Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3063. Wien, Dienstag, den 4. März 1873
[1]Hofoperntheater.
(Gluck’s „Iphigenia auf Tauris“.)
0003Ed. H. Die erste, bisher auch einzige Oper, mit wel-
0004cher Gluck im neuen Opernhause gefeiert worden, ist „Armida“.
0005Eine kluge Wahl, ohne Frage; denn gerade in diesem Werke
0006könnte man den unserem Publicum fast fremd gewordenen
0007Meister unter den glänzendsten Verhältnissen einführen. Von
0008allen Dramen Gluck’s hat keines eine so wechselvolle, farben-
0009reiche Handlung, so romantische Charaktere und Situationen,
0010keines endlich gestattet eine so prunkvolle, die Phantasie
0011zauberisch anregende Ausstattung, wie „Armida“. Man ist
0012Gluck mit allen Wundern des neuen Opernhauses zu Hilfe
0013gekommen, und der Erfolg hat diese Anstrengungen gelohnt.
0014Ohne alles dasjenige, was es in der „Armida“ zu schauen
0015gibt, hätte diese, blos auf ihre musikalische Wirkung gestellt,
0016nur durch unvergleichliche Einzelheiten, aber schwerlich als
0017Ganzes hier einen unbestrittenen Sieg erfochten. In ergän-
0018zendem Gegensatze dazu hat nun Director Herbeck eine andere
0019Gluck’sche Oper zur Aufführung gebracht, welche ihre ganze
0020Wirkung der Composition verdankt, indem sie auf der ein-
0021fachsten, nicht einmal durch ein Liebesverhältniß belebten
0022Handlung beruht und die Reizmittel scenischer Pracht gar
0023nicht zuläßt. Das ist „Iphigenia auf Tauris“, der Zeit
0024nach das letzte größere Werk des Meisters, dem Range nach
0025das erste. Wir konnten bei Besprechung der „Armida“-Vor-
0026stellung uns nicht verhehlen, daß Gluck’s Individualität und
0027sein ganzes Stylprincip einem eminent romantischen Stoffe
0028wie „Armida“ nicht günstig gewesen. Hingegen erscheint
0029Gluck durchwegs bewunderungswerth, ja unübertrefflich auf
0030dem Gebiete griechischer Tragödienstoffe in „Orpheus“,
0031„Alceste“ und den beiden „Iphigenien“. Hier entspricht
0032die edle, herbe Einfachheit seiner Musik vollständig dem
0033Geiste der Antike. Während wir auf dem Gebiet des Wun-
0034derbaren und Romantischen, der leidenschaftlichen und zärt-
0035lichen Liebe durch die späteren Meister, Mozart, Beethoven,
0036Weber, zu sehr verwöhnt sind, um hierin Gluck’s Farben
0037hinreichend warm und kräftig zu finden, hat die spätere
0038Oper nichts, gar nichts hervorgebracht, was mit Gluck’s
0039Betonung griechischer Tragödienstoffe verglichen werden könnte.
0040Die scharfen, plastischen Contouren seiner Melodie, die nach-
0041drückliche Declamation, die vornehme Sparsamkeit der Be-
0042gleitung machen diese Opern zu einem musikalischen Spiegel-
0043bilde der Tragödien von Sophokles und Euripides. Jahr-
0044tausende sind über den Glanz dieser Sterne der Dichtkunst
0045hinweggegangen, bevor die Tonkunst die Stufe erreicht hatte,
0046auf welcher ein Gluck der erste und letzte Repräsentant der
0047antiken Classik auf dem Gebiete der dramatischen Musik
0048werden konnte. Selbst die eigenthümlichen Schwächen und
0049Mängel Gluck’scher Musik stimmen ganz einzig zur Be-
0050tonung gerade dieser antiken Stoffe, und nirgends verfließen
0051sie so harmonisch mit seinen großartigen Vorzügen wie in
0052der „Iphigenia auf Tauris“. Selbst „Iphigenia in Aulis“,
0053welche sich zu jener verhält wie der gestaltenreiche, lebhaft
0054exponirende erste Theil eines Dramas zu einem harmonisch
0055lösenden und ausklingenden zweiten — sie muß trotz mancher
0056theatralischen Vortheile als Kunstwerk zurückstehen. Sie hat
0057nicht so rührende, aus der Tiefe geholte Herzenstöne und
0058verräth namentlich in den akademisch-frostigen Liebesscenen
0059Iphigenia’s und Achilles’ eine schwache Seite des Tondichters,
0060welche in der taurischen Iphigenia nicht berührt wird. In
0061letzterer Oper kommt schon der Dichter des Textbuches
0062(Guillard) dem Geiste der Antike näher; es ist ihm eine
0063klare, wirksame Anlage der Handlung, musikalische An-
0064schauung der Situationen und ganz besonders die vortreff-
0065liche Exposition des Stückes nachzurühmen. In der Musik
0066glauben wir eine reichere Erfindung, einen freier hinströmen-
0067den Zug der Melodie und einen überzeugenderen Ausdruck
0068der Empfindung wahrzunehmen, als in der Partitur der
0069aulischen Iphigenia. Denken wir uns in die Zeit
0070zurück, da solche Musik obendrein mit dem berücken-
0071den Reiz der Neuheit wirkte, so begreifen wir leicht
0072den ungeheuren Erfolg der „Iphigenie en Tauride“ am
007318. März 1779 in Paris. Es war nicht der erste, aber
0074doch wol der erste ganz unbestrittene Triumph des deutschen
0075Meisters in Frankreich, wo die Verehrer Piccini’s (dieser
0076selbst war der allerunschuldigste dabei) die Befehdung Gluck’s
0077als Parteisache betrieben. „Iphigenia“ schlug Alles nieder,
0078wie nicht blos die Journale und Memoiren jener Zeit, son-
0079dern auch die Ziffern der Pariser Kasserapporte in ihrer
0080stummen Beredsamkeit beweisen. In Wien kam die Oper
0081zum erstenmale im October 1781 mit außerordentlichem Er-
0082folge zur Aufführung. Seit jenem Tage sind in der Musik
0083neue Welten entstanden. Schon war Mozart’s Genius in
0084kühnem Auffluge begriffen, schon prüfte der Knabe Beetho-
0085ven daheim in Bonn die schwachen Fittige, deren götter-
0086gleiches Rauschen bald wie Urweltssturm die Herzen der
0087Menschheit schütteln sollte. Welche Wandlungen! Sie sollen
0088uns nicht verleiten, Gluck’s Opern etwa nur mehr nach ihrer
0089epochemachenden historischen Bedeutung abzuschätzen. Nie-
0090mand kann von dem Hauche dieser ernsten, keuschen Musik
0091unberührt, von der dramatischen Gewalt einzelner Scenen
0092unerschüttert bleiben. Dennoch muß ich ein früher gemach-
0093tes Bekenntniß auch diesmal wiederholen: daß ich den Gluck’-
0094schen Opern eine wahrhaft lebendige Wirksamkeit auf die
0095Gesammtheit des Publicums nicht mehr zutraue. Der ge-
0096sammte Bau dieser Opern, an die große stylmäßige Tra-
0097gödie der Franzosen sich anlehnend, und die daraus hervor-
0098gehende declamatorische Behandlungsweise des Einzelnen sind
0099von dem jetzt Giltigen durch eine breite Kluft geschieden.
0100Gewiß ist Gluck’s Musik so dramatisch, als Musik mit ein-
0101fachsten Mitteln und in knappsten Formen überhaupt
0102sein kann. Charakteristiker in erster Linie, verschmähte es
0103Gluck, durch Fülle des Stoffes und sinnliche Schönheit zu
0104bestechen. Was nicht zur Bezeichnung des darzustellen-
0105den Affectes nothwendig ist, berührt er gar nicht.
0106Diese Auffassung spricht nicht blos aus dem Charakter sei-
0107ner Melodie, sondern auch der Orchester-Begleitung. Gluck
0108beschränkt sich in Arien und Recitativen meistens auf das
0109Streichquartett; wo er die Bläser verwendet, fordert sie der
0110dramatische Ausdruck, sein höchstes Endziel. Die imposante
0111Verwendung der Posaunen in den Scenen der Furien, die
0112sehnsuchtsvolle Verschlingung der Oboë mit Iphigeniens
0113Klagegesang sind solche lang aufgesparte Klänge von bezau-
0114bernder Wirkung. Diese weise Mäßigung, die mit dem mög[2]
0115lich wenigsten Material die möglich größte Wirkung zu er-
0116zielen trachtet, gibt Gluck’s Werken jene einfache Erhaben-
0117heit, jenen Adel, die man vorzugsweise bei diesem Compo-
0118nisten Classicität zu nennen gewohnt ist. Sie stellt die Gluck’-
0119schen Opern auf einen exceptionellen Platz, wie ihn ähnlich
0120in der Geschichte der Musik nur Händel’s Oratorien be-
0121haupten. Aber in seinem principiellen Kampfe gegen die blos
0122sinnliche Schönheit der Musik ist Gluck — hierin von der
0123Sprödigkeit seines musikalischen Talentes unterstützt — dem
0124entgegengesetzten Extrem häufig zu nahe gekommen. Manche
0125verheißungsvolle Fortschritte im musikalischen Theile der
0126Opern-Composition, welche von Zeitgenossen, namentlich von
0127dem vielverleumdeten Piccini, bereits angebahnt waren, ließ
0128Gluck so gut wie unbenützt. Die Erweiterung der Schluß-
0129chöre zu ganzen, mehrsätzigen Finales, die Unterbrechung der
0130monotonen Arienherrschaft durch häufigere Duette und Ter-
0131zette und dergleichen erfuhr von Gluck keine Förderung. In
0132der ganzen „Iphigenia“ ist nur ein einziger vierstimmiger
0133Chor (außer dem im letzten Finale); Duette und Terzette
0134fehlen; Chöre und Soli wirken fast nie zusammen, von
0135großartigen Actschlüssen, welche auf solchem Zusammenwirken
0136hauptsächlich beruhen, gar nicht zu reden. Die ununterbro-
0137chene Reihe von Einzelgesängen, mögen sie immerhin die
0138auserlesensten sein, wirkt wie ein schön componirtes
0139Bild, auf welchem nichts fehlt, als der Schatten.
0140Ist es doch eine wahre Erquickung für das Ohr,
0141wenn dann und wann Orest und Pylades zugleich singen,
0142obgleich es meist nur in Terzen geschieht. Der musikalische
0143Rhythmus der Arien ist in der Regel ebenso einförmig, wie
0144der declamatorische correct; die häufigen langen Recitative,
0145die vorherrschend langsamen Tempi und geraden Tactarten
0146geben den Gluck’schen Opern einen stockenden, schleppenden
0147Charakter, der von der leidenschaftlichen Bewegtheit des
0148späteren Opernstyls fremdartig absticht. Die Begleitung der
0149einfachen Recitative besteht bei Gluck in allen seinen Parti-
0150turen, am meisten in der taurischen Iphigenia, aus vier-
0151stimmigen Accorden, die ununterbrochen während der Reci-
0152tation des ganzen Verses von den Streichinstrumenten aus-
0153gehalten werden. Selbst Berlioz, der glühendste Ver
0154ehrer Gluck’s in der gesammten neueren Musikkritik, beklagt
0155dieses „langweilige, hartnäckige Gebrumme, welches in den
0156Hörern eine unbesiegbare Ermattung und Schläfrigkeit her-
0157vorbringt“. Die Monotonie von Gluck’s Orchester wird
0158ferner erhöht durch die Einfachheit der Bässe, welche (aber-
0159mals nach Berlioz’ Ausdruck) „fast nie interessant sind
0160und sich darauf beschränken, die Harmonie zu stützen, indem
0161sie einförmig die Tacttheile angeben oder Note für Note
0162dem Rhythmus der Melodie folgen“. Die Vorbereitungen
0163unserer jüngsten „Iphigenia“-Vorstellung haben die Erfahrung
0164bestätigt, daß ein modernes Orchester, und gerade ein so
0165ausgezeichnetes wie das Wiener, bei den Proben von Gluck’-
0166schen Opern auffallend schnell ermüdet, geistig ermüdet und
0167dabei schwerer aufmerksam und theilnehmend zu erhalten ist,
0168als bei irgend einer der anstrengenderen, aber interessanter
0169instrumentirten Opern der Neuzeit. Alle diese Momente
0170wirken zu dem unerwünschten, aber nicht unbegreiflichen Re-
0171sultate zusammen: daß Gluck’s Opern eine das innerste
0172Leben treffende, zündende und nachhaltige Wirkung in
0173unserer Zeit nicht mehr haben können. Allerdings wird es
0174an einer kleineren, auserwählten Gemeinde von Gluck-Ver-
0175ehrern im Wiener Opernhause gewiß zu keiner Zeit fehlen,
0176und in größeren Zeiträumen mit sorgfältigster Vorbereitung
0177gegeben, dürften Gluck’s Opern wie eine Art Musikfest auch
0178zu allgemeinerer Theilnahme einladen.
0179Die Aufführung des Gluck’schen Meisterwerkes war
0180sehr sorgfältig vorbereitet und von echter Pietät getragen.
0181Freilich gilt von der Mehrzahl der Darsteller dasselbe, was
0182vom größeren Theile des Publicums: die Aeußerungsweise
0183Gluck’s liegt ihnen zu fern. Dieser Tondichter verlangt
0184einen bestimmten Styl, den dramatisch-declamatorischen, der,
0185breit, groß gehalten, sich nirgends an den Moment hingibt,
0186sondern das ganze Gebilde auf einer weit überschauenden
0187Höhe hält. Hat man doch oft, und nicht mit Unrecht, ge-
0188sagt, die Oper Gluck’s verhielte sich zu der späteren, auch
0189die Mozart’sche einbegriffen, wie die Plastik zur Malerei.
0190Herr Walter als Pylades kam dem Ideale des Gluck-
0191Vortrages am nächsten. Dieser Künstler, bekanntlich ein vor-
0192trefflicher Interpret classischer Musik, lieferte mit der schö
0193nen Arie im zweiten Acte ein Muster gediegenen, seelen-
0194vollen Vortrages. Herr Labatt fand sich überraschend gut
0195in die Rolle des Orest. War auch Einzelnes noch zu äußer-
0196lich und heftig (z. B. der Ausruf „Agamemnon!“ im ersten
0197Acte u. A.), so trug doch die ganze Gestalt das Ge-
0198präge männlicher Kraft, anstatt jener kläglichen Dulder-
0199Physiognomie, die uns von früheren Darstellern des Orest
0200in fataler Erinnerung ist. Frau Dustmann gab die
0201Iphigenia mit jener edlen Auffassung und warmen Hin-
0202gebung, die man an ihr kennt. Wie in jeder Leistung dieser
0203großen dramatischen Künstlerin, fanden sich auch hier die
0204Spuren ihres reich schaffenden Genius. Trotzdem kann ich
0205heute so wenig wie vor zehn Jahren die Iphigenia zu den
0206besten Rollen der Dustmann zählen. Von jeher war ihre
0207Stimme ihr ungleich gehorsamer im Ausdruck heftiger
0208Leidenschaften, als in dem ruhiger Größe. Den Vortrag
0209der Arien beeinträchtigte häufig das Tremoliren des Tones
0210und das sentimentale Hinüberziehen von frei anzuschlagen-
0211den Intervallen; den Recitativen fehlte die volle Deutlichkeit
0212der Aussprache. Gelang es somit Frau Dustmann nicht durch-
0213wegs, die breiten Perioden dieser Musik sicher und groß-
0214artig aneinanderzufügen, so brachte sie doch eine Reihe von
0215Schönheiten, welche durch den Gedanken, nicht sowol
0216der gottgeweihten Seherin, als der feinfühlenden, unter
0217Barbaren fern von allen Theuren gehaltenen Griechin, zu
0218einem Ganzen wohl verbunden wurden. An rührender Be-
0219redtsamkeit des Spieles und schöner Plastik der Bewegungen
0220wird gegenwärtig kaum eine andere deutsche Sängerin Frau
0221Dustmann in der Rolle der Iphigenia übertreffen. Es ver-
0222steht sich, daß ihre Leistung durch reichlichen Beifall und
0223Hervorruf ausgezeichnet wurde, desgleichen jene Herrn
0224Walter’s und Herrn Labatt’s. Die Rolle des Thoas
0225kann nach der Anlage des Buches keine erhebliche Wirkung
0226machen; Herr Krauß sang sie mit löblichem Eifer. —
0227Der musikalische Theil der Vorstellung war von Herrn
0228Capellmeister Dessoff vortrefflich studirt und dirigirt, die
0229scenische Anordnung bot durchwegs ein würdiges Bild und
0230schließlich in der neuen Decoration von Herrn Burkhardt eine
0231erfreuliche Aussicht auf das Meer. Nur Eine scenische [3]
0232Schwierigkeit, welcher man hier und anderwärts mit ver-
0233schiedenen Experimenten beizukommen versucht hat, scheint
0234mir nicht glücklich gelöst: die Erscheinung der Furien im
0235zweiten Act. Ehemals befand sich der Altar, an welchem
0236Orestes einschlummert, in der Mitte der Scene; die Furien
0237mit geschwungenen Fackeln und Schlangen umschwirrten ihn
0238von allen Seiten, der Chor bewegte sich bis in die Mitte
0239der Bühne und wurde so in aller Kraft hörbar. In der
0240jetzigen, neuesten Einrichtung ruht Orestes seitwärts, und
0241der ganze Furienchor erscheint als eine wirre, unbewegliche
0242Masse transparentartig beleuchtet hinter der versinkenden
0243Rückwand des Tempels. Die Wirkung dieser großartigen
0244Scene wird dadurch sehr abgeschwächt. Fürs erste büßt sie
0245an musikalischem Effect ein, da aus der weiteren Entfer-
0246nung der Chor zu schwach klingt. Sodann wird der Vor-
0247gang selbst unverständlich und unmotivirt. Orestes stöhnt
0248und klagt, während ihm doch keine der Furien in die Nähe
0249kommt; diese Gestalten wurden aber in voller furchtbarer
0250Realität gedacht und so auf dem griechischen Theater darge-
0251stellt, nicht als bloße Vision nach Art eines „lebenden Bil-
0252des“. Ueberdies war der untere Theil dieses Tableaus ver-
0253schwommen und undeutlich, der hell beleuchtete obere Theil
0254zeigte uns aber keineswegs Furien, sondern gepanzerte
0255Krieger. Ich glaube, daß es im Interesse der Gluck’schen
0256Oper läge, die alte, verständlichere Scenirung wieder in ihr
0257Recht einzusetzen.