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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3071. Wien, Mittwoch, den 12. März 1873

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Concerte.


0002Ed. H. Wem in neuester Zeit unsere Concert-Feuille-
0003tons zu oft kommen, der bedenke gefälligst, daß uns die
0004Concerte auch zu oft kommen. Kein Tag, der jetzt nicht
0005ein Concert ausbrütet, und keine Woche, wo sie nicht irgend
0006einmal paarweise auskriechen. So fand kürzlich zur selben
0007Stunde die Production des Orchestervereins im
0008Musikvereinssaal und ein Concert von Fräulein Gabriele
0009Joël bei Bösendorfer statt. Man kennt Fräulein Joël 
0010seit Jahren als virtuose Pianistin; aber eben deßhalb darf
0011sie uns nicht zürnen, daß wir um einer noch unbekannten
0012Pianistin willen den Weg zum Musikverein einschlugen.
0013Leicht war er nicht, dieser Weg, denn es hatte stark gereg-
0014net, und die beiden Musikvereinssäle, meerumschlungen wie
0015Schleswig-Holstein, spotteten förmlich jedes Angriffes. Wie
0016gewöhnlich, wagte sich auch auf zwei Meilen keine Mieth-
0017kutsche in die Nähe der Insel. Dieses fürsorgliche Verhal-
0018ten unserer Gesellschaft der Musik-, aber nicht Menschen-
0019freunde blieb nicht ohne Einfluß auf den Concertbesuch, und
0020der Orchesterverein, welcher sonst wie die Sonne „kein
0021Weißes duldet“, spielte diesmal vor stark gelichteten Bän-
0022ken. Den Anfang machte Catel’s Ouvertüre zu „Semi-
0023ramis“, dieses Prototyp des theatralisch-pathetischen Orche-
0024sterstyls der französischen Revolutions- und Kaiserzeit.
0025Hierauf spielte Herr Wilhelm Junck unter lebhaftem Bei-
0026fall Mendelssohn’s schönes Violinconcert. Wäre sein Spiel
0027in Bezug auf Reinheit und Rundung des Tones nur halb
0028so ausgebildet wie in der Bravour, und seine linke Hand so
0029zuverlässig und behend wie sein (besonders in Arpeggien ex-
0030cellirender) rechter Arm, so könnte man zufrieden sein. Aber
0031der hübsche junge Mann mit dem feinsinnlichen, echt musi-
0032kalischen Kopf hat eine bedenkliche Neigung zum Falschspie-
0033len; in Homburg oder Wiesbaden wäre es ihm an diesem
0034Abend schlimm ergangen. Das Interesse des Auditoriums
0035concentrirte sich hauptsächlich auf Frau Emilie Heßler,
0036welche Beethoven’s C-moll-Concert mit kraftvollem Anschlag
0037und tadelloser Sicherheit vortrug. Gattin des Dirigenten 
0038unseres Orchestervereins und Tochter des um das Prager
0039Musikleben hochverdienten Violin-Virtuosen Mildner, ist 
0040diese Dame, durch Geburt und Verheiratung, doppelt musi-
0041kalisch. Ihr erstes öffentliches Auftreten glückte vollständig
0042und reiht Frau Heßler fortan unter unsere vorzüglichsten
0043Dilettantinnen.


0044Der Wiener Männergesang-Verein gab seine
0045zweite statutenmäßige Production unter der Leitung der Chor-
0046meister Weinwurm und Kremser. Von den darin
0047wiederholten Repertoirestücken waren uns Schubert’s 
004823. Psalm, dieser silberhelle Strom erquickender Musik,
0049und Schumann’s ebenso kunstvolles als tiefpoetisches
0050Ritornell („Die Rose stand im Thau“) die willkom-
0051mensten. Für Esser’s allerwärts beliebten Chor: „Der
0052Frühling ist ein starker Held“ haben wir uns niemals er-
0053wärmen können, die Declamation ist doch zu haarsträubend.
0054Daß trotzdem an dieser stimmgerecht gesetzten und lebhaft
0055pulsirenden Composition ein unfehlbarer Effect haftet, hat
0056die jüngste Aufführung neuerdings bewiesen. Mit Spannung
0057horchten wir einer Novität aus Schumann’s Nachlaß:
0058Der Eidgenossen Nachtwache“. Von Schumann erwarten
0059wir immer etwas Eigenthümliches, in seiner Art Bedeuten-
0060des und mußten um so schmerzlicher enttäuscht sein, als
0061sich diese „Nachtwache“ nicht über die Capellmeister-Musik
0062im gebräuchlichen Liedertafelstyl emporheben wollte. Daß
0063dieser Chor eine ziemlich laue Aufnahme fand, konnte uns
0064nicht wundern; erst später, als wir sahen, welche Mittel-
0065mäßigkeiten enthusiastisch applaudirt wurden, gestatteten wir
0066uns für Schumann doch einiges nachträgliche Erstaunen.
0067Dürrner’sSturmbeschwörung“ ist Coulissen-Malerei
0068und keine von der besten Sorte. Ein von Leopold Lands-
0069kron
componirter Chor: „Perser-Gebet“, bestätigte neuer-
0070dings, welch musikalisch gefährlicher Poet Hermann Lingg 
0071ist. Der Composition selbst können wir kaum etwas An-
0072deres nachrühmen, als die sorgfältige Declamation. Bei
0073sehr mäßiger musikalischer Erfindung und fortwährendem
0074Ringen nach sublimstem Ausdrucke ist sie prätentiös und er-
0075müdend. Wirksamer durch melodiöse Behandlung sind die
0076Toscanischen Lieder“ von Rudolph Weinwurm, eine
0077Art italienisches Liederspiel, welches sein Vorbild, das „spa-
0078nische“ von Schumann, nicht verleugnen kann. Gar manche
0079Stellen entfalten eine gefällige Anmuth, andere wieder thun
0080der volksthümlichen Einfachheit des Textes Gewalt an.
0081Weinwurm’s Talent dünkt uns wie eine angenehme schwache 
0082Stimme, die um keinen Preis forcirt werden darf. In
0083dieser Hinsicht ziehen wir den natürlicheren Fluß seiner
0084Alpenstimmen aus Oesterreich“ vor, deren Aufführung sich
0085lohnen würde. Eine wohlthuende Unterbrechung der Ge-
0086sangsnummern verdanken wir Herrn Doppler, welcher
0087eine Idylle eigener Composition mit Begleitung von vier
0088Waldhörnern auf der Flöte blies. So reizend vorgetragen,
0089trägt dieses anspruchslose Stück seinen Namen: „Wald-
0090vöglein“ mit Ehren; ein wahres Nachtigallen-Solo. Die
0091Wirkung desselben ist auf das geschickteste berechnet und
0092dadurch erhöht, daß das Hornquartett in beträchtlicher Ent-
0093fernung hinter dem Flötenspieler sich befindet.


0094Nachdem die Kammersängerin Fräulein Helene Mag-
0095nus
und Herr Julius Epstein zum zweitenmal den Kreis
0096ihrer Verehrer um sich versammelt hatten, producirte sich
0097Herr Hermann Riedel im Bösendorfer’schen Saal als
0098Pianist und Compositeur. Man muß vor Allem als Mensch
0099sehr geschätzt und beliebt sein, wenn man in Wien ein so
0100volles Concert wie Herr Riedel zuwege bringt. Unser Pu-
0101blicum kann bei der Ueberfülle von Einzelconcerten unmög-
0102lich viel Empfänglichkeit dafür haben; selten ist es zahlreich,
0103noch seltener zahlend. Angesichts der unabsehbaren Concert-
0104zettel begreift man oft kaum, wo all’ diese zum Theile ganz
0105unbekannten Virtuosen überhaupt Leute hernehmen. Hector
0106Berlioz pflegte eine hübsche Geschichte von einem Pariser
0107Pianisten zu erzählen, welcher kein Concert zu Stande brin-
0108gen konnte, da auch die Freibillette regelmäßig unbenützt
0109blieben. Da kam er auf die Idee, ein Concert mit dem
0110Beisatze anzukündigen, es werde jedem Zuhörer am Schluß
0111eine Tasse Chocolade servirt werden. Sofort besuchten ihn
0112einige junge Leute mit der bescheidenen Anfrage, ob es nicht
0113möglich wäre, die Tasse Chocolade zu bekommen, ohne 
0114das Concert anzuhören? Da wurde unser Pianist wüthend
0115und gab weder Musik noch Chocolade. Eine andere Lieb-
0116lingsgeschichte von Berlioz — es ist vielleicht sehr unvor-
0117sichtig von mir, sie weiter zu erzählen — war folgende:
0118Berlioz war als Musik-Kritiker des Journal des Debats in
0119einer besonders anstrengenden Concertsaison caput geworden
0120und mußte einige Tage das Zimmer hüten. Da kommt ein
0121wildfremder Mann zu ihm, stellt sich als Violin-Virtuose
0122vor und erbittet sich Berlioz’ Anwesenheit bei seinem mor-
0123gigen Concert. Berlioz versichert, daß ihm dies unmöglich [2]
0124sei. „Auf diese Antwort war ich gefaßt,“ erwiderte der un-
0125erschrockene Concertgeber, „ich habe deßhalb meine Geige und
0126die Noten gleich mitgebracht und werde die Ehre haben,
0127Ihnen meine Concertnummern jetzt vorzuspielen.“ Obgleich
0128Berlioz, wie kürzlich Bismarck in der preußischen Kammer,
0129„einiges Recht, müde zu sein“, in Anspruch nehmen durfte,
0130blieb ihm doch keine Note geschenkt.


0131Hermann Riedel, der schwärmerische Eusebius unter
0132den jüngeren Wiener Componisten, ist ein Musiker von echter,
0133zarter Empfindung. Letztere findet in manchen seiner Lieder
0134überzeugende Töne, in anderen wird sie zu schwelgerischer
0135Empfindsamkeit und zerrüttet die einheitlichen Grundfesten
0136des musikalischen Baues. In seinem neuesten, von Fräulein
0137Ehnn und Herrn Walter überaus schön vorgetragenen
0138Lieder-Cyklus aus Scheffel’s „Trompeter von Säckingen“ ge-
0139wahren wir einen erfreulichen Fortschritt des begabten Com-
0140ponisten. Es dürfte ihm allmälig gelingen, des Zerfließenden,
0141Weichlichen Herr zu werden und dem blühenden Fleische sei-
0142ner Musik auch festere Knochen zu geben. Polyphone und
0143contrapunktische Arbeiten werden ihn am besten fördern. Als
0144tüchtiger Pianist bewährte sich Herr Riedel in dem Vortrag
0145der Beethoven’schen As-dur-Sonate op. 110 und zweier un-
0146erquicklicher, wenigstens für den Concertsaal unpassender „Stim-
0147mungen“ von Hermann Grädener. Interessant war eine
0148von Riedel zum erstenmal gespielte, bisher unbekannte Ma-
0149zurka von Chopin. Dieses graziöse herzhafte Stück er-
0150scheint demnächst bei Gotthard, welcher ohne Zweifel
0151die Echtheit der über ein Vierteljahrhundert versteckt geblie-
0152benen Reliquie authentisch nachweisen wird. Aus der Musik
0153selbst, ohne Einblick in das Autograph, würde ich dafür nicht
0154einzustehen wagen, obwol keine inneren Gründe gegen diese
0155Echtheit sprechen. So prägnant die Chopin’schen Mazurkas
0156bei ihrem Erscheinen von allem Bekannten abstachen, ihr
0157Styl ist seither typisch geworden und den jüngeren polnischen
0158Componisten völlig in Fleisch und Blut übergegangen. Ich
0159kenne mehr als Eine reizende Mazurka von Mikuli, Graf
0160Zaluski und Anderen, die man unbedenklich für Chopin’sche
0161ausgeben könnte.


0162Seit Monaten machten große Concertplacate darauf
0163aufmerksam, daß Herr Hellmesberger seine zweihun-
0164dertste Quartett-Soirée geben werde. Daß ich über diese
0165Production nicht berichten kann, wird man mir hoffentlich
0166nicht als schweres Versäumniß anrechnen. Die drei vorge
0167tragenen Quartette (Haydn, Schubert, Beethoven) haben
0168wir von Hellmesberger oft und oft gehört; seine hervorra-
0169genden Verdienste um das öffentliche Quartettspiel und die
0170Einbürgerung Schubert’s und des späteren Beethoven habe
0171ich in zahlreichen Kritiken und zu dauerhafterer Erinnerung
0172in der „Geschichte des Wiener Concertwesens“ eingehend
0173gewürdigt. Was also zu besprechen übrig bliebe, ist lediglich
0174eine zwischen dem Gefeierten und seinem Stammpublicum
0175abgespielte Familien-Rührscene mit Lorbeerkränzen, Anreden,
0176Ehrengeschenken, hundert Hervorrufen und tausend gerührt
0177abwehrenden Bücklingen und was sonst noch die zunächst
0178Betheiligten interessiren kann. Ich bedauere, daß mir für
0179derlei Exhibitionen maßloser Gemüthlichkeit der rechte Sinn
0180fehlt, weßhalb ich lieber zu beschreiben unterlasse, was richtig
0181zu genießen mir versagt ist. Ueberdies wird sich das Ver-
0182säumte wol bald nachholen lassen; da Hellmesberger’s
0183Quartett-Unternehmung im Jahre 1849 begann, so steht
0184uns ohne Zweifel im nächsten Jahre die Feier ihres fünf-
0185undzwanzigjährigen Jubiläums in Aussicht.


0186Das siebente „Philharmonische Concert
0187begann mit Gade’s bekannter B-dur-Symphonie, einer
0188liebenswürdigen, von wählerischem Geschmack geglätteten
0189Tondichtung. Nicht zu verhehlen ist es, daß man auf seine älteren
0190Compositionen zurückgreifen muß, wenn man Gade, wie er
0191es verdient, dem Concert-Repertoire erhalten will. Der
0192noch immer rastlos schaffende Componist hat sich schnell
0193ausgegeben und trotz aller redlichen Bemühung seine
0194ersten Erfolge nie wieder eingeholt. Seine späteren Sym-
0195phonien und Cantaten, seine Ouvertüren zu „Hamlet“ und
0196Michel Angelo“ beweisen das. Die Gade’sche Symphonie, welche
0197wundervoll gespielt wurde, fand im Publicum warmen An-
0198theil, wenn auch keinen enthusiastischen. Dasselbe gilt von
0199Haydn’s G-dur-Symphonie (Nr. 7) mit dem köstlichen
0200Dudelsack-Trio im Menuet. Musterhafte Aufführungen, wie
0201die unserer Philharmoniker, haben eine große Macht, und
0202es verdient alles Lob, daß man diese Macht auch für
0203Haydn ins Treffen schickt. Die Symphonien dieses Meisters,
0204welche eine aufs Gewaltsame gestellte Zeit nicht mehr an-
0205erkennen will, dürfen trotzdem unseren großen Concerten
0206niemals ganz verloren gehen. Lebhaften Beifall erntete ein
0207Capriccio für Orchester von Hermann Grädener, ein
0208recht geistreich erfundenes und pikant instrumentirtes Ton-
0209stück. Auf anhaltendes Rufen und Beifallklatschen holte 
0210Dessoff den Componisten aus seinem bescheidenen Versteck
0211und stellte ihn dem Publicum vor. Eine andere Novität
0212war Liszt’s Orchester-Bearbeitung des Schubert’schen
0213Trauermarsches in Es-moll (Nr. 5 der „Sechs heroischen
0214Märsche“ zu vier Händen). Wie die Composition als Clavier-
0215stück vorliegt, ist sie echt schubertisch gesangvoll, natürlich
0216hinfließend, aber keineswegs bedeutend; das Trio in Es-dur,
0217das für einen Trauermarsch doch gar zu vergnügt klingt,
0218wird in seiner harmonischen und rhythmischen Einfachheit und
0219dürftigen Achtelbegleitung in so häufiger Wiederholung ge-
0220radezu ermüdend. Was hat aber Liszt aus dieser kleinen
0221Zeichnung zu machen gewußt! Ein imposantes, farbenpräch-
0222tiges Bild, an dem man sich nicht sattsehen kann und das
0223immer neue coloristische Wunder enthüllt. Das ist wahre
0224Poesie der Instrumentirung, zum Unterschied von jener herz-
0225losen technischen Geschicklichkeit, die man an so vielen mo-
0226dernen Orchesterstücken loben muß. Wie das Thema erst
0227im Dunkel der Violen und tiefen Clarinett-Töne erscheint,
0228dann lichter wird durch Hinzutreten von Geigen und Flöten,
0229wie endlich im zweiten Theil nach und nach Hörner, Trom-
0230peten und die drei Posaunen nebst Tuba einen feierlichen
0231Glanz wie brennendes Abendroth darüber breiten, das ent-
0232zieht sich jeder Beschreibung. Und jenes Dur-Trio, wie weiß
0233es Liszt durch wechselnde, fein abgestufte Instrumentirung
0234zu bereichern und zu heben! Zuerst bringen die Celli in
0235gesangvoller Tenorlage die Melodie, dann die Violinen auf
0236der G-Saite, endlich Waldhorn, Clarinett und Flöte über einer
0237durch Triolen leicht belebten Begleitung der Geigen. Im
0238zweiten Theil des Trios bläst das erste Horn Solo, ohne
0239Dämpfer, die drei tieferen Hörner secundiren gedämpft, wäh-
0240rend zwei Flöten in gebundenen Arpeggien sachte darüber
0241flattern; endlich erfassen alle Geigen und Celli unisono und
0242in Octaven das Thema und steigern es zu höchster Kraft,
0243worauf ganz zum Schluß noch eine neue Wendung uns
0244überrascht: die Melodie in den Oboën. Diese Bearbeitung 
0245Liszt’s ist in ihrer Genialität geradezu eine Neuschöpfung
0246zu nennen, und doch wird kein Tact des Originals durch
0247sie geändert, keine Schubert’sche Note Lügen gestraft. Wenn
0248Schubert seinen Marsch in Liszt’s Instrumentirung hören
0249könnte, ich glaube, er würde denselben bewundernden Aus-
0250ruf thun, den man Voltaire nacherzählt, als dieser eine
0251seiner Tragödien-Rollen von der Clairon unübertrefflich
0252spielen sah: „Bin ich es, der das gemacht hat?“