Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3065. Wien, Donnerstag, den 6. März 1873
[1]Musik.
(Außerordentliches Concert der Gesellschaft der Musikfreunde.)
0003Ed. H. Händel’s Oratorium „Saul“ wurde am ver-
0004flossenen Freitag Abend unter Brahms’ Leitung im gro-
0005ßen Musikvereins-Saale aufgeführt, zum erstenmale in Wien
0006aufgeführt. So befremdend, fast unglaublich Letzteres klingt,
0007die Thatsache bleibt nichtsdestoweniger richtig. Wir mögen
0008noch so ungeduldig in den alten Repertorien blättern, den
0009„Saul“ finden wir weder unter den geistlichen Concerten
0010des Theaters an der Wien (1806, 1807 etc.), noch in den
0011Musikfesten der „Gesellschaft der Musikfreunde“, welche
0012(1812—1816) mit Händel’schen Oratorien ihre ersten
0013Schritte ins Leben that, noch endlich bei der „Tonkünstler-
0014Societät“, als sich diese aus ihrem ausschließlichen Haydn-
0015Cultus aufraffte und von 1820 bis 1830 Händel’sche Ora-
0016torien mit beiden Cantaten von Haydn abwechseln ließ.
0017Selbst die großen Privat-Aufführungen bei von Swieten,
0018diese erste Quelle, aus welcher für Wien Kenntniß und
0019Pflege Händel’scher Musik strömte, blieben unberührt von
0020„Saul“. Mozart hat dieses Oratorium nicht, wie andere
0021von Händel, durch verstärkte Instrumentirung den Zeitgenos-
0022sen nähergerückt, auch Mosel verschonte dasselbe mit sei-
0023ner wohlmeinenden, aber übelberathenen Bearbeiter-Passion.
0024Hätte in Wien ein halbwegs regelmäßiger Händel-Cultus
0025Bestand gewonnen, wie in England oder selbst in Nord-
0026deutschland, so würde ein Ignoriren des „Saul“ durch volle
0027hundertunddreißig Jahre eine Unmöglichkeit gewesen sein. Für
0028das periodische, immer erst nach mehrjähriger Pause stoß-
0029weise hervorbrechende Händel-Interesse in Wien genügte
0030jedoch ein begrenzter Turnus von Aufführungen, welcher
0031„Samson“, „Jephta“, „Messias“, „Timotheus“, „Belsazar“
0032und „Judas Maccabäus“ einschloß. Der große Reichthum
0033Händel’scher Production konnte in den sporadische Musik-
0034festen Alt-Wiens nicht erschöpft werden, und so war die
0035Bekanntschaft des „Saul“ erst dem musikalisch reformirten
0036neuen Wien vorbehalten. Es ist das Verdienst von
0037Johannes Brahms, daß nunmehr dieses Oratorium,
0038das wir unbedenklich zu dem Schönsten und Gewaltigsten
0039von Händel zählen, in würdigster Form hier zur Auffüh-
0040rung kam.
0041„Saul“, zum erstenmale 1738 im Haymarket-Theater
0042zu London aufgeführt, darf als das erste in der Reihe der
0043großen geschichtlichen Oratorien Händel’s bezeichnet werden.
0044Die mehr cantatenartigen — „Acis und Galathea“, „Athalia“,
0045„Alexanderfest“ — waren vorausgegangen. Das Textbuch,
0046das, abgesehen von seiner enormen Ausdehnung, geschickt
0047angelegt und nicht ohne poetische Empfindung ausgeführt
0048ist, behandelt die Geschichte der letzten Regierungsjahre
0049König Saul’s. Die rührende Gestalt des jugendlichen Hel-
0050den und Sängers David tritt hier in das Leben Saul’s,
0051welcher Jenem anfangs Dankbarkeit und Freundschaft ent-
0052gegenbringt, um ihn bald darauf in Eifersucht und Zorn
0053zu verfolgen. David entgeht dem Wurfspeer des Königs
0054und stellt sich, nachdem Saul in der Schlacht gefallen, an
0055die Spitze seines Volkes, das er zu neuem Glanze erhebt.
0056Aus diesem historischen Bilde treten als leuchtende Neben-
0057figuren die beiden Kinder Saul’s, Jonathan und Michal,
0058der treue Freund und die zärtliche Braut David’s heraus.
0059Eine andere handelnde Person, die hochmüthige ältere Toch-
0060ter des Königs, Merab, wurde für die Wiener Aufführung
0061vollständig beseitigt, zum Vortheile des Werkes, das trotz
0062vieler Kürzungen drei Stunden lang spielte und in seiner
0063ganzen Vollständigkeit wahrscheinlich bis gegen Mitternacht
0064gedauert hätte.
0065Die Ouvertüre (eine aus vier ziemlich unvermittelten
0066Sätzen bestehende „Symphonie“) ließ Brahms weislich fort
0067und begann gleich mit dem kraftvollen Chor „Wie groß
0068und hehr“. Die Exposition des Dramas — denn drama-
0069tisch ist fast die ganze Anlage des Werkes — gehört zu den
0070vortrefflichsten: eine Siegesfeier zu Ehren David’s, welcher
0071den Riesen Goliath zu Boden geschmettert. Einige zum
0072Theile veraltete und reizlose Arien Michal’s, Merab’s und
0073Jonathan’s lassen den nachfolgenden Triumphzug David’s,
0074den Lobgesang und Jubeltanz der Töchter Judas, in wel-
0075chem Händel den populären Aufputz durch ein Glockenspiel
0076nicht verschmäht, nur um so glänzender hervortreten.
0077Saul’s eifersüchtiger Mißmuth unterbricht nur vorüber-
0078gehend die Feststimmung. Sein an die bekannte Polyphem-
0079Arie erinnernder Gesang: „Im Busen hab’ ich genährt die
0080Schlange“, welchen Händel’s Publicum wahrscheinlich als
0081vollendeten musikalischen Ausdruck heroischen Zornes bewun-
0082derte, hat für uns einen entschiedenen Anflug von Buffo-
0083styl, wie denn auch Jonathan’s Arie im Drei-Achtel-Tact mit
0084dem mazurka-artigen Accent auf die schwachen Tacttheile
0085(„Rang und Hoheit sind mir Tand“) in einem komischen
0086Singspiele stehen könnte. In solchen Dingen wechselt die
0087musikalische Empfindungsweise verschiedener Zeiten. Eigen-
0088sinnige Händel-Anbeter, welche das Rad der Zeit zurück-
0089drehen wollen und uns beweisen, daß unsere Voreltern im-
0090mer Recht und wir immer Unrecht haben, ändern daran
0091nicht das Allergeringste. Die erwähnte Arie Saul’s, welche
0092angeblich damit schließt, daß der König den Wurfspieß gegen
0093David schleudert, weist übrigens auf eine Anomalie der gan-
0094zen Gattung, auf einen jener selten ganz zu vermeidenden
0095Punkte, in welchen das Oratorium als eine unausge-
0096wachsene Oper erscheint. Daß Jemand einen Speer nach
0097seinem Gegner wirft, dieser aber unverletzt entkommt, das
0098müssen wir entweder sehen (dramatisch) oder eine der Per-
0099sonen muß es uns erzählen (episch). Wenn aber, wie in
0100Händel’s „Saul“, blos das Textbuch die eingeklammerte
0101Bemerkung enthält: „Saul wirft seinen Speer, David ent-
0102flieht“, so ist das ein ganz unzureichender Behelf und für
0103die Anschauung so gut wie nicht vorhanden. Ungemein zart
0104und fast modern angehaucht ist das zweistrophige Lied Da-
0105vid’s in F-dur, das die Bettelheim so überaus schön
0106vortrug. Mit einer imposanten Fuge voll dramatischen Le-
0107bens: „Errette ihn“, schließt die erste Abtheilung.
0108Der viel kürzere zweite Theil des Oratoriums stellt
0109die einzelnen Personen mehr in den Vordergrund. Von
0110genialer Kraft und Charakteristik ist der berühmte einleitende
0111Chor: „Neid, du ältester Sohn der Hölle!“, mit seinem aus
0112der absteigenden Es-dur-Scala gebildeten, unermüdlich wieder-
0113holten Basso continuo; rührend in seiner Einfachheit die
0114Arie Jonathan’s: „O frevle nicht!“ Hingegen klingt uns
0115das Liebesduett zwischen David und Michal in seinem phleg-
0116matisch wiegenden Sechs-Achtel-Tact doch gar zu spielend; man
0117denkt dabei eher an zwei Kinder, die ein Geburtstagsgedicht
0118aufsagen, als an ein Brautpaar, das böse Tage hinter sich
0119hat und nun den glücklichsten entgegengeht. Der Schluß-
0120chor zeigt uns Händel wieder in seiner ganzen Heldengröße. [2]
0121Dieser Chor: „O blinde Raserei!“ gehört zu jenen von höch-
0122ster Kunst geschaffenen und doch allgemein verständlichen,
0123überwältigenden Musikstücken, wie sie nur Händel geschrie-
0124ben. Wie scharf und tief einschneidend wirkt insbesondere
0125der langsame Satz: „Auf Schuld häufe Schuld“ mit seinem
0126furchtbar bedeutsamen Septimen-Absturz von h nach cis!
0127Der dritte Theil ist die Krone dieses Oratoriums. Er
0128beginnt mit Saul’s Wallfahrt zur Hexe von Endor, welche
0129auf sein Verlangen den Geist Samuel’s beschwört. Die
0130Scene entwickelt sich vollkommen dramatisch und verfehlt
0131nur insofern ihre Wirkung, als die Darstellung der Hexe
0132durch einen Tenor von einem komischen Beigeschmack nicht
0133zu trennen ist. Samuel weissagt den bevorstehenden Unter-
0134gang Saul’s, welcher, allzu unscheinbar für den Helden des
0135Stückes, sofort aus der Reihe der handelnden Personen ver-
0136schwindet. Ein vom Schlachtfelde kommender Soldat mel-
0137det den Tod Saul’s und Jonathan’s. Von diesem Momente
0138wird die Handlung zur Leichenfeier für die beiden gefalle-
0139nen Helden; es ist das schönste und großartigste musikalische
0140Requiem, das wir kennen. Zuerst der berühmte Trauer-
0141marsch in C-dur, der bei keinem vornehmen Leichenbegäng-
0142niß in England fehlen darf, ein Musikstück von feierlichstem
0143Charakter bei nahezu unbegreiflicher Einfachheit. Hierauf
0144der mächtige Trauerchor: „Klage, Israel“, dessen Beglei-
0145tungsfigur Spohr in der Introduction zur „Jessonda“ (Lei-
0146chenfeier des Rajah) vorgeschwebt haben mag. Nach dem
0147Klaggesang stimmt David ein Loblied von volksthümlicher,
0148rührender Einfachheit an. Es ist ein großartig schöner Zug,
0149daß die Trauernden, nachdem sie sich in Schmerz und Kla-
0150gen ersättigt, sich glücklichen Erinnerungen an das Verlorene
0151hingeben; wie schön das war, wenn Jonathan seinen Bogen
0152spannte oder der gewaltige Saul das Schwert zum Kampfe
0153zog! Noch einmal gewinnt der Schmerz die Oberhand:
0154ein Klaggesang David’s mit Chor („O schwerer Tag!“)
0155läßt ihn in männlich würdigen Klängen ausströmen. Mit
0156einer Hinweisung auf den ruhmvollen Glanz, den David
0157vom Throne Saul’s über sein Volk verbreiten werde, ge-
0158winnt die Stimmung wieder zuversichtlichen Muth, und das
0159Oratorium schließt unter hellem Trompetenklang mit dem
0160allgemeinen herzhaften Aufruf: „Gürt’ um den Schwert!“
0161Die Aufführung des „Saul“ kam durch ein Zusam-
0162menwirken seltener Kräfte zu Stande, die sich für ihre
0163hohe Aufgabe freudig anzuspannen schienen. Man sah es
0164jedem der Musiker an, vom Dirigenten bis zum Pauken-
0165schläger, daß er mit Lust und Liebe an dem Werke mit-
0166arbeite. Der beste Dank gebührt Frau Caroline Bet-
0167telheim-Gomperz, welche den David, die hervor-
0168ragendste und sympathischeste Figur dieses Oratoriums, mit
0169prachtvoller Stimme und edlem Ausdrucke sang. Für die
0170echt künstlerische Bereitwilligkeit, mit welcher diese Frau,
0171auch nach ihrem Scheiden von der Bühne, ihr Talent un-
0172gesäumt und uneigennützig zur Verfügung stellt, wo es sich
0173um die Aufführung eines Meisterwerkes handelt, ist kein
0174Lob groß genug. Als die Philharmoniker kürzlich Beet-
0175hoven’s Neunte Symphonie gaben, kam Frau Bettelheim-
0176Gomperz eigens nach Wien, um die Altstimme in dem Solo-
0177quartett zu singen, eine schwierige, wichtige Aufgabe, welche
0178in Bezug auf Beifall nicht nur nicht dankbar, sondern eigent-
0179lich gar nicht ist. Für die Partie des David war ursprüng-
0180lich Frau Amalie Joachim bestimmt, welche aber, durch Fa-
0181milien-Verhältnisse in Berlin festgehalten, ihr Ausbleiben
0182entschuldigte. Da war es wieder unsere Bettelheim, welche,
0183weit entfernt von jeder Empfindlichkeit, sofort für Frau
0184Joachim eintrat, die Partie in acht Tagen studirte und so
0185die Aufführung des „Saul“ ermöglichte, deren schönste Zier
0186sie wurde. Freuen wir uns, daß diese Künstlerin jetzt wieder
0187bleibend in unserer Mitte weilt. Allein nicht blos David,
0188auch die übrigen Solopartien waren in den besten Händen.
0189Frau Dustmann sang mit hingebender Begeisterung die
0190mitunter anstrengend hochliegende Partie der Michal: Herr
0191Scaria wirkte als Saul durch die Gewalt seines Organs
0192nicht minder, als durch die nachdrückliche Deutlichkeit seiner
0193Recitation: Herr Walter endlich, vortrefflich bei Stimme,
0194war ein Jonathan voll Zärtlichkeit und Wärme der Empfin-
0195dung. Auch wollen wir nicht so vergeßlich sein, wie der
0196Concertzettel, welcher den tüchtigen Bassisten Herrn Maaß
0197zu nennen unterließ. Die Hauptperson in jedem Händel’schen
0198Oratorium bleibt im Grunde doch der Chor. Unser rühm-
0199lich bewährter „Singverein“, der sich unter Brahms’
0200Leitung sichtlich wohlbefindet, leistete im „Saul“ sein Bestes.
0201Und so blieb denn dieser Abend von Anfang bis zu Ende
0202ein ungetrübt schöner und erhebender, ein Musikfest im voll-
0203sten Sinne des Wortes.