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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3099. Wien, Mittwoch, den 9. April 1873

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Concerte.


0002Ed. H. Das vierte, zugleich letzte „Gesellschafts-Con-
0003cert“ dieser Saison bestand aus nur zwei Stücken: dem
0004großen Requiem von Cherubini und der Bach’schen
0005Cantate: „Liebster Gott, wann werd’ ich sterben?“. Cheru-
0006bini’s Requiem in C-moll gehört zu jenen durchaus edlen
0007und künstlerisch vollendeten Erscheinungen der Musica sacra,
0008welche niemals der Vergessenheit anheimfallen dürfen. Es
0009wirkt stärker und tiefer allerdings in der Kirche, wo dem
0010feierlich düsteren Charakter dieser Composition die entspre-
0011chende Stimmung des Hörers schon entgegengebracht wird.
0012Die Aufführung im Concertsaale bleibt aber jederzeit zu-
0013gleich Werthmesser und Diplom für die rein künstlerische
0014Macht, die eine ihrer kirchlichen Insignien entkleidete Ton-
0015dichtung durch sich selbst auszuüben vermag. Wir haben
0016Mozart’s Requiem, Beethoven’s Festmesse wiederholt im
0017Concertsaale gehört, von den protestantischen Kirchenmusiken
0018Bach’s nicht zu reden — auch Cherubini’s Requiem ver-
0019trägt die Concert-Aufführung und verdient sie. Die Gele-
0020genheit, dasselbe bei feierlichem Gottesdienste zu hören, bie-
0021tet sich selten; haben sich doch gar viele Kirchenthüren vor
0022dieser „zu weltlichen Musik“ stolz zugeschlagen. In Wien 
0023dürften sehr Wenige der jüngeren Generation das Cheru-
0024bini’sche Requiem gehört haben, und von den älteren Her-
0025ren, die es noch aus den „Spirituel-Concerten“ kennen,
0026sind auch nicht viele mehr übrig. Diese Spirituel-Concerte,
0027deren Gründer, Gebauer, zugleich Chorregent der
0028Augustinerkirche war, pflegten vorzugsweise geistliche Musik
0029und mit besonderer Vorliebe Cherubini’sche. Seither ist das
0030Requiem in Wien so gut wie verschollen; es jetzt wieder
0031hervorgesucht und in vollendeter Execution neu belebt zu
0032haben, ist ein anerkennenswerthes Verdienst von Johannes
0033Brahms. Das Werk baut sich in großen, ein-
0034fachen Verhältnissen auf, klar und bestimmt in allen
0035seinen Absichten, durchweht von echtem Schönheitssinne
0036und religiösem, wenngleich nicht engherzig kirchlichem Geiste.
0037Der energische Dramatiker Cherubini blickt unverkennbar aus 
0038dem „Dies irae“, aber nirgends verfällt er dem Opernhaf-
0039ten. An die Italiener und an Mozart knüpfend, nicht so
0040erfindungsreich, aber einheitlicher und stylmäßiger als des
0041Letzteren Requiem, bildet das Cherubini’sche Werk eines der
0042charakteristischesten Gegenstücke zu den geistlichen Compositio-
0043nen Sebastian Bach’s, gegen dessen ruhelose Contrapunktik
0044und kunstvoll sich aufthürmende Polyphonie es sich ausnimmt
0045wie ein durch edle Einfachheit wirkender romanischer Bau
0046neben einem in zahllosen Spitzbogen, Thürmchen und Stein-
0047Arabesken aufstrebenden gothischen Münster. Das ganze
0048Werk hindurch entfaltet Cherubini mit der freien Sicherheit
0049des Meisters seine große harmonische Kunst, ohne irgendwie
0050durch Künstelei imponiren zu wollen; ja, mit Ausnahme der
0051(an dieser Stelle fast traditionell feststehenden Fuge „quam
0052olim Abrahae promisisti“ findet sich in dem Requiem kaum
0053etwas von specifisch „gelehrter Musik“. Von Anfang bis zu
0054Ende ertönt der Vollklang des vierstimmigen Chors, kein
0055Sologesang unterbricht seinen majestätischen Strom, kein
0056Instrumental-Solo den ernsten Zusammenklang des Orche-
0057sters. Ein großes Allgemeingefühl beseelt diese Todtenmesse.
0058Der individuelle Schmerz um einen uns theuren Verstorbe-
0059nen tritt gänzlich zurück hinter der Idee einer ewigen Ruhe
0060Aller und eines letzten Gerichtes über Alle. Cherubini’s
0061Requiem gipfelt, wie das Gedicht selbst, in dem „Dies irae“;
0062mit ergreifender Anschaulichkeit verkörpert hier der Tondichter
0063die Idee, welche die Menschen seit Jahrtausenden von einem
0064wirklichen Gericht nach dem Weltuntergang hatten. Ein
0065himmlischer Friede liegt über den langsamen, zarten Sätzen
0066„Tu suscipe“, „Pie Jesu“ und „Agnus Dei“, welche gleich-
0067wol alles weichlich Rührende und Schmeichelnde von sich
0068fernhalten. Der verhallende, hinsterbende Schluß des Requiems,
0069welcher das allmälige Schwinden aller Lebenskraft und das
0070körperlose Eingehen zur ewigen Ruhe mit ergreifender Ein-
0071fachheit schildert, gehört Cherubini ganz allein und krönt sein
0072Requiem als ein Werk, das nach Schumann’s Ausspruch,
0073„ohnegleichen in der Welt dasteht“.


0074Bach’s Cantate: „Lieber Gott, wann werd’ ich ster-
0075ben?“ hörten wir bereits vor mehreren Jahren unter
0076Brahms’ Direction von der „Sing-Akademie“. Sie ist von
0077geringer Ausdehnung und schließt zwischen einem breit aus
0078geführten Eingangschor und einem einfachen Schlußchoral
0079nur zwei Recitative und zwei Arien ein, deren erste (für
0080Tenor mit obligater Oboë) man weislich weggelassen hatte.
0081Auch für die von Herrn Krauß gesungene Baß-Arie in
0082A-dur können wir uns nicht erwärmen; selbst wenn wir
0083von den geradezu ungeduldig machenden Textwiederholungen
0084(„wer sollte nicht gehen?“ u. s. w.) und dem wunderlichen
0085Passagenwetteifer zwischen dem Bassisten und der Flöte ab-
0086sehen, so bleibt dieser Arie doch ein entschieden spießbürger-
0087licher Beigeschmack. Der große Eingangschor übt einen wun-
0088derbaren Reiz durch seine pastorale Färbung, den wir uns
0089durch mancherlei Beigaben eines uns fremdgewordenen Zeit-
0090geschmacks — wie das unablässige Gezwitscher der beiden
0091Oboën oder die sinnwidrige Zerreißung des Textes durch
0092unabsehbar lange Instrumental-Zwischenspiele mitten im
0093Vers — nicht schmälern lassen. Kurz, die Wiederaufführung
0094dieser Cantate kann man nur billigen. Daß man sie aber
0095in demselben Concert mit dem Cherubinischen Requiem, ohne
0096Hinzufügung irgend einer dritten Musiknummer vornahm,
0097das können wir nicht billigen. Solche Zusammenstellung
0098scheint uns der Form wie dem Inhalt nach verfehlt. Der
0099Form nach: weil das Ohr nach so langem, ununterbrochenem
0100Anhören von Chorgesang nach einem Orchesterstück, einer
0101Ouvertüre oder Symphonie schmachtet. Dem Inhalt nach:
0102weil es selbst dem kunstsinnigsten Auditorium zu viel zu-
0103muthen heißt, nacheinander zwei große, ausschließlich mit
0104Todesgedanken sich beschäftigende Compositionen ohne jedes
0105zwischen- oder nachfolgende irdische Lebenszeichen aufzu-
0106nehmen. Mit einem ironischen: „Salonmusik ist das freilich
0107nicht!“ widerlegt man uns am allerwenigsten. Wir wissen
0108ganz gut, was Salon- und was Concertmusik sei, und
0109kennen im Bereich der letzteren eine imposante Reihe
0110classischer Tondichtungen von energisch ernstem Charakter,
0111welche als Kunstwerke den genannten ebenbürtig sind, ohne
0112deßhalb vom Sterben zu handeln. Als Hiller in Köln das
0113Cherubini’sche Requiem als Trauerfeierlichkeit für die im
0114Kriege 1866 gefallenen Soldaten aufführte, ließ er einen
0115modernen Chor vorausgehen und Beethoven’s heroische
0116Symphonie den Beschluß machen. Dieser Vorgang war hier
0117umsomehr nachzuahmen, als ja gar kein Anlaß vorlag, das [2]
0118vierte Gesellschafts-Concert zu einer förmlichen Todtenfeier
0119zu gestalten. Ein Concert, das mit der ungeduldigen Er-
0120kundigung: „Wann werd’ ich sterben?“ beginnt und mit
0121dem Bescheide: „Requiem aeternam“ endigt, kann zwar
0122über dieses funebre Thema sehr Erbauliches vorbringen,
0123aber das Publicum fühlt sich schließlich im strengsten Wort-
0124verstand „sterbensmüde“. Obendrein hatte man diesem
0125Programm die Bestimmung gegeben, am nächstfolgenden
0126Tage als „Außerordentliches Concert“ wiederholt zu werden,
0127also ein zweites großes Publicum anzulocken. Es fehlt in
0128Wien nicht an einem solchen, das die ernste Schönheit der
0129Musik verehrt und aufsucht, aber hier so wenig wie anderswo
0130pflegt man Concerte eigens zu dem Zwecke zu besuchen, um sich
0131nach einander erst protestantisch und dann katholisch begraben
0132zu lassen.


0133Director Herbeck überraschte uns am Palmsonntag
0134und — Montag Abends mit zwei großen Concerten im
0135neuen Opernhause. Sie nahmen die privilegirte Stelle der
0136seit hundert Jahren zum erstenmal pausirenden Oratorien-
0137Aufführungen der „Tonkünstler-Societät“ ein, welche dafür
0138eine reichlich zugemessene Entschädigungssumme als musika-
0139lisches Schweiggeld erhielt. Den ersten Abend füllte die
0140vollständige Aufführung des „Orfeo“ von Gluck (in
0141Concertform) aus, den zweiten ein anziehend zusammenge-
0142stelltes „Gemischtes Concert“.


0143Gluck’s „Orpheus“ existirt bekanntlich in zwei verschie-
0144denen Bearbeitungen, der italienischen und der französischen.
0145Mag man nun die eine oder die andere zur Aufführung
0146wählen, man hat in keinem Falle ganz gut gethan. Ent-
0147scheidet man sich für die ursprüngliche Gestalt, für den
0148italienischenOrfeo“, wie er in Wien 1762 zuerst
0149mit unbeschreiblichem Erfolge gegeben wurde, so verzichtet
0150man auf eine Reihe von Gluck nachcomponirter Musikstücke
0151(für Paris 1774), welche doch überwiegend dem Ganzen
0152zum Vortheile gereichen. Hält man sich hingegen getreu an
0153diese spätere französische Bearbeitung der Oper, so büßt
0154man den Gewinn dieser neuen Einlagsstücke mit einer schwe-
0155ren Beschädigung der Titelrolle. Ursprünglich für eine Alt-
0156stimme (den Castraten Guadagni in Wien) geschrieben,
0157wurde „Orpheus“ später in Paris vom Componisten für 
0158den hohen Tenor des Sängers Le Gros eingerichtet und
0159dadurch seines eigenthümlichen Klangreizes beraubt. Lange
0160gingen diese beiden Gestalten des Gluck’schen „Orpheus“,
0161die italienische und die französische, unabhängig neben ein-
0162ander her, bis H. Berlioz sie dergestalt vereinigte, daß
0163er die ganze Orpheusrolle in ihrer Original-Gestalt beließ,
0164aber die späteren französischen Musikstücke aufnahm. In
0165dieser trefflich vermittelnden Berlioz’schen Bearbeitung wurde
0166die Oper im November 1859, mit der Viardot-Garcia als
0167Orpheus, im Théâtre Lyrique mit anhaltendem Erfolge auf-
0168geführt; in derselben Gestalt hörten wir sie Sonntag unter
0169Herbeck’s Direction im Neuen Opernhause. Daß die Partie
0170des Orpheus in ihrer ursprünglichen Gestalt, also von einer
0171Altstimme gesungen werden muß, um jene schwermüthig
0172dunkle Färbung zu erhalten und jenen eigenthümlich me-
0173lancholischen Zauber auszuüben, welche wir davon gar nicht
0174mehr wegdenken können, leuchtet wol ohneweiters ein. Nicht
0175ebenso unbestritten ist der Werth der von Gluck für Paris 
0176hinzucomponirten Stücke. A. B. Marx geht darüber in
0177seiner Gluck-Biographie so kurz ablehnend hinweg, daß man
0178entweder annehmen muß, er habe die französische Bearbei-
0179tung gar nicht recht gekannt, oder er habe gerade an dieser
0180Stelle seines langathmigen Panegyrikus den Kitzel gefühlt,
0181sich auch einmal streng unparteiisch gegenüber Gluck zu
0182zeigen. Wir halten die erste Arie des Amor im ersten, den
0183Furientanz und die Arie der Eurydice mit Chor im
0184zweiten Acte, endlich im dritten Acte die Umwand-
0185lung des Mittelsatzes von Eurydice’s Arie (avezzo
0186al contento) in ein Duett für werthvolle Bereicherungen
0187des ursprünglichen „Orfeo“. Selbst wo der melodische
0188Stoff der italienischen Original-Partitur fast unangetastet
0189geblieben, wie in der Eingangsscene des ersten Actes oder
0190der Monodie des Orpheus in den elysäischen Gefilden, hat
0191die französische Bearbeitung kleine Aenderungen, Zusätze,
0192Umstellungen vorgenommen, welche sofort eine verfeinerte
0193dramatische Empfindung und eine effectkundigere Hand ver-
0194rathen. Es hätte auch mit seltsamen Dingen zugehen
0195müssen, wenn Gluck, welcher der französischen Bühne die
0196fruchtbarsten Anregungen verdankte, gerade in seinem für
0197die Pariser Oper bearbeiteten „Orpheus“ nur Rückschritte 
0198gemacht haben sollte. Eine einzige Nummer dieser französi-
0199schen Bearbeitung möchten wir wegwünschen, die prunkhafte
0200Bravour-Arie, mit welcher Orpheus den ersten Act be-
0201schließt. Die Arie ist aber gar nicht von Gluck, sondern von
0202einem mittelmäßigen Italiener, Namens Bertoni, aus dessen
0203Oper „Tankred“ der beifallslustige Orpheus Le Gros sie
0204in Paris einlegte. Leider verhinderte Gluck nicht die Auf-
0205nahme dieser Arie in seine französische Partitur und schwieg,
0206als zuerst Coquiau, dann Bertoni selbst ihn des Plagiats
0207anklagten. Was an Beweismitteln für die Autorschaft Ber-
0208toni’s noch fehlen mochte, hat Berlioz herbeigeschafft,
0209in dessen Schriften man die ausführliche Darstellung der
0210ganzen interessanten Controverse findet. Es spricht nicht
0211für die „deutsche Gründlichkeit“, daß Marx im Jahre 1863 
0212seine Gluck-Biographie noch in vollständigster Unkenntniß
0213der wichtigen Aufschlüsse schrieb, welche Berlioz schon 1859 
0214veröffentlicht hatte. *)


0228Wir hätten „Orpheus“ am liebsten als Oper vollkom-
0229men scenisch aufführen gesehen; zur Zeit, als die Bettel-
0230heim hier engagirt war, ist dieser Vorschlag von uns wie-
0231derholt vergeblich gemacht worden. Wie ganz anders, wie
0232voll und mächtig müßte da die Wirkung sein! Der dritte
0233Act fällt freilich etwas matt ab, schon die Handlung macht es
0234kaum anders möglich. Aber die erste Hälfte des ersten
0235Actes und der ganze zweite Act, wie dramatisch sind sie
0236gedacht, welch lebendiges Bild müssen sie unter Mitwirkung
0237der Scene und des Ballets bieten!


0238Das rührende Andringen der harfengetragenen Töne
0239Orpheus’ gegen das schrecklich erdröhnende „Nein!“ der [3]
0240Höllengeister gehört zu dem Schönsten, was die Opern-
0241musik aller Zeiten aufzuweisen hat. In der Entwicklung
0242Gluck’s bezeichnet die Composition des „Orfeo“ einen Punkt
0243von eigenthümlichster, geradezu einziger Constellation. Das
0244Ideal einer wahrhaft dramatischen Musik im Gegensatze zur
0245tändelnden Sinnlichkeit der damaligen Oper war in Gluck’s
0246Feuergeist schon lichthell aufgegangen. Die Ueberzeugung
0247von einem Drama in Tönen, wahrhaft durch das treue
0248Anschmiegen der Musik, rührend durch den einfachen Ge-
0249sang, packend durch handelnd eingreifende Chöre — diese
0250Ueberzeugung war es bereits, welche Gluck durch seine Com-
0251position des „Orpheus“ zum erstenmale verwirklichen, der
0252Welt offenbaren wollte. Dennoch stand Gluck noch mit einem
0253Fuße in den Traditionen des alten italienischen Gesanges.
0254Der stolze Fehdehandschuh, die Vorrede zur „Alceste“, war
0255noch nicht hingeschleudert, so unseren Ritter späterhin zwang,
0256im Kampfe gegen Italien und dessen Melodie unerbittlich
0257zu sein. Gluck durfte im „Orpheus“ der dramatischen Wahr-
0258heit huldigen, ohne deßhalb die duftigen Blüthen einer
0259edlen Sinnlichkeit niederzumähen. Trat die Gewalt des dra-
0260matischen Momentes, repräsentirt in dem Chor der Höllen-
0261geister, als ein völlig Neues, Unerhörtes in die damalige
0262Opernmusik ein, so klangen hingegen aus Orpheus’ Munde
0263noch die süßen, weichen Töne der neapolitanischen Schule.
0264Ein so anmuthiger und zugleich üppiger Fluß der Melodie
0265findet sich in Gluck’s späteren Werken kaum wieder. Wie
0266gesagt, der Augenblick, welcher damals in Gluck die künst-
0267lerischen Elemente gerade so und nicht anders mischte, war
0268einzig und konnte sich nicht wiederholen. Später, nachdem
0269Gluck seine früheren Kunstgenossen, die Italiener, für Re-
0270bellen erklärt hatte, durfte er mit ihnen nicht mehr unter-
0271handeln — die Strenge des dramatischen Ausdruckes und
0272die höchste declamatorische Ausfeilung waren es, welche er
0273fortan als allein würdiges Ziel erkannte. Durch homogene
0274Einflüsse der französischen Tragödie gehoben, hat der Ton-
0275dichter der „Iphigenie“ und „Armida“ dieses Ziel in der
0276That auch vollständiger erreicht, als irgend ein Anderer.
0277Die Aufführung des „Orpheus“ am Palmsonntag war
0278so wirksam, als die Concert-Einkleidung einer Oper nur
0279sein kann. Frau Caroline Bettelheim-Gomperz 
0280sang die Titelrolle mit kraftvoller Stimme und leidenschaft-
0281lichem Ausdruck. Das Publicum ehrte nicht nur das große
0282Talent, sondern auch die ebenso große Kunstliebe und Ge-
0283fälligkeit dieser Künstlerin durch nicht endenwollenden Ap-
0284plaus. Frau Bettelheim fand an Frau Wilt (Eurydice)
0285und Fräulein Dillner (Amor) die lobenswertheste Unter-
0286stützung. Das Ensemble klappte so vorzüglich, wie man es
0287unter Herbeck’s Direction gewohnt ist.


0288Das zweite Concert im Neuen Opernhause (am Mon-
0289tag Abend) wurde mit dem Mauren-Chor und einer von
0290Fräulein Dillner sehr beifällig gesungene Arie aus Schu-
0291bert’s
ungedruckter Oper „Fierabras“ eröffnet. Beide
0292Nummern wirken auch im Concert durch ihre blühende
0293Schönheit, während die dritte Nummer aus „Fierabras“,
0294ein großes Finale, unbedingt der Scene bedarf, um effectvoll,
0295ja auch nur verständlich zu werden. Herr Scaria hatte mit
0296der Rache-Arie des Mafferu aus dem „Unterbrochenen
0297Opferfest“ keine gute Wahl getroffen; es klingt fast komisch,
0298daß man dergleichen einst als Muster dramatischer Musik
0299verehrt hat. Herr A. Wilhelmj entzückte das Publicum
0300durch den unvergleichlichen Vortrag des Paganini’schen
0301Concertstückes in D-dur, der Arie von S. Bach und einer
0302Romanze eigener Composition. Wir können es nicht genug
0303beklagen, daß dieser Künstler in dem gegenwärtigen Tumult
0304von Concerten kein Orchester für sein zweites, bereits ange-
0305kündigtes Concert auftreiben konnte. Hoffentlich wird er
0306trotzdem keinen stummen Abschied von Wien nehmen. Zwei
0307Orchester-Productionen: die Reformations-Symphonie von
0308Mendelssohn und Schubert’s H-moll-Marsch in Liszt’s
0309Instrumentirung, wurden unter Herbeck’s Leitung mit be-
0310wunderungswürdiger Feinheit und Präcision gespielt. Man
0311sah lauter vergnügte Gesichter, daß Herbeck nach Jahren
0312wieder einmal als Symphonien-Dirigent den Tactstab
0313schwinge. Wer dachte dabei nicht dankbar an die schöne
0314Zeit der Herbeck’schen Concerte? Hoffen wir, daß der
0315vielbeschäftigte und vielgeplagte Hofopern-Director auch im
0316künftigen Jahre hinreichende Lust und Kraft erübrigen
0317werde, um uns wieder mit einem ebenso erfreulichen Oster-
0318geschenke zu überraschen!

Fußnoten
  • *)Der verdienstvolle Musik-Historiker M. Fürstenau versuchte
    in einem 1869 erschienenen Aufsatze Gluck reinzuwaschen, indem
    er angibt, daß in Gluck’s älterem Festspiel „Il Parnasso confuso“
    das Thema jener Arie, „wenn auch nur andeutungsweise“, schon
    vorkomme. Allein die blos andeutende Aehnlichkeit eines Themas
    und das Annectiren einer vollständigen Arie sind zwei verschiedene
    Dinge. Wäre Fürstenau’s Rechtfertigung stichhältig, so hätte Gluck 
    gegen die Anklage Coquiau’s und Bertoni’s wahrlich nicht geschwie-
    gen. Er liebte bekanntlich polemische Händel. Das neueste Buch
    über Gluck („Gluck et Piccini“ par G. Desnoireterres, Paris 
    1872) bestätigt es neuerdings, daß Gluck’s großes Talent kaum so
    rasch in Paris zur Geltung gelangt wäre, hätte er nicht nebenbei ein
    hübsches kleines Talent für Journal-Polemik und Reclame besessen.