Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3116. Wien, Sonntag, den 27. April 1873

[1]

Italienische Oper.

(Adelina Patti als Dinorah.)


0003Ed. H. Die jubelnden Beifallsrufe sind verklungen,
0004die duftigen Kränze und Blumensträuße verwelkt, welche die
0005Benefice-Vorstellung der Patti so fröhlich umgaukelt und zu
0006einem seltenen Feste gestaltet haben. Die Huldigungen, welche
0007der Beneficiantin mit so ungeduldigem Entzücken darge-
0008bracht wurden, daß der zweite Act der „Dinorah“ förmlich
0009in zwei Hälften getheilt war, sie bildeten beinahe ein
0010Schauspiel im Schauspiele. Es ist ein schönes Vorrecht des
0011Publicums, sich von dem Strome gemeinsamen Entzückens
0012fortreißen zu lassen; vom Kritiker verlangt man, daß er
0013gelassen vom Ufer aus beobachte und urtheile. Meinestheils
0014beneide ich denjenigen nicht, der bei einer so erstaunlichen
0015Kunstleistung, wie die Dinorah der Patti, kalt bleiben
0016oder gar mit überlegener Miene von einem „Patti-Schwin-
0017del“ faseln kann. Man braucht weder am Schwindel zu
0018leiden, noch an jugendlichem Enthusiasmus, sondern blos
0019gut musikalisch zu sein und viel gehört zu haben, um
0020Adelina Patti für eine ganz außerordentliche Erscheinung
0021und ihre Dinorah für unvergleichlich zu erklären. In der
0022That verdanke ich der Patti den eigenthümlichsten und leb-
0023haftesten Kunsteindruck in einer Oper, die mir stets unsym-
0024pathisch war. Weder die bewunderungswürdige Technik,
0025noch der Reichthum an geistreichem, elegantem Detail in
0026dieser Meyerbeer’schen Partitur konnte mich mit der krank-
0027haft raffinirten Musik und der albernen, gemüthlosen
0028Handlung versöhnen. Von dieser Ansicht kann ich auch heute
0029nicht abgehen, denn selbstverständlich kommt der Zauber
0030einer genialen Darstellung ebensowenig auf Rechnung des
0031Componisten, wie die Schuld einer geistlosen. Mag man es
0032ein Mißgeschick oder einen Fehler Meyerbeer’s nennen, daß
0033er für den Erfolg der „Dinorah“ einer ganz ausnahms-
0034weisen Persönlichkeit bedarf; eine Verkettung von Glück
0035und Verdienst bleibt es andererseits, daß sie durch eine
0036Persönlichkeit wie Adelina Patti einer ungeahnten Wirkung 
0037fähig ist. Man möchte schwören, die Partie sei Note für
0038Note eigens für die Patti geschrieben. Dies war nicht der
0039Fall; das rechte Köpfchen hat sich erst nachträglich zu die-
0040sem Kranze gefunden. Schon in der poetischen Anlage ent-
0041spricht Dinorah der Individualität der Patti. Zwar hat der
0042Librettist diese Gestalt durch deren raffinirte Ausbeutung zu
0043allen erdenklichen Theater-Effecten hart an die Caricatur
0044gedrängt, aber sie wurzelt doch ursprünglich in der Natur
0045und im Volke: eine junge Hirtin, gutmüthig, phantastisch,
0046in ausschließlichem Verkehr mit Wald und Berg, mit Blu-
0047men und Thieren. Es liegt etwas Poetisches in dieser
0048Figur, ein elementarer Zauber, der zu Tage kommt, wenn
0049eine verwandte Natur ihn weckt. Solch ein elementarischer
0050Zauber webt in der hellen, frischen Stimme der Patti, in
0051ihrer Art zu singen und zu spielen, in ihrem ganzen Wesen.
0052Sie findet instinctiv heraus, was in der Dinorah an Na-
0053turpoesie und echter Empfindung schlummert, und macht
0054uns so eine Gestalt sympathisch, welche gemeiniglich durch
0055kokette und blasirte Auffassung das Gegentheil bewirkt. Noch
0056mehr als der Dichter hat der Componist hier für die Patti 
0057vorgearbeitet. Als hätte Meyerbeer die schönsten Töne,
0058die eigenthümlichsten Klangeffecte und Modulationen
0059dieser Sängerin fortwährend vor Augen gehabt, so
0060und nicht anders componirte er seine „Dinorah“. Von
0061anmuthiger Charakteristik ist gleich ihr erstes Auftreten,
0062wie sie, ängstlich nach rechts und links spähend, ihrer Ziege
0063zuruft. Sie hat die Hirtin etwas idealisirt, deren Costüm
0064wir sorgloser und realistischer wünschten; gegen das goldgestickte
0065Atlasröckchen und die berühmten rosa Stiefletten der Murska 
0066erscheint es allerdings einfach. Alle Bewegungen der Patti 
0067sind hier von ungesuchter Grazie und Natürlichkeit; auf der
0068ganzen Rolle haftet kein Flecken von Uebertreibung, Koket-
0069terie oder Blasirtheit. Den Irrsinn der Dinorah mildert
0070sie wohlthuend zu dem Ausdruck einer träumerischen Zer-
0071streutheit, welche ebenso leicht in Fröhlichkeit als in Schwer-
0072muth überspringt. Nur momentan unterbricht ein wilder
0073Blick, ein jähes Auffahren die Harmlosigkeit dieses schwer-
0074geprüften und doch in seiner Unschuld stillvergnügten Ge-
0075müthes. Auf absonderlich tiefsinnige „Intentionen“, auf 
0076künstlich combinirte Nüancen muß man bei der Patti in
0077dieser Rolle so wenig wie in anderen ausgehen; sie erreicht
0078überhaupt sehr wenig auf dem Wege der Reflexion, ein wun-
0079derbarer Instinct ist es, der sie ohne viel Umwege das Rich-
0080tige treffen läßt. An ein Felsstück niederhockend, intonirt
0081sie die erste Nummer ihrer Rolle, das liebliche, so reizend
0082instrumentirte Schlummerlied in G-dur. Nichts Schlichteres,
0083als dieser Vortrag der Patti, aber auch nichts Entzücken-
0084deres als die Reinheit und Süßigkeit dieser ruhigen, nur
0085von leichter Empfindung geschwellten Töne. Daß es
0086doch so schwer ist, Musik zu beschreiben; so un-
0087möglich, die absolute Schönheit des Tones zu schildern!
0088Nur wer keine Ahnung hat von der Gewalt und dem Adel
0089dieser sinnlichen Schönheit in der Musik, der frage, wie man
0090selbst unbedeutende und undramatische Rollen von der Patti 
0091mit lebhaftester Freude hören könne. Man denke sich die
0092einfachste musikalische Figur, einen zerlegten Accord, eine
0093Tonleiter — sie läßt uns gleichgiltig, hören wir sie von
0094einem alltäglichen Geiger auf einem gewöhnlichen Instrument
0095gespielt. Wie klingt aber dieselbe ärmliche Notengruppe,
0096wenn ein Joachim oder Wilhelmj sie auf seinem Straduarius
0097vorträgt! Eine ungewöhnlich schöne Menschenstimme ist aber
0098noch viel herrlicher und viel individueller, als der kostbarste
0099Straduarius; sie ist nur einmal auf der Welt. Und so
0100durchströmt uns schon das einfache Thema des Schlummer-
0101liedes, aus dem Munde der Patti, mit der geheimnißvollen
0102Kraft musikalischer Naturschönheit. Unmittelbar vor ihrem
0103Eintritt in Correntin’s Hütte schließt die Patti die Imita-
0104tion der Clarinettfiguren mit einer (von Meyerbeer für sie
0105hineingeschriebenen) kurzen Cadenz, welche bis ins dreigestri-
0106chene E auffliegt und von da wie in tausend glitzernden
0107Funken zerstäubt. Es folgt das Tanzduett mit dem dudel-
0108sackblasenden Correntin. Daß die Patti dieses die höchste
0109Virtuosität erfordernde Bravourstück mit vollendeter Kunst
0110ausführt, braucht nicht erst gesagt zu werden, es ist auch
0111hier keineswegs für unsere Schätzung entscheidend. Entschei-
0112dend ist, daß die Bravourpassagen der Patti in dieser Scene
0113gar nicht wie ein Concertstück klingen, sondern nur wie die
0114natürliche improvisirte Begleitung all der Scherze, welche [2]
0115Dinorah neckend und tanzend mit dem armen Jungen ausführt.
0116Den ersten Act schließt das Glöckchenterzett, dieses feinste
0117und reizendste Musikstück der ganzen Oper. Nur derjenige
0118kennt es recht, der es von der Patti gehört hat; das lieb-
0119liche Thema mit dem entzückenden Aufjauchzen ins hohe Cis
0120und die breite, seelenvolle Cantilene am Schlusse: „Oh qual
0121piacer!“ werden ihn lange verfolgen. Der Glanzpunkt und
0122die populärste Nummer der „Dinorah“ ist bekanntlich der
0123Schattentanz im zweiten Acte. Er bildet das Paradestück
0124der berühmtesten Coloratur-Sängerinnen, aber ich glaube
0125nicht, daß — ganz abgesehen von dem graziösen Spiel und
0126dem natürlich liebenswürdigen Ausdruck der Patti — eine
0127andere Sängerin auch nur die beiden ersten Tacte des
0128Themas so zu singen vermag; nichts geschleift oder ver-
0129wischt, sondern innerhalb des schönsten Ligatos jede einzelne
0130Achtelnote wie aus Marmor gemeiselt. Der Glanz dieser
0131Bravourscene hatte das Publicum dergestalt geblendet und
0132enthusiasmirt, daß es seinen Applaus nahezu verausgabte
0133und fast unbemerkt die folgende Nummer Dinorah’s vor-
0134übergehen ließ, die in ihrer unscheinbareren Weise mir nicht
0135minder merkwürdig und eigenthümlich schien. Es ist die
0136„Legende“ von dem vergrabenen Schatze, ein einfaches
0137Strophenlied von düsterem volksthümlichen Tone, nicht un-
0138werth, von Shakespeare’s Ophelia gesungen zu werden. Die
0139Tonart ist Es-moll; erst ganz am Schlusse tritt der Es-
0140dur-Accord ein, und darüber die Singstimme mit den drei No-
0141ten es f g. Nur drei Töne, aber die schönsten, die in un-
0142serer Erinnerung haften. Hier wirkt der Gesang der Patti 
0143mit dem Zauber einer Naturgewalt; der Klang dieses voll
0144austönenden G ist eine Erscheinung, fremdartig und wunder-
0145bar, wie ein großer Stern am helllichten Firmament.
0146Dinorah hat im zweiten Act noch das Schlußterzett mit den
0147beiden Schatzgräbern; die Patti hebt es dramatisch und
0148musikalisch zu außerordentlicher Wirkung. Der dritte Act
0149ist nicht viel mehr als ein Nachspiel, insbesondere wenn (wie
0150hier und auf den meisten italienischen Bühnen) das einlei-
0151tende Lied des Jägers, die Strophen des Mähers, das vier-
0152stimmige Gebet und der Zwiegesang der Hirtenknaben weg-
0153gelassen werden. Der leidenschaftliche Vortrag des Duetts
0154mit Hoël und die schön empfundene Versinnlichung der rück
0155kehrenden Erinnerung und Erkenntniß Dinorah’s sind es
0156allein, womit Adelina Patti, nach dem Culminationspunkt
0157ihrer Rolle, dieselbe noch schließlich schmücken kann.


0158Für den Eindruck der Oper ist es von entschiedenem
0159Vortheil, daß ihre weitaus besten, ja fast alle schöneren Num-
0160mern dem Part der Dinorah angehören. Hört man letzteren
0161von der Patti, so ist man für die Schwächen und Fehler
0162der übrigen Partitur, für die unnatürliche Komik Correntin’s
0163und die ebenso geschraubte Sentimentalität Hoëls reichlich
0164entschädigt. Ja auch noch für die kokette, gespreizte Canzo-
0165netta des ersten Hirtenknaben, welche Meyerbeer nachträglich
0166in die italienische Bearbeitung der Dinorah eingelegt hat.
0167Letztere unterscheidet sich sonst von dem französischen Original
0168nur durch die (auch für deutsche Bühnen sehr empfehlenswerthe)
0169Umwandlung des gesprochenen Dialogs in Recitative und die
0170Reducirung der vier weiblichen Hirtenknaben auf zwei Stück.
0171Neben Dinorah stehen die übrigen Partien, selbst bei der besten
0172Ausführung, stark im Schatten; in so schlimmer Position
0173haben die Künstler ein vermehrtes Anrecht auf Anerkennung.
0174Wir zollen sie zuerst dem Tenoristen Marini, der als
0175Correntin ein sehr beachtenswerthes Talent für derbe Komik
0176entwickelte. Als Sänger konnte er mit dieser ihm etwas
0177tiefliegenden und nur schauspielerisch dankbaren Rolle wenig
0178Ruhm ernten. Herrn Graziani fehlt für den Hoël die
0179unentbehrliche Kraft der Stimme und die trotzige Energie
0180des Vortrages; erst in der Romanze des dritten Actes fand
0181er seinen angestammten Boden und erwies sich als Meister
0182sentimentalen Vortrages. Barbara Marchisio, welche
0183als junger Hirt viel Aehnlichkeit mit einem alten Capuziner
0184hatte, bethätigte ihre Bravour in verschiedenen halsbrecheri-
0185schen Passagen und Sprüngen. Im einfachen, nichtcolorirten
0186Gesange treten die unholden Eigenschaften ihrer Stimme
0187desto unverhüllter hervor. Das Orchester hielt sich bis auf
0188einige kleine Verstöße sehr tapfer unter Arditi’s Leitung;
0189auch unterlief nichts Störendes, weder in den Chören, noch
0190in der schwierigen Mise-en-scène der „Dinorah“.


0191Mit „Dinorah“, welche noch ein- bis zweimal wieder-
0192holt werden dürfte, schließt die Reihe von acht Opern,
0193welche Adelina Patti uns in ihrem diesjährigen Gastspiele
0194vorgeführt hat. Es waren drei Verdi’sche („Traviata“, 
0195Trovatore“, „Rigoletto“), zwei Bellini’sche („Sonnam-
0196bula“, „Puritani“), eine Donizetti’sche („Lucia“), end-
0197lich eine deutsche und eine französische Oper („Martha“,
0198Dinorah“). Blos die beiden letztgenannten gehören der
0199komischen Oper an, und auch das nur im weitesten Sinne,
0200der italienischen Opera semiseria entsprechend. Die eigentliche
0201Opera buffa war diesmal — wol aus Mangel an einem Baß-
0202Buffo — ganz unvertreten, und wir mußten darauf verzichten, die
0203Patti in einer jener durchaus heiteren Rollen zu sehen, welche,
0204wie Rosina, Adina, Zerlina, Norina, uns als die vollkom-
0205menste Verkörperung ihrer künstlerischen Individualität er-
0206scheinen. Von ihren diesjährigen Leistungen möchten wir
0207nach der Dinorah die Traviata und Gilda (in „Rigoletto“)
0208als die vollendetsten bezeichnen, das heißt als die wärmsten
0209und individuellsten, denn formell vollendet sind ihre
0210Rollen alle. Martha bietet ihrer Kunst eine verhältniß-
0211mäßig bescheidene Aufgabe; Leonore im „Trovatore“, eine
0212der allerglänzendsten Rollen der Patti, ist doch zugleich die
0213einzige, von der wir eine Ueberanstrengung ihres Organes
0214fürchten. In der „Sonnambula“, Elvira und Lucia gab
0215uns die Patti Proben einer unübertroffenen Gesangskunst;
0216dramatische Aufgaben finden sich hier nur in geringem Grade,
0217und es wollte mir scheinen, als vermöchte Adelina Patti 
0218diesen Coloratur-Partien der Vor-Verdi’schen Periode auch
0219nicht mehr ganz das ehemalige Interesse abzugewinnen, seit-
0220dem sie mit Vorliebe sich dem dramatischeren Styl Meyer-
0221beer’s, Gounod’s und Verdi’s zugewendet. Mag nun per-
0222sönliche Vorliebe eines Jeden dieser oder jener Rolle die
0223Palme zuerkennen, für uns war jede Leistung der Patti ein
0224Fest; unterliegt es uns doch keinem Zweifel, daß die Natur
0225nur in seltener Feiertagsstimmung ein musikalisches Phäno-
0226men wie diese kleine Italienerin hervorbringt. Adelina 
0227Patti darf wol ohne Widerrede die erste unter den lebenden
0228Gesangskünstlerinnen heißen; fast will es scheinen, als bleibe
0229sie zugleich die letzte große Sängerin, die, in der strengen
0230Schule der Rossini’schen Virtuosität und des Bellini’schen
0231bel canto aufgewachsen, also ausgerüstet mit den höchsten
0232Errungenschaften italienischer Gesangskunst, sich modernen
0233dramatischen Aufgaben zugewendet hat.