Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3080. Wien, Freitag, den 21. März 1873
[1]Adelina Patti und die italienische Oper in Wien.
0002Ed. H. Der Frühling hat uns auch diesmal wieder
0003Adelina Patti gebracht. Sie singt an der Spitze der Merelli’-
0004schen Gesellschaft im Theater an der Wien und ist bisher
0005in zwei Opern aufgetreten: „La Traviata“ und „II Tro-
0006vatore“. Bei der Besprechung so außerordentlicher Erschei-
0007nungen wie die Patti überkommt uns jedesmal ein rechtes
0008Bedauern über die enthusiastische Terminologie, welche sich
0009allenthalben in der Theaterkritik abgenützt und längst alle
0010Superlative entwerthet hat, so daß Ausdrücke wie „Triumph“,
0011„Fest“ und dergleichen beinahe zum täglichen Brot geworden
0012sind. Sagen wir es denn mit ruhiger Ueberlegung und im
0013strengsten Verstande: Jedes Auftreten der Patti ist ein
0014Triumph für sie und für die Hörer ein Fest. So bezau-
0015dernd wirkt ihre Gesangskunst, daß sie uns mit jeder be-
0016liebigen Arie festbannt und mancher Oper in die Arme
0017treibt, der wir sonst lieber aus dem Wege gehen. So hörten
0018wir mit Genuß Verdi’s „Trovatore“, wenigstens so lange
0019Leonore auf der Bühne ist. In dieser Rolle war die Patti
0020hier noch nicht aufgetreten, wie sie denn überhaupt erst später
0021von den heiteren und halbernsten lyrischen Partien (Lucia
0022und Sonnambula als Grenzmarken) zu jenen starken, aus-
0023geprägt dramatischen Rollen überging, mit welchen sie jetzt
0024in den „Hugenotten“, in „Trovatore“, in Gounod’s „Faust“
0025und „Romeo“ die größten Erfolge feiert. Ihre Leonore ist
0026eine bis in die kleinste Einzelheit vollendete Leistung von
0027überraschendem Effect. Schade, daß diese Rolle, wie die
0028ganze Oper, sehr ungleich in der Composition ist. Scenen
0029von stark pulsirendem, echt dramatischem Leben wechseln im
0030„Trovatore“ mit kindischem Klingklang und trivialen Kneipen-
0031melodien. Der Graf Luna bleibt in dieser Hinsicht noch am
0032meisten intact, hingegen Azucena, Manrico und Leonore!
0033Letztere gleicht in ihren Arien so genau den Sirenen
0034der alten Mythologie, daß jeder Schulmeister un-
0035fehlbar sein Horaz’sches „Desinit in piscem“ citirt.
0036Sowol die erste als die zweite Arie Leonorens be-
0037ginnt mit einem Andante von üppiger und doch ausdrucks-
0038voller Melodie, das sich zu großer Steigerung erhebt; auf
0039beide folgen aber Allegrosätze von abstoßender Trivialität.
*)
0045Diese unmittelbare Aufeinanderfolge eines tiefschmerzlichen
0046Adagios und eines ausgelassenen Allegro brillante war in
0047den früheren Opern Verdi’s unverbrüchliches Gesetz. Wenn
0048solch plötzlicher Uebergang gar nicht anders zu motiviren
0049war, so mußte nach dem Adagio ein Diener eintreten und
0050der Heldin (zum Beispiel der Amalia in den „Masnadieri“)
0051einen Brief von sehr angenehmem Inhalt überbringen, dem
0052zu Ehren nun der Polka- oder Galopp-Jubelsang losgehen
0053konnte. In Verdi’s neueren Werken (vom „Maskenball“,
0054„Forza del Destino“, „Don Carlos“ bis „Aïda“) ist die
0055Manier vollständig getilgt; im „Trovatore“ feiert sie noch
0056mit Manrico’s und Leonorens Arien ihre fidelsten Orgien.
0057Adelina Patti hat durch die Gestalt, die sie der Verdi’schen
0058Leonore musikalisch wie dramatisch gab, neuerdings ihre
0059große künstlerische Macht erwiesen. Die langsamen Sätze der
0060beiden Arien sang sie breit und ausdrucksvoll, durchaus in
0061großem, edlem Styl; hier fiel uns zugleich die größere Fülle
0062und Schönheit der tieferen Töne auf, welche bei dem ersten
0063Gastspiel der Sängerin noch etwas unreif klangen und jetzt
0064an die Tonfarbe einer Cremoneser Viola mahnen. In den
0065Allegros war es zweierlei, wodurch sie uns über das Be-
0066denkliche der Composition siegreich hinüberhalf: zuerst eine
0067blendende Virtuosität, die den Componisten in tiefen Schatten
0068rückte. Man muß das silberhelle Schmettern dieser
0069unvergleichlichen und unfehlbaren Stimme gehört haben,
0070welche mit den erstaunlichsten Schwierigkeiten spielt und die
0071entlegensten Intonationen, die höchsten Noten mit einer Sicher-
0072heit anschlägt, wie die Tasten eines Claviers. Sodann
0073wußte sie durch die Art der musikalischen Phrasirung, durch
0074Miene und Geberde das Gemeine dieser Allegro-Motive zu
0075mildern und bis zu einem gewissen Grade zu adeln. Die
0076meisten Sängerinnen verbreiten mit ihrem: „Ich lächle
0077unter Thrä—ä—ä—ä—nen und der Tod ist mir die
0078höchste Lust“ unbedingte Heiterkeit, weil sie eben in ihrer
0079Tonbildung und Mimik nur die Farbe herausfordernder
0080Lustigkeit für diese Melodien finden. Aber in einer solchen
0081Situation wie die Leonorens im zweiten und vollends im
0082vierten Acte lacht man nicht, wenn man eine dramatische
0083Künstlerin ist, mag der Componist hingeschrieben haben,
0084was er wolle. Leonore sieht, nachdem sie das Schrecklichste
0085erduldet und Alles geopfert hat, selbst schon von der Hand
0086des Todes gezeichnet, die Hoffnung aufflackern, daß wenig-
0087stens ihr Geliebter gerettet werde. Die Freude darüber hat
0088Adelina Patti weit richtiger und edler in ihren Mienen aus-
0089gedrückt, als der Componist in seinen Tönen: die letzte,
0090schmerzliche Freude einer zu Tode Gefolterten, nicht die
0091Lustigkeit einer Kokette im Ballsaal. Es ist nicht Alles,
0092aber doch viel, was an solcher Stelle ein Blick, eine Ge-
0093berde vermag. Freilich läßt sich das nicht von jeder Darstel-
0094lerin beliebig aneignen, so wenig wie das marmorblasse,
0095scharfgeschnittene Antlitz mit den zwei schwarzen Flammen,
0096die mit jedem Aufschwung der Melodie an Größe und
0097Gluth zu wachsen scheinen. Dabei begreift man kaum, wie
0098so zartem Körper diese Kraft und Ausdauer innewohnen können;
0099die Patti bewältigte den physisch und geistig aufreibenden
0100vierten Act nicht nur mühelos, sondern wiederholte über-
0101dies den ganzen Es-moll-Satz. Mit gespanntem Interesse
0102wird man ihr Spiel in dieser Scene verfolgen. In den
0103drei ersten Acten ist Leonore eine gewöhnliche Theaterfigur,
0104die fast wie ein Versetzstück beliebig in andere Opern über-
0105tragen werden könnte. Erst mit dem vierten Acte gewinnt
0106sie selbstständige dramatische Bedeutung. Leonore hat sich
0107dem Thurme, in welchem Manrico gefangen sitzt, zu nähern
0108gewußt; es ertönt der Chor der Mönche, welche für den
0109zum Tode Verurtheilten das Miserere anstimmen. Bei den
0110ersten Tönen dieses Grabgesanges schauert die Patti zusam-
0111men, wickelt sich ängstlich in den schwarzen Schleier und [2]
0112duckt wie ein furchtsam Kind unter ein Portale. Der
0113Chor verstummt für einen Augenblick, Schmerz und Ent-
0114setzen kommen nun in ihr zum vollen Ausbruch, sinken aber
0115bald (in den vom Componisten glücklich vorgezeichneten
0116schluchzenden Figuren von je zwei verbundenen Noten) all-
0117mälig ermattet zusammen. Da ertönt das Lied des Trou-
0118badours, Leonore erkennt seine Stimme. Der wechselnde
0119Ausdruck in den Mienen der Patti ist hier von sprechender
0120Gewalt. Wie sie erst unbeweglich lauscht, dann zur Kerker-
0121thür eilt, das Ohr ans Schlüsselloch legt, sich auf den
0122Fußspitzen zum Gitterfenster zu heben versucht, endlich halb
0123unbewußt an dem Schloß herumtastet, ob nicht doch viel-
0124leicht ein Eindringen möglich — das Alles ist überraschend
0125wahr und schön gedacht. Das folgende Duett mit Luna,
0126das in den gewöhnlichen „Trovatore“-Vorstellungen häufig
0127bis zur Unbedeutendheit herabsinkt, obgleich darin eine
0128starke dramatische Ader anschlägt, trat durch den leiden-
0129schaftlichen Vortrag der Patti in ein helles Licht und
0130wirkte packend. In der Schlußscene des vierten Actes
0131(im Kerker) wurde Leonore durch das ergreifende, in
0132den Vergiftungsqualen allerdings etwas gewaltsame Spiel
0133der Patti zur Hauptfigur. Eine kurze schöne Cantilene in
0134Es-dur („Prima che d’altri vivere“) klang uns durch den
0135Vortrag der Patti wie neu, wozu allerdings auch der Um-
0136stand beitrug, daß wir sie in der Regel nur im Fortgehen,
0137von der Theater-Garderobe aus, zu hören gewohnt sind.
0138Diese langgezogene, wehmüthige Melodie legte sich verklä-
0139rend auf all die Gräuel, welche der letzte Act dieser Oper
0140unbarmherzig aufeinanderthürmt. So reiht sich denn diese
0141zweite Rolle der Patti, als kunstvollste Ausführung des Ge-
0142gebenen, ebenbürtig an ihre erste, die „Traviata“. An wohl-
0143thuender und unmittelbar überzeugender Wirkung steht sie
0144unter dieser nur gerade so weit, als die Rolle selbst sammt
0145dem ganzen „Trovatore“ an Wahrheit, Natürlichkeit und
0146musikalischem Reiz der „Traviata“ nachsteht. Ueber die Styl-
0147losigkeit und Gewaltsamkeit des „Trovatore“ hinaus bedeutet
0148die „Traviata“ jedenfalls einen musikalischen Fortschritt,
0149sowie auch ihre Herkunft aus einem äußerst geschickten und
0150wirksamen Theaterstück ihr dramatisch zum Vortheile ge-
0151reicht. Personen und Handlung der „Traviata“ entwickeln
0152sich vor unseren Augen, sind uns verständlich und bemäch-
0153tigen sich mehr oder minder unserer Theilnahme, während
0154die Charaktere und Situationen im „Trovatore“, wie aus
0155der Pistole geschossen, als brennendes Werg auf die Scene
0156fliegen und obendrein die Vorhandlung so unverständlich ist,
0157daß selten ein Zuschauer dahinterkommt, welcher von den
0158beiden jungen Herren das gestohlene und verbrannte und
0159welcher das nicht gestohlene und nicht verbrannte Kind sei.
0160Von den neben der Patti beschäftigten Sängern der
0161Merelli’schen Gesellschaft war dem Wiener Publicum nur
0162die Darstellerin der Azucena neu: Barbara Marchisio.
0163Vor etwa zwölf Jahren hörte ich die beiden Marchisio in
0164der Pariser Großen Oper, wohin sich Alles drängte, um in
0165Rossini’s abgestandener „Semiramis“ das berühmte Schwe-
0166sterpaar zu hören. Ihr Haupteffect war der Vortrag des
0167famosen Duettes zwischen Arsace und Semiramis, das in
0168der That wie aus Einer Kehle floß. Wenn man gefragt
0169wurde, welche von beiden Sängerinnen die beste sei, Car-
0170lotta oder Barbara, so mußte man antworten: Beide zu-
0171sammen. Denn sie waren mit einander eingesungen, wie
0172zwei ideale Spieluhren. Leider hat der Tod dieses seltene
0173Duett zerstört und Carlotta, die Sopranistin, vor der Zeit
0174der Kunst und ihrer Familie entrissen.
**) Barbara ist nun
0178allein nach Wien gekommen, leider nur mehr mit den Resten
0179ihrer Stimme, eines blos in der tieferen Mittellage noch
0180wohlklingenden Contra-Alts, welcher schon vom zweigestri-
0181chenen d an schrill wird und bei stärkerem Kraftaufwand
0182leicht distonirt. Die vorzügliche Gesangstechnik und das
0183dramatische Talent dieser Künstlerin kamen trotzdem zur Gel-
0184tung; nachdem Frau Marchisio anfangs sehr kühl aufgenom-
0185men worden, fand sie am Schluß des zweiten Actes und im
0186dritten um so reichlicheren Beifall. In Maske und Spiel
0187that sie uns etwas zu viel des Guten an greller Charakte
0188risirung dieser an sich schon hinreichend widerwärtigen Zigeu-
0189nermutter. In Herrn Graziani haben wir mit aufrich-
0190tigem Vergnügen den vortrefflichen Bariton vom vorigen
0191Jahre wieder begrüßt. Bei so meisterhafter Behandlung
0192des Tonansatzes, bei so edlem Vortrag und durchdachtem
0193Spiel vermißt man nicht allzusehr die mangelnde Jugend-
0194frische der Stimme. Den Vater Germont in der „Traviata“
0195singt und spielt Graziani besser, als wir es von den früheren Dar-
0196stellern dieses salbungsvollen „vecchio genitor“ gewohnt sind.
0197Im „Trovatore“ gerieth sein Vortrag von Luna’s B-dur-
0198Arie, vielleicht in Folge stimmlicher Indisposition, etwas
0199überfein und süßlich falsettirend. Im vierten Acte erhob er
0200sich zu größerer dramatischer Kraft und Bestimmtheit; das
0201Haupterforderniß dieser Theaterfigur, vornehme Haltung,
0202besitzt Graziani bekanntlich in beneidenswerthem Maße. Der
0203Tenorist Nicolini wird vom Publicum sehr gefeiert, wie
0204uns bedünken will, mehr als er verdient. Wärme und Leb-
0205haftigkeit kann man ihm nicht absprechen, aber er sucht seine
0206Effecte fast nur im Loslegen bei carikirtem Hervorheben
0207der einzelnen Phrase. Seine ehemals an Mario erinnernde
0208Stimme, ein kräftiger Tenor von entschieden baritonalem
0209Timbre, hat den Schmelz und die Frische bereits eingebüßt
0210und tremolirt unausgesetzt. Es ist unbegreiflich, daß dieser
0211Sänger nicht von der Patti einiges dramatisches Benehmen,
0212von Graziani nicht einige Mäßigung und Zartheit gelernt
0213hat. Nicolini ist vor Allem „schöner Mann“, Italiener
0214durch und durch und von der fixen Idee besessen, daß jede
0215Oper eigentlich blos aus dem Publicum und seiner werthen
0216Person bestehe. Demzufolge singt er immer nur das
0217Publicum an, unbekümmert um seine Mitspielenden. In
0218jedem halbwegs effectvollen Momente stellt er sich dicht an
0219die Fußlampen (deren Qualm ihn gottlob verhindert, bis
0220auf die Brüstung der ersten Sperrsitzreihe zu steigen), streckt
0221die Arme stramm vor sich aus, wackelt mit den Knien,
0222reißt Mund und Augen weit auf und singt nun seine hohen
0223A und B wie in höchster Lebensgefahr. Einen solchen aben-
0224teuerlichen Anblick gewährt er z. B. im dritten Acte des
0225„Trovatore“, wo er seine Trompeten-Arie ins Publicum [3]
0226schreit, während Adelina Patti sich als Leonore herbeiläßt,
0227ihm passive Assistenz zu leisten. Im Zusammenspiele mit
0228Carrion hatte die Patti während des Trinkliedes und
0229im zweiten Finale der „Traviata“ reizende Züge stummen
0230Spieles, welche Herr Nicolini vereitelt, indem er sich
0231nicht um sie kümmert. Nach seiner „Trovatore“-Arie wurde
0232Herr Nicolini vier- bis fünfmal herausgejubelt; es machte
0233uns einen traurigen Eindruck. Für die Patti ist diese Gleich-
0234stellung mit einem musikalischen Coulissenreißer gewiß nicht
0235schmeichelhaft, für das Publicum aber noch weit weniger.
0236Das Ensemble der italienischen Opernvorstellungen läßt
0237Vieles zu wünschen; wer da weiß, daß neben den drei bis
0238vier hochbezahlten ersten Kräften die kleineren überall um so
0239mittelmäßiger sind, bescheidet sich ohnehin. Sehr anständig
0240ist der Bassist Vidal (er gibt im „Trovatore“ den mazurka-
0241singenden Haushofmeister mit dem riesigen Gedächtniß für
0242verbrannte und gestohlene Kinder); erträglich Signora
0243Aninska als Vertraute; hingegen eine lächerliche Cari-
0244catur jener schnapsverdächtige hochgeborne „Freund“, an
0245dessen Arm Violetta im zweiten Finale erscheint. Die Chöre
0246sind schwach besetzt und mangelhaft studirt, das Orchester
0247stimmt unrein, besonders in den Holzbläsern und Pauken.
0248Nicht unbillig scheint es uns, von einer Bühne, welche viele
0249Tausende auf die Ausschmückung einer zweifelhaften Ope-
0250rette verwendet, ein halbwegs anständiges Gewand für die
0251Patti-Vorstellungen zu verlangen. Das Schlimmste jedoch
0252ist die im Theater an der Wien grassirende Fallsucht des
0253„Zwischenvorhangs“. Daß diese Einrichtung eine ästhetische
0254Barbarei ist, zieht kaum mehr ein Dramaturg in Zweifel;
0255wo sie einmal besteht, darf wenigstens die Bühne zwischen
0256den einzelnen Scenen nicht länger verhängt bleiben, als für
0257den Decorationen-Wechsel unumgänglich nothwendig ist. Im
0258Theater an der Wien hat das gar kein Absehen; wir wissen
0259nicht mehr, wie viel selbstständige Aufzüge aus dem vier-
0260actigen „Trovatore“ gemacht wurden. Das zerstört jede
0261Illusion, macht das Publicum ungeduldig und dehnt oben-
0262drein Opern von bescheidener Ausdehnung zu martervoller
0263Länge aus.