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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2621. Wien, Sonntag, den 10. December 1871

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Hofoperntheater.


0002Ed. H. Marschner’sHanns Heiling“ wurde gestern
0003nach mehrjähriger Unterbrechung wieder aufgeführt, zum ersten-
0004male im neuen Opernhause. Die Direction hat damit einen
0005vielfach — auch von uns oft — ausgesprochenen Wunsch
0006erfüllt. Wenigstens Eine Oper von Marschner und Eine
0007von Spohr sollte unser Repertoire jederzeit aufweisen.
0008Marschner war vielleicht auf keiner deutschen Opernbühne
0009so wenig gekannt und gewürdigt, wie auf der Wiener. Bühnen-
0010leiter und Zuhörer standen ihm hier mit auffallender Kälte
0011gegenüber. Während in den Dreißiger-Jahren bis in die Mitte
0012der Vierziger- die drei Hauptwerke Marschner’s („Der Vam-
0013pyr“, „Templer und Jüdin“, „Hanns Heiling“) in ganz
0014Deutschland zu den beliebtesten Opern gehörten und zum
0015Theile noch gehören, hat man in Wien den „Hanns Heiling“
0016erst im Jahre 1846, „Templer und Jüdin“ gar erst im
0017Jahre 1849 zur Aufführung gebracht. Beide Opern spra-
0018chen nicht besonders an und erlebten nur wenige Wieder-
0019holungen. Weit mehr Anklang fand „Hanns Heiling“, als
0020er genau vor 10 Jahren (im Todesjahre Marschner’s), neu
0021einstudirt, mit Beck in der Titelrolle, wieder auf die Bühne
0022kam. Hoffen wir, daß diese liebenswürdige Oper nach ihrer
0023gestrigen sehr günstigen Aufnahme nicht so schnell wieder ver-
0024schwinden werde, wie „Templer und Jüdin“ verschwand.
0025Marschner’s Opern finden in dem Berichterstatter vielleicht
0026ein allzu warmen Anwalt, da er den ersten Eindruck der-
0027selben zu seinen schönsten Jugenderinnerungen zählt. Wer in
0028der Zeit glücklichster Jugendträume diese Zaubertöne deutscher
0029Romantik in sich aufgenommen, mit diesen Melodien sich zu
0030Bette gelegt und den Tag durchschwärmt hat, der vermag
0031später die Silberfäden solcher Erinnerung nur schwer mit dem
0032scharfen Stahl der Kritik zu durchschneiden. Die Reize der einst
0033so mächtigen Fee dünken ihm unverwelklich, und selbst für ihre 
0034Schwächen bewahrt er eine Art schonender Zärtlichkeit. Taucht
0035diese Jugendliebe in späteren Jahren leibhaftig irgendwo auf
0036und übt auf Andere nicht den gleichen Zauber, so scheuen wir
0037uns beinahe, zu untersuchen, an wem die Schuld liege. In-
0038dessen glauben wir auch hinter dem leichten Schleier indivi-
0039dueller Vorliebe den Werth des „Heiling“ deutlich genug zu
0040erkennen, um ihn noch immer für eine Zierde des deutschen
0041Repertoires zu halten. Wie viele Opern besitzen wir denn, an
0042denen wir uns ganz ungetrübt zu freuen vermögen? „Heiling“
0043enthält eine Fülle reizender Musik, Schwung und Prägnanz
0044des dramatischen Ausdruckes und über Allem die Weihe echten,
0045treuen Künstlersinnes. Wagner’s Ansicht, daß man die Me-
0046lodie tödten und die Form auflösen müsse, um dramatische
0047Musik zu schaffen, findet in Marschner wie in Weber die
0048sprechendste Entgegnung. Im „Hanns Heiling“ nur Lichtseiten
0049zu finden oder ihm gar classische Mustergiltigkeit zuzusprechen,
0050dürfte wol Niemandem beifallen. Außerhalb Deutschlands
0051würden Marschner’s Opern gar kein Verständniß finden; das
0052deutsche Volk aber hat in ihnen, wie in der Musik Weber’s
0053und Spohr’s, dem Pulsiren des eigenen Herzschlages gelauscht.
0054Die Vorzüge und die Mängel der Marschner’schen Musik —
0055sie sind beide von altem deutschen Adel, einander blutsver-
0056wandt, ja sogar in derselben Schule ausgebildet — der „ro-
0057mantischen“ nämlich. Die Bewegung der deutschen Romantik
0058— sie hat auf musikalischem Felde ihre duftigsten Blüthen
0059getrieben — war auch für die Richtung der Marschner’schen
0060Opern entscheidend. Insoferne wir jetzt jener Zeitströmung
0061überhaupt entrückt sind, finden wir auch in deren theatrali-
0062schen Erzeugnissen manches uns fremd Gewordene. Dazu ge-
0063hört das Hereinragen einer unheimlichen Geisterwelt, das Ko-
0064bold-, Elfen-, Nixen-, Vamphrwesen, wie es die damalige
0065deutsche Opern-Literatur beherrscht. Wie sehr dies in jenen
0066romantischen Anschauungen gegründet war, in der ganzen Zeit-
0067strömung lag, zeigt unter Anderem die Verwandtschaft des
0068Hanns Heiling“ mit dem „Berggeiste“ von Spohr. Beide
0069Geister entsteigen dem Schachte der Berge, beide entbrennen
0070in irdischer Liebesgluth und finden etwas mehr oder weniger 
0071Erhörung. In beiden Opern ängstigen die Unterirdischen
0072ihre Bräute, vor ihnen aus geheimnißvoller Tiefe erscheinend.
0073In ihrer Liebe getäuscht, wollen endlich beide Geister sich
0074rächen, folgen aber dennoch dem edleren Zuge ihrer Doppel-
0075natur — und verzeihen.


0076Unzweifelhaft hat diese romantische Geister-Oper, deren
0077Endpunkt gleichsam „Hanns Heiling“ bildet und deren letzte
0078Nachklänge in Wagner’s „Holländer“ und Mendelssohn’s
0079Loreley“ erzittern, ihren Abschluß gefunden, so gut wie
0080früher die heroisch-mythologische Oper Gluck’s. Es hieße den
0081Geist der Zeit mißkennen, wollte man heutzutage in diesen
0082Stoffen und Anschauungen weiterarbeiten. Allein deßhalb ist
0083das Schöne, was die musikalische Romantik geschaffen, uns
0084nicht verloren, darf es nicht sein. Wir würden sonst mitunter
0085kostbare Perlen unseres nicht allzu reichen Opernschatzes hin-
0086geben müssen. Auch „Heiling“ gehört zu diesen. Der echte,
0087wenngleich einseitige Zauber der deutschen Romantik webt in
0088dieser Musik. Ist ihr plastisches Abrunden und Abschließen,
0089die befriedigte Klarheit der „classischen“ Schule versagt, so
0090bezaubert sie uns dafür durch die innigsten Töne der Weh-
0091muth, der Sehnsucht und Liebe, durch ein ununterbrochenes
0092Knospen und Drängen des Gemüthslebens. Sie löst das
0093Siegel von den Schätzen des Abenteuerlichen und lehrt die
0094stummen Zauber der Natur sprechen. Obwol die Musik zum
0095Heiling“ schon durch den Stoff überwiegend in das gebro-
0096chene Licht der Dämmerung gedrängt wird, verläßt sie doch
0097nirgends Anmuth und kernhafte Gediegenheit. Wie treffend
0098sind die Gegensätze heiterer Menschlichkeit und düsteren Geister-
0099webens sowol in den großen Ensembles als den einzelnen
0100Hauptfiguren gezeichnet! Man vergleiche die unheimliche, ra-
0101sende Leidenschaft in Heiling’s erster Arie („An jenem Tag“)
0102mit Konrad’s zärtlich-inniger Liebeswerbung, den geisterhaft
0103düsteren, grauen Ton, der über dem Vorspiel gebreitet liegt
0104mit der taghellen, frischen Heiterkeit der Volksscene! Welch
0105tief aufgeregte schmerzliche Innigkeit in der ersten Scene zwi-
0106schen Heiling und seiner Mutter! Welche Anmuth in dem
0107A-dur-Terzett des ersten Actes, in dem Walzerfinale, endlich [2]
0108in dem köstlichen Brautjungfernlied beim Verbinden der Augen!
0109Die Chöre der Gnomen voll düsterer Kraft, die launigen
0110Strophenlieder Konrad’s und Stephan’s gehören zu dem
0111Besten, was die deutsche Oper in dieser Art besitzt.


0112Wenn trotz dieser Schönheiten „Hanns Heiling“ im
0113Verlaufe des Abends häufig ermüdend wirkt, so läßt sich dies
0114aus den bekannten musikalischen Eigenthümlichkeiten des Com-
0115ponisten leicht erklären. Da ist zuerst seine fieberhaft unru-
0116hige Modulation, die uns fortwährend von einer Tonart in
0117die andere jagt; sodann die übermäßige Verwendung des ver-
0118minderten Septimen- und kleinen Nonen-Accords, dieser un-
0119ruhestiftenden Hausgeister der deutschen Romantik; endlich
0120die allzu volle, undurchsichtige Instrumentirung. So wirksam
0121einzelne Orchester-Effecte im „Heiling“ sind, die feine, geistige
0122Blüthe der Weber’schen Orchestrirung hat Marschner nie er-
0123reicht. Er läßt sein Orchester in fortwährender Unruhe auf-
0124und niederwogen, die Violinen immer figuriren, und erzielt
0125damit das, was er gerade vermeiden wollte: Monotonie.
0126Doch das Interesse an unserem lieben Jugendfreund „Hanns
0127Heiling“ läßt uns beinahe vergessen, daß wir keine Novität
0128vor uns haben, die etwa noch der Analyse bedarf. Marsch-
0129ner’s „Heiling“ ist in seinen Vorzügen und Schwächen längst
0130erkannt; durch jene ein theures Kleinod der Nation, durch
0131diese in seinem Kern kaum ernstlich zu gefährden. Was jedoch
0132heutzutage die Wirkung dieser Oper empfindlich beeinträchtigt,
0133ist der Wechsel zwischen gesungenem und gesprochenem Wort,
0134wodurch wir unablässig aus rein phantastischer Region in
0135das Alltagsleben zurückgeworfen werden. Es würde sich loh-
0136nen, den gesprochenen Dialog in Recitative umzusetzen, wie
0137dies Marschner selbst für den „Templer“ nachträglich ge-
0138than hat.


0139Die Oper war gestern in den Hauptrollen vorzüglich be-
0140setzt und ging unter Director Herbeck’s persönlicher Leitung
0141ganz ausgezeichnet zusammen. Die treffliche Durchführung der
0142Titelrolle durch Herrn Beck verdient um so größere Anerken-
0143nung, als ihm dieser äußerst schwierige Part etwas hoch liegt. 
0144Herr Beck wußte das Dämonische, das bei „Heiling“, selbst in
0145dessen sanfteren Augenblicken, wie unter leichter Decke lauert,
0146charakteristisch wiederzugeben. Wo es dann helllodernd aus-
0147bricht, in der Rache-Arie im dritten Act, erreichte Herrn
0148Beck’s Leistung ihren Gipfelpunkt. Beck war den ganzen
0149Abend hindurch Gegenstand lebhafter Ovationen. Außer ihm
0150war nur Herr Walter von der früheren Besetzung (1861)
0151geblieben, und im besten Sinne der Alte geblieben: er sang
0152die Partie des Konrad voll Wärme und Innigkeit. Fräulein
0153Hauck hat als Anna in einem ihr bisher ganz fremden Styl
0154neuerdings ihre große Vielseitigkeit und verläßliche musikalische
0155Bildung bewährt. Im ersten Act, so lange noch der Himmel
0156voller Geigen hängt, war sie ganz vortrefflich; für die drama-
0157tischen Höhepunkte im zweiten Act besitzt ihre Stimme wie
0158ihre Declamation nicht die nöthige Kraft. Sie theilte mit
0159Herrn Walter den reichlichen Beifall, welchen das Walzer-
0160Duett im dritten Act hervorrief, eine sehr banale, den Styl
0161der ganzen Oper verleugnende Einlage, welche Marschner —
0162den Wienern zu Ehren, aber nicht zur Ehre — hier eigens
0163nachcomponirt hat. Die Geisterkönigin und Gertrud sind
0164musikalisch wie dramatisch ebenso wichtige als undankbare
0165Partien; der redliche Eifer, den Frau Materna und Fräu-
0166lein Gindele darauf verwenden, verdient die dankbarste
0167Anerkennung. Sehr wirksam singt Herr Lay (Niklas) das
0168komische Hochzeitslied im dritten Act. Ganz besonders ist
0169noch die Präcision der Chöre und das lebensvolle Arrangement
0170der Volksscenen zu loben, desgleichen die Schlußdecoration von
0171C. Brioschi. Mit der vortrefflichen Aufführung des „Heiling“
0172hat die Direction eine alte Schuld an Heinrich Marschner 
0173getilgt. Meister Spohr könnte einen ähnlichen Schuldschein
0174präsentiren, wenn es derlei Documente gäbe für musikalische
0175Ehrenschulden. Herrn Director Herbeck gegenüber wird es
0176deren auch nicht bedürfen, und wie er uns mit dem „Hanns
0177Heiling“ überrascht hat, so überrascht er uns sicherlich nächstens
0178mit einer gleich vortrefflichen Aufführung der „Jessonda“.