Gegner
0010hat er gewiß nicht — sind einig darin, daß die Wiener
0011Musik-Gesellschaft an Rubinstein einen glänzenden, europäisch 
0012berühmten Namen gewonnen hat. Das ist nicht wenig, nicht
0013bedeutungslos für ein Institut, welches über die schlichte Tüch-
0014tigkeit hinaus auch einen aristokratischen Glanz ambitionirt.
0015Rubinstein ist unter den Clavier-Virtuosen der Gegenwart
0016unbestritten der Erste und einer der Ersten unter den leben-
0017den Componisten; er wird auch unter den Dirigenten nicht
0018der Letzte sein. Jedenfalls darf man die Clavier-Virtuosität
0019für Rubinstein’s bewunderungswürdigste, in sich vollendetste
0020Specialität erklären, für diejenige Meisterschaft, in der er
0021einzig ist. Als von einer Berufung dieses Künstlers nach
0022Wien die Rede ging, dachte wol Jedermann zunächst an den
0023Virtuosen Rubinstein und freute sich, daß Wien zu sei-
0024nen tüchtigen Pianisten und Lehrern nun auch einen gefeierten
0025großen Virtuosen erhalten solle. Die seltsame Abnormität, daß
0026Wien seit Menschengedenken keinen Clavier- und keinen Violin-
0027Virtuosen ersten Ranges dauernd besitzt, sollte dadurch zur
0028einen Hälfte getilgt werden. Man dürfte annehmen, die
0029„Gesellschaft der Musikfreunde“ werde das mit so bedeuten-
0030den Opfern erkaufte Engagement Rubinstein’s nicht ohne alle
0031Beziehung auf die höchste Ausbildung des Clavierspieles in
0032ihrem Conservatorium lassen, ihm mindestens eine Art Ober-
0033Inspection darüber einräumen. Daß dies nicht geschah, daß
0034Rubinstein’s Meisterschaft auf dem Clavier für die „Gesell-
0035schaft der Musikfreunde“ und deren Conservatorium gar nicht
0036existirt, ist eine Lücke, die wir aufrichtig beklagen. Nicht den 
0037unübertroffenen Virtuosen berief man, auch nicht den hochbe-
0038gabten Componisten, denn dieser gehört ja ohnehin der ganzen
0039Welt, nur den „artistischen Director“ Rubinstein wollte man
0040gewinnen. Nach dieser Richtung klangen die Petersburger
0041Lobhymnen auf Rubinstein nicht so beherzt und blieben nicht
0042so unbestritten wie sein Virtuosen- und Componistenruhm.
0043Jedenfalls wird sich Rubinstein als Concert-Director hier erst
0044bewähren und wol einigermaßen bemühen müssen, wenn er
0045die schwer errungenen Erfolge Herbeck’s und Dessoff’s 
0046sofort theilen will. Thatsache bleibt, daß die „Gesellschaft der
0047Musikfreunde“ gerade aus der glänzendsten Eigenschaft ihres
0048neuen Directors keinen Vortheil zu ziehen wußte — und
0049höchstens die Nachtheile davon ernten kann. Ganz abgesehen
0050von den inneren Nachtheilen, welche sich gewöhnlich bemerkbar
0051machen, wenn ein Virtuose par excellence Director eines
0052großen Kunst-Institutes wird — die äußeren klopfen jetzt
0053schon an die Thür. Rubinstein soll nämlich gesonnen sein,
0054mit dem Schlusse dieser Saison seine Stellung in Wien wie-
0055der aufzugeben, um einer verlockenden Einladung nach Amerika 
0056zu folgen. So ist mit Virtuosenmächten nicht einmal ein
0057zweijähriger Bund zu flechten!


0058Die Art, wie Rubinstein das sonntägige Concert dirigirte,
0059war ganz geeignet, für ihn einzunehmen. Vollständige Be-
0060herrschung der (auswendig dirigirten) Tonwerke, ein scharfes
0061Auge und ein kräftiger, sicher leitender Arm, in Haltung und
0062Miene nichts von virtuoser Gefallsucht oder slavischer Devo-
0063tion, eher ein Anflug von slavischem Trotz, der ihn gar nicht
0064übel kleidet. Rubinstein brachte zwei Krönungshymnen von Hän-
0065del
, Beethoven’sEroica“ und den 114. Psalm von
0066Mendelssohn zur Aufführung. In Händel’s Musik nahm
0067er, dem Styl der Zeit gemäß, die Tempi äußerst gemessen,
0068selbst die Allegros, in der „Eroica“ den ersten Satz etwas be-
0069dächtiger, als man gewohnt ist, zum Vortheile des Stückes,
0070welches dadurch nicht blos überaus deutlich, sondern auch
0071charaktervoller klang. Dieser Symphoniesatz, in welchem man
0072ehemals, kindisch genug, ein Kriegsschiff erblickte, während der
0073Componist darin offenbar einen heroischen Charakter musi-
0074kalisch wiedergeben wollte, verliert durch ein beschleunigtes 
0075Tempo an überzeugender Kraft. Ganz ausgezeichnet gelangen
0076der Trauermarsch und das Scherzo. Das rasche Tempo des
0077letzteren stimmt, nach meiner Empfindung, vollkommen mit
0078dem Geiste des Stückes, nicht so das schnellere Zeitmaß des
0079Finalsatzes, welches, an sich kaum motivirt, obendrein das
0080Mißglücken einer sonst gefahrlosen Flötenpassage verschuldete.
0081Rubinstein erntete nach jedem Satze der Symphonie anerkennen-
0082den Beifall, welchen er auch durch das sorgfältige Einstudiren
0083der Chöre von Händel und Mendelssohn verdient hat.


0084Händel, welcher den Ausdruck festlicher Freudigkeit so
0085sehr in seiner Macht hatte, erhielt in seiner bewegten Carrière
0086wiederholt günstige Gelegenheit, denselben glänzend zu mani-
0087festiren. Ein solcher Anlaß war die Krönung König Georg’s II. 
0088am 11. October 1727 in London. Für die Krönungsfeier-
0089lichkeiten in der Westminster-Abtei war eine eigene musikalische
0090Liturgie festgesetzt, Chöre und Instrumental-Musik enthaltend.
0091Die Chöre waren sogenannte „Anthems“, eine Art Misch-
0092form von Motette und geistlicher Cantate. Der Name dieser
0093in der Musik-Literatur eigentlich nur noch durch Händel fort-
0094lebenden Gattung „Anthem“ stammt von Ant-hymn, Gegen- 
0095oder Wechselgesang, bedeutete somit ursprünglich wol schlecht-
0096weg eine Antiphonie, bis Purcell und noch mehr Händel 
0097jene größere Kunstform daraus entwickelten, welche wir in dem ersten
0098Gesellschafts-Concerte kennen lernten. Von den vier Anthems,
0099welche Händel für die Krönungsfeier Georg’s II. geschrieben,
0100hatte Rubinstein zwei zur Aufführung gewählt: „Zadok the
0101Priest“ (siebenstimmig) und „Let thy hand be strengthened“
0102(fünfstimmig). Noch wirksamer als das erste hätte sich wol
0103das dritte Anthem erwiesen: „The king shall rejoice“;
0104immerhin bleibt die von Rubinstein getroffene Wahl unanfecht-
0105bar, und namentlich für feierliche Eröffnung eines Concertes
0106sehr passend. Die beiden Anthems üben, wie alle Händel’ -
0107sche Chormusik, die wohlthätig stärkende Wirkung eines musi-
0108kalischen Stahlbades; der Hörer fühlt sich ermannt und ge-
0109kräftigt durch solche vollaustönende, markige Musik, welche
0110schnurgerade, ohne jeden sentimentalen Seitenblick auf ihr er-
0111habenes Ziel losschreitet. Auf die Dauer können wir Kinder
0112des neunzehnten Jahrhunderts allerdings das Sentimentale [2]
0113nicht leicht entbehren. Händel’s Krönungshymnen wirken übri-
0114gens mehr gattungsmäßig als individuell, indem sie die typi-
0115schen Vorzüge Händel’scher Chormusik ohne besondere Indivi-
0116dualisirung des Stoffes wiederholen und an zahlreiche ähnliche
0117Werke des Meisters erinnern. Dieses Vorwiegen des Allge-
0118meinen, Gattungsmäßigen vor dem Individuellen ist nicht
0119Händel allein, sondern allen älteren Meistern, einschließlich
0120Haydn, eigenthümlich, gegenüber dem Ausdrucke der modernen
0121Meister, bei welchen jede einzelne Composition sich als be-
0122stimmte, nicht zu verwechselnde Persönlichkeit aus der Gattung
0123herauszuheben pflegt.


0124Als dritte und letzte Nummer des Concertes figurirte
0125Mendelssohn’s oft gehörter, darum nicht minder willkommener
0126114. Psalm. „Kennen Sie Mendelssohn’s drei Psalmen?“
0127schrieb Moriz Hauptmann im Jahre 1850 an Hauser.
0128„Das ist, blos musikalisch oder technisch genommen, gar nicht
0129so etwas Außerordentliches, gar nicht etwas, was nicht An-
0130dere auch machen könnten, und doch ist es etwas recht Schö-
0131nes, und ich wüßte eben aus unserer Zeit gar nichts damit
0132zu vergleichen. Nachzumachen ist’s jetzt nicht schwer, aber dem
0133Mendelssohn hat’s eben doch Keiner vorgemacht. Er hat eben
0134nur den Psalm vor sich gehabt, nicht Bach, nicht Händel,
0135Palestrina oder sonst Einen, oder eine besondere Musikmode,
0136nur den Psalm, und da ist’s denn eben nicht etwas Neu- 
0137oder Altmodiges geworden, sondern eben der Psalm in recht
0138schöner musikalischer Wirkung. Wie die Worte von 3000
0139Jahren her noch heute in uns dieselben sind, so kann man
0140sich auch eine solche Musik, die hier gar keine Ansprüche
0141macht, eine künstliche Kunst zu sein, überhaupt nur etwas für
0142sich zu sein, sondern nur das Gefühlselement für das trockene
0143Wort — vor- und zurückdenken in der Zeit, ohne daß sie
0144Einem alt oder neu vorkommen müßte. In diesen Sachen,
0145die in den letzteren Mendelssohn’s überhaupt: im „Lauda
0146Sion“, in der „Athalia“, finde ich etwas Großartiges, mehr
0147als bei den früheren, die schön sind, aber selten das Gefühl
0148des Erhabenen erregen, wie es Beethoven z. B. auch im
0149kleinen Stück erregt, dieser oft auf unheimliche Weise.“ Diese
0150treffenden Worte Hauptmann’s sollen nicht blos Mendelssohn’s 
0151wegen hier stehen, sondern mehr noch, um das Buch anzu-
0152empfehlen, dem sie entnommen sind. Ich meine die soeben
0153bei Breitkopf und Härtel herausgekommenen „Briefe von
0154Moriz Hauptmann an Franz Hauser
“, in zwei
0155Bänden. Hauptmann gehörte zu den intimsten Freunden des
0156Sängers und nachmaligen Conservatorium-Directors Franz
0157Hauser, über welchen ich kürzlich in diesen Blättern ausführ-
0158lichere Mittheilungen gebracht. Durch mehr als vierzig Jahre
0159(1825 bis 1867) verband die beiden Männer ein lebhafter
0160Briefwechsel, welcher alle musikalischen Fragen und Tages-
0161ereignisse von Wichtigkeit berührte. Otto Jahn hatte gleich
0162nach Hauptmann’s Tod den Entschluß gefaßt, eine Auswahl
0163dieser Briefe herauszugeben, aber nur zu bald überraschte ihn
0164selbst der Tod. Nach ihm hat Professor Alfred Schöne in
0165Erlangen die Arbeit mit hingebendem Eifer und eindringen-
0166dem Verständnisse aufgenommen. Weit entfernt, jedes intime
0167Zettelchen abzudrucken, gibt uns Professor Schöne von 438
0168Briefen Hauptmann’s nur 193; sie entrollen ein getreues
0169Abbild des nach Außen so einfachen, an innerer Entwicklung
0170und Arbeit so reichen Lebensganges, besser als dies ein Bio-
0171graph zu schildern vermöchte. Diese Briefsammlung ist eine
0172der erfreulichsten Bereicherungen unserer musikalischen Literatur;
0173möchten die Briefe Felix Mendelssohn’s an Hauser bald
0174in ähnlicher Weise nachfolgen!


0175Im Hofoperntheater wurde die von Mosenthal ge-
0176dichtete, von Franz Doppler componirte Oper „Judith
0177nach mehrmonatlicher Unterbrechung wieder aufgenommen. Im
0178Januar dieses Jahres zum erstenmal aufgeführt, mußte „Judith“
0179nach wenigen Reprisen wegen Erkrankung der Frau Materna 
0180zurückgelegt werden. Statt dieser hat nun Frau Dustmann 
0181die Titelrolle übernommen und zu einer ungleich höheren dra-
0182matischen Bedeutung gehoben. An Kraft und mächtigem Um-
0183fang der Stimme war ihr Frau Materna allerdings über-
0184legen und materiell befähigt, in der anstrengenden Ensemble-
0185nummer manches Licht effectvoller aufzusetzen. Allein über die
0186außerordentliche dramatische Gestaltungskraft und den hinreißend
0187leidenschaftlichen Vortrag der Dustmann vergaß man leicht den
0188etwas müden, angegriffenen Klang ihrer Stimme. Wollten 
0189wir aus ihrer Leistung glückliche Einzelheiten herausheben, wir
0190würden mit der Aufzählung kaum fertig. Ihre Schilderung
0191der plötzlich entdeckten Quelle im ersten Act, ihr ergreifend
0192wahres, geistvolles Spiel während der Vision im zweiten
0193Act, das erste Erscheinen vor Holofernes und die Scene mit
0194Athaniel im vierten Act sind Meisterstücke, die allein schon
0195einen Besuch dieser Vorstellung lohnen. Frau Dustmann 
0196hat nicht blos die Intentionen des Dichters und des
0197Componisten trefflich wiedergegeben, sie hat Beiden nachgeholfen.
0198So hatte zum Beispiel der Dichter vorgeschrieben, daß,
0199nachdem Judith dem Holofernes ins Schlafgemach nachstürzte,
0200um ihn zu tödten, die Scene einige Minuten leer bleibe und
0201sich dann in die freie Gegend verwandle, wo Judith im
0202Triumph einzieht. In der ersten Vorstellung wurde die Scene
0203auch so gespielt: Judith kam aus dem Zelte des Holofernes 
0204nicht wieder zum Vorschein, und nur durch einige Tacte Or-
0205chestermusik wurde die Ermordung des Holofernes angedeutet.
0206Frau Dustmann gewahrte hier eine Lücke oder mindestens das
0207unerklärliche Uebersehen eines naheliegenden, fast selbstver-
0208ständlichen Effectes. Sie stürzt nach kurzem Verweilen aus
0209dem Schlafgemach des Holofernes, mit dem Schwert in der
0210Hand, heraus und eilt aus dem Zelte in das Lager. Jetzt
0211erst ist die Scene deutlich und vollständig, eine musikalisch-
0212pantomimische Uebersetzung der Worte: „Sie ist gethan, die
0213That.“ Wenn wir rücksichtlich der Ausführung dieser glück-
0214lichen Idee noch einen Wunsch haben, so kann es nur der
0215sein, daß Frau Dustmann nicht so gänzlich gebrochen, sich
0216qualvoll schleppend und windend, das Zelt verlasse, sondern
0217— einen kurzen Augenblick wenigstens — gehobenen Hauptes
0218und triumphirenden Blickes innehalte, im Gefühl des Sieges
0219und des glücklichen Gelingens einer That, die sie ja auf
0220Gottes Geheiß und zur Rettung ihres Volkes unternahm.
0221Außer Frau Dustmann, welche die ganze Vorstellung hindurch
0222ausnehmend gefeiert war, haben sich die Herren Labatt,
0223Rokitansky, Krauß, die Fräulein Gindele und
0224Siegstädt, endlich Capellmeister Dessoff um die Wie-
0225deraufführung der Doppler’schen Oper verdient gemacht.