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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2598. Wien, Freitag, den 17. November 1871

[1]

Musik.

(Flotow’s neue Oper „Sein Schatten“. — Signora Benatti als Martha. — Erstes Philharmonisches Concert. — Joseph Wieniawski.)


0004Ed. H. Halévy hat einmal das Kunststück vollbracht,
0005eine dreiactige Oper überwiegend ernsten Inhalts blos für
0006vier Sänger, mit Ausschluß des Chors und jeglicher Neben-
0007person, zu schreiben, um damit die echtesten Erfolge zu er-
0008zielen. „Der Blitz“ (so heißt die Oper) wurde eines der
0009anmuthigsten, geistreichsten Werke Halévy’s. Durch reiche
0010Melodienfülle, scharfe dramatische Ausprägung der vier han-
0011delnden Charaktere, endlich durch eine glänzende Instrumenti-
0012rungskunst wußte er die Monotonie zu besiegen, die solcher
0013Beschränkung fast nothwendig anhaftet. Das Vorbild Halévy’s
0014scheint Herrn v. Flotow zu einem ähnlichen Experiment er-
0015muthigt zu haben, zu einer dreiactigen, blos von vier Personen
0016gesungenen Oper „L’Ombre“, welche 1870 zum erstenmal
0017im Théâtre Lyrique zu Paris gegeben und kürzlich unter dem
0018Titel: „Sein Schatten“ ins Theater an der Wien verpflanzt
0019worden ist. Die beiden kurzen Einleitungschöre zum ersten
0020und zweiten Act sind erst nachträglich für die deutsche Auf-
0021führung hinzucomponirt und könnten als ganz unbedeutend und
0022mit der Handlung gar nicht zusammenhängend füglich weg-
0023bleiben. Ueber die richtige Bezeichnung seiner Novität scheint
0024der Componist selbst nicht recht im Klaren: auf dem gestoche-
0025nen Clavierauszug heißt sie „komische“, auf dem Theaterzettel
0026„romantische“ Oper. Komisch kann „Sein Schatten“ höchstens
0027in dem weiteren Sinne der französischen Opéra comique
0028heißen, womit man bekanntlich nicht so sehr den Inhalt als
0029die äußere Form bezeichnet; die Dürftigkeit der Komik und
0030der luxuriöse Reichthum an Unwahrscheinlichkeiten sollen wol
0031durch das neuere Epitheton „romantisch“ bemäntelt werden.
0032Um uns einen langen Abend hindurch lediglich mit einem
0033Sänger-Quartett zu unterhalten, muß man nicht blos eine
0034reichere Melodienfülle, sondern vorerst auch ein besseres
0035Textbuch zur Verfügung haben, als Flotow in diesem
0036Falle. Saint-Georges, der bewährte alte Prakti-
0037ker, hat dem Componisten diesmal ein recht langweili-
0038ges Libretto geliefert, krankhaft überspannt in den ern-
0039sten Partien, witzlos und alltäglich in den komischen. —
0040Ein armes Landmädchen, Jeanne, kommt krank und ab-
0041gehärmt in ein Dorf, um bei dem jungen Holzschnitzer Fa-
0042brice als Magd einzutreten. Bei seinem Anblick fällt sie in
0043Ohnmacht, denn sie erblickt in ihm den „Schatten“ eines von
0044ihr heimlich geliebten Officiers, des Grafen Rollcourt, welcher
0045kriegsrechtlich erschossen wurde. Jeanne eilt nächtlicherweise,
0046halb irrsinnig, aus ihrer Kammer ins Freie und will sich in
0047einen Abgrund stürzen; Fabrice rettet sie. Es zeigt sich bald,
0048daß Letzterer leibhaftig der todtgeglaubte Rollcourt und nicht
0049blos dessen Schatten ist; man hatte mit blindgeladenen Ge-
0050wehren nach ihm geschossen. Der Urheber dieses Rettungs-
0051mittels wird verrathen und soll nun selbst zum Tode verur-
0052theilt werden; Fabrice hört davon und stellt sich freiwillig
0053dem Kriegsgerichte, um seinen Freund zu retten. Gerrüht
0054von solchem Edelmuth, pardonnirt der König Beide; Fabrice 
0055kehrt in sein Dorf zurück und heiratet Jeanne. Damit es
0056eine Doppelhochzeit gebe, werden auch die beiden munteren
0057Personen, welche die ernste Handlung des Stückes umspielen,
0058der Doctor Mirouet und die Pächterin Abeille, ein Paar.
0059Diese für einen ganzen Theater-Abend viel zu dürftige Hand-
0060lung wird unmäßig gedehnt, retardirt und durch zahlreiche
0061ermüdende Lückenbüßer (Trinklieder, Romanzen etc.) hinaus-
0062gezogen. Schon der erste Act mit seiner mehr als behag-
0063lichen Kleinmalerei stimmt ungeduldig; man acceptirt ihn indeß
0064als eine Anweisung auf nachfolgende spannende Verwicklungen.
0065Die Anweisung erweist sich als falsch; nach dem zweiten und
0066dritten Acte findet man, daß der erste noch der beste gewesen.
0067Die Vermuthung, daß Flotow’s Talent sich in seinen beiden
0068ersten, so erfolgreichen Opern, „Stradella“ und „Martha“,
0069nahezu erschöpft habe, bestätigte schon „Indra“, so hübsche
0070Einzelheiten diese Oper, namentlich in den Volksscenen des
0071zweiten Actes, noch enthält. Seither vermindern sich Flotow’s
0072Melodien in dem Maße, als seine „Martha“-Tantièmen an-
0073wachsen; jede spätere Oper wird um eine Tinte blässer,
0074bis uns schließlich von dem berühmten Componisten
0075der „Martha“ nichts bleibt, als — „sein Schatten“.
0076Eine einzige Nummer können wir unbedingt und von Herzen
0077rühmen: das Strophenlied des Doctors: „Quand je monte
0078Cocotte“ im ersten Acte. „Cocotte“ heißt des Doctors altes
0079Reitpferd, dessen (tactweise im Orchester erklingendes) Schel-
0080lengeläute von allen Patienten der Umgebung so freudig be-
0081grüßt wird. Die Melodie hat etwas Schlichtes, Treuherziges;
0082der muntere Zweivierteltact und der gleichmäßig trabende
0083Rhythmus passen hier vortrefflich. Allein wie lästig wird uns
0084in der ganzen übrigen Partitur die erbarmungslose Herrschaft
0085dieses quadrillemäßigen Zweivierteltactes! In der ganzen,
0086neunzehn Musiknummern zählenden Oper finden sich kaum
0087drei bis vier, die nicht in zweitheiligem Tacte stünden; im
0088ersten Acte wird dieser ein einzigesmal durch ein Andante im
0089Dreivierteltacte („Ton sourire“) unterbrochen. Wo es aber
0090einmal bei Flotow heißt: Allegretto, Zweivierteltact, da ist
0091der Quadrillen-Typus, eine dürftige Harmonie und ein dre-
0092schermäßiges Gleichmaß des Rhythmus (der nicht immer
0093volle Aehren drischt) so gut wie garantirt. Trotzdem über-
0094ragen die munteren Gesangsnummern an Werth die senti-
0095mentalen: für die ihm fehlende Tiefe und Innigkeit des Ge-
0096fühles besitzt Flotow nur das Surrogat einer manchmal ele-
0097ganten, manchmal auch ganz trivialen Süßlichkeit. Ein Halévy 
0098und dem späteren Auber abgelauschtes Hausmittelchen, faden-
0099scheinige Melodien „pikant“ zu machen, verwendet Flotow bis
0100zum Uebermaß, indem er dissonirende Intervalle der Ge-
0101sangspartie durch starke Accente auf guten Tacttheilen heraus-
0102hebt, was sich im langsamen Tempo mitunter ganz abscheu-
0103lich macht; z. B. in der Romanze des Fabrice (Nr. 12 im
0104zweiten Acte), wo die Singstimme gleich anfangs und oft im
0105Verlaufe sich auf einem h breitmacht, während das Orchester
0106den C-dur-Dreiklang arpeggirt. Die heiteren Nummern sind,
0107wie gesagt, besser gelungen; das erste Duett, das
0108Quartett im ersten Finale und andere haben wenigstens
0109einen frischen, leichten Zug. Neues und Originelles
0110wird man jedoch auch hier wenig finden, desto mehr
0111Reminiscenzen an „Martha“ und „Stradella“. Was
0112die Charakteristik der Personen und Situationen betrifft,
0113so begnügt sich die Musik so ziemlich mit dem allgemeinen
0114Gegensatz von Ernst und Lustig. Die weitaus gelungenste
0115Figur in der Oper ist der Doctor Mirouet. Zur Ehren-
0116rettung des Dichters und des Componisten muß constatirt
0117werden, daß gerade diese dankbarste Rolle hier in der Dar-
0118stellung vergriffen und dadurch der Total-Eindruck des Stückes
0119beeinträchtigt wurde. Den guten Dorfarzt Mirouet denken
0120wir uns als einen heiteren, behäbigen Mann gesetzten Alters, [2]
0121mit gepudertem Haar (das Stück spielt im vorigen Jahr-
0122hundert) und stattlichem spanischen Rohr. Es wird wiederholt
0123von ihm gesagt, daß er weder jung noch hübsch sei, er muß
0124auch ein wenig komisch sein und doch alle Herzen für sich ge-
0125winnen. Diese Figur (für welche Rott in jüngeren Jahren
0126trefflich gepaßt hätte) spielte Herr Borkowski als jugend-
0127lichen Liebhaber, mit braunem Lockenkopf und gewichstem
0128Schnurrbart, fortwährend kokett lächelnd und sich malerisch
0129wiegend. Die wahre Bedeutung des glücklich gezeichneten
0130Charakters war damit bis auf eine Ahnung ausgetilgt. Die
0131Vorzüge des Sängers Borkowski wollen wir darum nicht
0132schmälern, dessen biegsame Baritonstimme und deutliche Aus-
0133sprache alle Anerkennung verdienen und auch gefunden haben.
0134Die beiden Rollen der Witwe Abeille und des jungen
0135Fabrice fanden in Fräulein Geistinger und Herrn
0136Swoboda vorzügliche Darsteller. Fräulein Olma spielte
0137die weinerliche Jeanne sehr sorgfältig; zu voller musika-
0138lischer Wirkung kann ihre spröde, noch ungenügend geschulte
0139Stimme es nicht bringen. Herr Capellmeister R. Genée ver-
0140dient für die geschickte Bearbeitung des französischen Text-
0141buches, sowie für die musikalische Leitung der Vorstellung das
0142aufrichtigste Lob. Der Componist des „Schattens“, Herr v.
0143Flotow, wohnte der ersten Vorstellung bei und wurde nach
0144jedem Acte stürmisch gerufen.


0145Den Flotow aus guter Zeit und von guter Art hör-
0146ten wir wenige Tage später im Hofoperntheater, wo man die
0147unverwüstliche, über ganz Europa verbreitete und beliebte
0148Martha“ aufführte. Eine so außerordentliche, anhaltende
0149Popularität ist niemals ohne Grund, und so muß die Vor-
0150züge dieser Partitur selbst der Kritiker willig anerkennen, welcher
0151vorgestern den vierundzwanzigsten Jahrestag seiner nur durch
0152wenige Fasttage gemilderten Bekanntschaft mit „Martha“ ab-
0153gesessen hat. Je länger und öfter uns aber eine Oper leich-
0154teren Schlages vorgeführt wird, desto vorzüglicherer Darsteller
0155bedarf sie, um noch einiges Interesse zu erregen. Fräulein
0156Julie Benatti hat als Martha leider nur bescheidenen
0157Anforderungen genügt. Im verflossenen Sommer hat diese
0158muntere junge Dame als Mitglied der italienischen Opern-
0159Gesellschaft im Theater an der Wien sehr gefallen, und zwar
0160in der volksthümlichen Rolle der Schustersfrau in Ricci’s 
0161Buffo-Oper: „Crispine e la Comare“. Wie viel kommt 
0162nicht auf den nationalen Boden einer Kunstleitung und auf
0163die Umgebung eines Sängers an! Die von Herrn Franchetti 
0164herumgeführte Gesellschaft bestand bekanntlich aus einem wil-
0165den Tenorriesen (Patierno) und einer Anzahl zahmer Wesen,
0166welche aus Bescheidenheit ihren Mangel an Talent nicht
0167durch allzu viel Stimme auffallend machen wollten. Von
0168dieser Unterlage hob sich die zierliche Benatti mit ihrem na-
0169türlichen Spiel und ihrem leicht beweglichen Stimmchen sehr
0170günstig ab. Aber im neuen Opernhause! Wie klang das
0171Stimmchen da spitz und reizlos, wie naturalistisch die Colo-
0172ratur mit ihrem zwar hübschen Triller, aber unsicher erhasch-
0173ten hohen Staccato und der häufig schwankenden Intonation!
0174Auch der Vortrag blieb unbedeutend, schwunglos; ohne rhyth-
0175mische Elasticität in brillanten Stücken, wie das Spinnquar-
0176tett, ohne Innigkeit in den sentimentalen, wie die (längst
0177zur Hagebutte gewordene) „Letzte Rose“. In Spiel und Hal-
0178tung ließ Fräulein Benatti die vornehme Lady vermissen, ohne
0179für die mangelnde Eleganz durch warm durchbrechende Herz-
0180lichkeit zu entschädigen. Bewunderungswürdig ist der Fleiß,
0181mit welchem Fräulein Benatti in wenigen Monaten sich das
0182Deutsche angeeignet hat; aber die peinliche Empfindung blieb
0183uns doch, die Sängerin spreche eine mühsam eingelernte, ihr
0184unverständliche Sprache. Zu Anfang der Oper erntete Fräu-
0185lein Benatti reichlichen Beifall, derselbe verlief sich jedoch
0186immer stiller im Laufe der Vorstellung. Der musikalische
0187Tröster dieses Abends war Herr Walter, welcher die Me-
0188lodien des Lyonel mit liebenswürdiger Zartheit sang.


0189Die Philharmonischen Concerte haben unter
0190der bewährten, ausgezeichneten Leitung des Capellmeisters
0191Dessoff im großen Musikvereinssaal begonnen. Auf die
0192unübertrefflich gespielte „Anakreon“-Ouvertüre von Cherubini 
0193folgte Mendelssohn’s Violin-Concert. Herr Concertmeister
0194R. Heckmann aus Leipzig spielte es trotz eines notorischen
0195Unwohlseins (er hatte sich auf der Reise erkältet) mit bestem
0196Erfolge. In einigen Applicaturstellen des ersten Satzes into-
0197nirte er nicht ganz rein; im Vortrage des Adagio kam hin-
0198gegen die feinsinnige, echte Künstlernatur Heckmann’s auf das
0199gewinnendste zum Durchbruch. Für den großen Saal und die
0200starke Begleitung erwies sich Heckmann’s Ton etwas klein, im
0201Trio und Quartett dürfte dieser Künstler jedenfalls noch
0202bedeutender wirken. Das Philharmonische Concert brachte 
0203ferner Beethoven’s A-dur-Symphonie und eine No-
0204vität, deren musikalische Geringfügigkeit zweifellos ist,
0205die aber trotzdem nicht nur rasend beklatscht, sondern zur
0206Wiederholung förmlich erzwungen wurde. Das war mit Sicher-
0207heit vorherzusagen, denn der Componist der Novität heißt
0208Richard Wagner. Der Anhang Wagner’s ist in Wien nicht
0209nur quantitativ sehr stark, er scheint auch qualitativ besonders
0210kräftig ausgestattet; denn so ein Wagner-Applaus klingt noch
0211einmal so stark als jeder andere, er kommt gleichsam schon
0212Wagnerisch instrumentirt zur Welt. Der von den Philhar-
0213monikern aufgeführte „Huldigungsmarsch“ ist ein klei-
0214nes Douceur Richard Wagner’s für den jungen König von
0215Baiern und nicht zu verwechseln mit dem späteren „Kaiser-
0216marsch“, welcher Kaiser Wilhelm’s Siege in so barocken
0217Rhythmen feiert. Wie dieser, so entbehrt auch jener Marsch
0218der energischen, festen Haltung und des melodiösen Kernes,
0219welcher den Segen einer edlen Volksthümlichkeit in sich trägt,
0220ohne daß der Componist danach zu haschen brauchte. Wagner 
0221erscheint in beiden Märschen sichtlich schwankend und grübelnd,
0222wie das Ding möglichst effectvoll zu machen wäre, ohne zu
0223sehr zum Volke sich herabzulassen. So tritt dieser Huldigungs-
0224marsch ein, wie ein gesalbter Oberpriester, der sich nach fünf
0225Minuten als Regimentstambour demaskirt. Ein unbedeuten-
0226der, ja durch seine chromatisch winselnde Sentimentalität ge-
0227radezu unpassender musikalischer Gedankengehalt wird hier mit
0228dem lärmendsten Pomp instrumentirt. Die Wiederholung die-
0229ses Huldigungslärmes hatte die üble Folge, daß ein Theil
0230des Auditoriums Kopfschmerzen bekam und der andere wenig-
0231stens die reine Empfänglichkeit für die nachfolgende Beetho-
0232ven’sche Symphonie einbüßte.


0233Die Reihe der Virtuosen-Concerte eröffnete in dieser
0234Saison der Pianist Herr Joseph Wieniawski. Vor acht-
0235zehn Jahren hatten die beiden Brüder Wieniawski als Jüng-
0236linge in Wien concertirt; der ältere, Heinrich, hat sich seitdem
0237als Violin-Virtuose einen berühmten Namen gemacht, während
0238der jüngere, Joseph, ein wenig im Hintergrunde blieb, für
0239Deutschland wenigstens. Joseph Wieniawski, Pianist von ge-
0240diegener Musikbildung und nicht gewöhnlicher Technik, erntete
0241in seinem Concert am 15. d. M. reichlichen Beifall. Ob
0242sein Spiel Jemandem so recht warm gemacht habe, können
0243wir freilich nicht sagen. Man ist in Wien seit 40 Jahren [3]
0244so übersättigt von Clavierconcerten, hat so oft das Allerbeste
0245gehört und hört noch täglich so viel des Guten, daß nur mehr
0246eine erstaunliche Bravour oder eine ganz ausgesprochene künst-
0247lerische Eigenthümlichkeit uns enthusiastischere Theilnahme ab-
0248gewinnen kann. Solche ungewöhnliche Bravour oder origi-
0249nelle künstlerische Persönlichkeit haben wir an Herrn Wieniawski 
0250nicht wahrgenommen. Am besten dürfte er, wie es sich für
0251den Polen ziemt, Chopin’sche Sachen spielen; die Etude Nr. 11
0252und die Polonaise Opus 22 trug er mit Kraft und Sicher-
0253heit, auch mit manchem feineren Zuge vor; hingegen ver-
0254scheuchte er stellenweise durch zu starkes Accentuiren der Me-
0255lodie die eigenthümlich träumerische Poesie des Fis-dur-Not-
0256turnos. Wieniawski’s Vortrag der „Sonata appassionata“ von
0257Beethoven schien uns kühl und äußerlich, das Tempo des
0258letzten Satzes obendrein überhetzt. Weniger glücklich denn
0259als Pianist debutirte der Concertgeber als Componist
0260einer dreisätzigen Sonate für Cello und Clavier, die er
0261mit Herrn Popper spielte. Im Style etwa zwischen
0262Chopin und Rubinstein sich bewegend, verräth dieses weit-
0263läufige Werk weder schöpferische Originalität, noch jenen mu-
0264sikalischen Sinn für Formschönheit und Wohlklang, welcher
0265uns oft an Werken von geringer Genialität einigermaßen
0266entschädigt. Die musikalische Gestaltung ist verschwommen,
0267nicht plastisch an die Oberfläche tretend, mancherlei ist geist-
0268reich intentionirt, aber es kommt nicht heraus. Auch heben
0269die drei Sätze sich zu wenig von einander ab; sie tragen alle
0270den gleichen Charakter lamentirender Nervosität. Sonderbar
0271erscheint die Verwendung des Violoncells, welches meisten-
0272theils haltlos in der Luft schwebt, zwischen einem ungenü-
0273genden (oder auch vom Componisten zu schwach gespielten)
0274Clavierbaß und darüber flatternden Umspielungen. Beide
0275Spieler haben an dieser Sonate eine schwierige Aufgabe,
0276allein die Hörer nur ein mäßiges Vergnügen. Herrn
0277Wieniawski unterstützte außer Herrn Popper noch Fräulein
0278v. Angermeyer, welche mehrere Gesangstücke vortrug. Das
0279Fräulein besitzt eine jugendlich frische, volltönende Stimme,
0280scheint jedoch (wie die meisten Schülerinnen der Frau
0281Marchesi) einseitig auf „großen Ton“ geschult zu sein und
0282vereitelt insbesondere durch das unschöne Herauspressen der
0283tiefen Töne den günstigen Eindruck, den zu machen sie sonst
0284berufen wäre.