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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3196. Wien, Donnerstag, den 17. Juli 1873

[1]

Hamlet.“

Große Oper in fünf Acten von Ambroise Thomas. Erste Aufführung im k. k. Hofoperntheater am 14. Juli 1873.


0004Ed. H. Es war im Frühjahre 1867, als ich in Paris 
0005die Oper „Mignon“ von Ambroise Thomas zum erstenmale
0006hörte. Die unübertrefflich feine und lebenswahre Darstel-
0007lung des liebenswürdigen Werkes in der Opéra comique
0008hatte mich hoch erfreut, so daß ich mir nicht versagen
0009konnte, am nächsten Morgen dem Componisten, meinem Col-
0010legen in der musikalischen Jury, dafür zu danken. Ambroise
0011Thomas ist ein Mann von jener seltenen, wahrhaften Be-
0012scheidenheit, welche vor jeder lobenden Berührung schüchtern
0013zurückweicht; nicht einmal der unerhörte Erfolg seiner
0014Mignon“ — sie ist im Laufe eines Jahres hundertfünfzig-
0015mal gespielt worden — vermochte ihn eitel zu machen. Er
0016lehnte mein Lob mit dem ihm eigenen schwermüthigen Lächeln
0017ab; als fühlte er aber dennoch eine kleine Verpflichtung, aus
0018seinem Schweigen herauszugehen, flüsterte er nach einer
0019Pause: „Ich habe ein gediegeneres, ernsteres Werk im Pulte
0020liegen, das Ihnen vielleicht Freude machen wird und dem
0021ich mehrere Jahre der hingebendsten Arbeit gewidmet.“ —
0022„Und was ist der Gegenstand dieser Oper?“ — „Hamlet!“
0023Unwillkürlich schreckte ich zusammen; das eine Wort
0024Hamlet“ beleuchtete mir plötzlich wie ein greller Blitz den
0025gefährlichen Abgrund, an welchem der treffliche Mann sich
0026nunmehr angebaut. Zwei Motive mußten sofort meine Be-
0027sorgniß für diese Oper erwecken: zunächst die Natur des
0028Sujets überhaupt, sodann dessen Verhältniß zu der künst-
0029lerischen Individualität von Ambroise Thomas.


0030Shakspeare’s Hamlet als Operntext! Ein singender
0031Hamlet! „Sein oder Nichtsein“ in Melodie gesetzt! Der
0032Widerspruch liegt so handgreiflich auf, daß es fast eine Ba-
0033nalität ist, darüber zu reden. Und doch muß auf diesen
0034Punkt, auf die unheilbare kranke Wurzel des Ganzen zuerst
0035und nachdrücklich hingedeutet werden. Dasjenige, worin die
0036Macht und der Reiz des Shakspeare’schen Hamlet vor Allem
0037ruht: die unerschöpfliche Gedankentiefe, die stahlhelle und
0038schneidige Dialektik, das feinste Nervengeflecht des mensch
0039lichen Denkens und Wollens — es ist der Musik unerreich-
0040bar. Unzugänglich ist ihr ferner der Charakter Hamlet’s,
0041alles das, was ihn erst zum Hamlet macht: der in sich selbst
0042ausbrennende Gedanke, der es nicht zur That bringen kann;
0043das Zaudern und Schwanken, dessen Nothwendigkeit trotz
0044alles Drängens zur Rache eben das tragische Element des
0045Charakters bildet. Endlich gar Hamlet’s verstellter Wahnsinn,
0046den allmälig der wirkliche so grauenhaft zu überschatten be-
0047ginnt! Die Musik besitzt für die Schilderung des wirklichen
0048Wahnsinns nur ein sehr beschränktes, mehr andeutendes,
0049„anspielendes“ Ausdrucksvermögen; den geheuchelten Wahn-
0050sinn zu schildern und vollends die beiden unterscheidend aus-
0051einanderzuhalten, vermag die Tonkunst ganz und gar nicht.
0052So muß denn der Componist auf all die herrlichen Scenen
0053verzichten, in welchen Hamlet (gegen die Schauspieler, gegen
0054Güldenstern und Rosenkranz u. s. w.) die Perlen seines tiefen
0055und glänzenden Geistes aufwirft; auf all die Stellen, wo
0056er die Spitze des Gedankens durchbohrend in das eigene
0057Innere richtet, bis sein Blick und der des Zuschauers sich
0058in unheimliche Tiefe verliert. Was bleibt übrig? Das rohe
0059Gerüst der Handlung mit den Figuren des Königs, der -
0060nigin, des Polonius und Laertes als singenden Ausfüllrollen.
0061Die einzige Ophelia bietet dem Musiker eine sympathische
0062und dankbare Aufgabe; sie allein ist der Punkt, wo die
0063Musik in diese Tragödie einströmen kann. Ohne Zweifel hat
0064diese rührende Mädchengestalt unseren Tondichter zur Com-
0065position des „Hamlet“, also zu einem Wagstück verleitet, das
0066trotz der Ophelia nimmermehr glücken konnte.


0067Erscheint Shakspeare’s „Hamlet“ von vornherein als
0068eine verfehlte Wahl für jeden Operncomponisten, so war er
0069es außerdem noch ganz speciell für die Individualität unseres
0070Componisten. Ambroise Thomas ist eine zartbesaitete musi-
0071kalische Natur; leichte, heitere Stoffe behandelt er sehr an-
0072muthig, nicht selten geistreich und glänzend, auf einem mitt-
0073leren Niveau der Empfindung glückt ihm auch das Zärtliche
0074und Rührende vortrefflich. Aber für den verheerenden Sturm
0075der Leidenschaft, für den tragischen Donner fehlen ihm die
0076Töne. Jede Seite seiner „Hamlet“-Partitur beweist, daß ihm
0077die Natur jene nachhaltige Kraft und Größe des Ausdrucks
0078versagt hat, welche für die Tragödie unentbehrlich sind. Wo
0079er auf seinem natürlichen Grund und Boden arbeitet (der 
0080Opéra comique im weiteren Sinne), da bringt er es zu
0081liebenswürdigen, mitunter reizenden Schöpfungen, und so
0082ungleich selbst seine besten Opern in ihren einzelnen Theilen
0083sind, es werden „Le Caïd“, „Le songe d’une nuit d’été“,
0084Raymond“, „Le Roman d’Elvire“ und „Mignon“ jederzeit
0085zu dem Gelungensten gezählt werden, was die französische
0086Opéra comique seit Auber hervorgebracht hat. Der graciöse,
0087geistreich pointirte, von ernster Empfindung nur leicht ge-
0088streifte Conversationston ist und bleibt das eigentliche Gebiet
0089dieses liebenswürdigen Talentes, das in der That auf
0090demselben alle seine Erfolge seit 35 Jahren errang.
0091Zwei Versuche in der „Großen Oper“ („Le comte de
0092Carmagnola“ 1841 und „Le Guerillero“ 1842) gingen
0093spurlos vorüber; beide sind überdies auch ihrem Stoff und
0094Musikstyl nach Conversationsstücke, welche mit gesprochenem
0095Dialog ohneweiters in der Opéra comique figuriren könnten.


0096Unbestritten ist der große Erfolg des „Hamlet“ in
0097Paris, wo bereits hundert Wiederholungen davon stattge-
0098funden haben. Allein weder dieser Erfolg, noch die vielen
0099Detailschönheiten der Oper können unsere Ueberzeugung er-
0100schüttern, daß Ambroise Thomas nur zu seinem Nachtheil
0101das Feld der Conversations-Oper verlassen und mit „Ham-
0102let“ einen Rückschritt hinter „Mignon“ gemacht habe. Es
0103ist nicht das einzige Beispiel in der Geschichte der Oper,
0104daß ein anmuthiges Talent durch unnatürliche Streckung
0105den Anschein verdoppelter Größe erreicht, während es sich
0106dadurch thatsächlich im Kerne abschwächt und verwinzigt.


0107Der erste Act bringt nach einer nicht ungefälligen, aber
0108wenig originellen Festmusik und einer unbedeutenden Cava-
0109tine des Laertes (im ritterlichen Tone Boieldieu’s) ein Lie-
0110besduett zwischen Hamlet und Ophelia: „Zweifle an der
0111Sonne Klarheit“, das durch sein schönes Ebenmaß, wie durch
0112die warm empfundene Melodie zu den besten Nummern der
0113Oper gehört. Die berühmte „Scène de l’Esplanade“, von
0114einer viel zu langen Orchester-Phantasie eingeleitet, trifft in
0115der Beschwörung des Geistes durch Hamlet (Fis-moll) recht
0116glücklich die feierlich ängstliche Stimmung dieses Momentes.
0117Auch die breit hinströmende Cantilene Hamlet’s nach dem
0118Verschwinden des Geistes („Ombre chère!“) ist sangbar und
0119effectvoll, paßt aber doch mehr für einen sehnsüchtig Lieben-
0120den, als für den von so grauenhafter Begegnung erschütter[2]
0121ten, Rache schwörenden Hamlet. Dieselbe Bemerkung gilt
0122noch von manchem anderen Stück dieser Oper, das musika-
0123lisch anmuthend und empfindungsvoll in einem kleineren
0124Rahmen von bester Wirkung wäre, aber in einer Tra-
0125gödie „Hamlet“ schlechterdings nicht stylgemäß klingt.
0126Der zweite Act beginnt mit einer Arie Ophelia’s, in welche
0127zwei volksliedartige Strophen nordischer Färbung gut ver-
0128webt sind. Unbedeutend sind die Arie der Königin, die Scene
0129zwischen Hamlet und dem Königspaar, Hamlet’s Trinklied
0130und der Chor der Schauspieler, dessen lahmer Humor sehr
0131unvortheilhaft hinter dem lebensfrischen Comödianten-Chor in
0132Mignon“ zurücksteht. Wie wichtig ist die Umgebung, wie
0133entscheidend der richtige Platz für ein Musikstück! Es folgt
0134die große Schauspielscene im Prunksaal, deren Composition
0135von großer Gewandtheit und Bühnenkenntniß zeugt. Das
0136sich anschließende Finale hingegen (das einzige große Finale
0137im „Hamlet“) ist eine sehr schwache Arbeit von musivischem
0138Bau und betrübend lärmender Instrumentirung. Den dritten
0139Act eröffnet Hamlet’s Monolog „Sein oder Nichtsein“; es
0140folgt die Gebetscene des Königs mit durchaus schwächlich
0141dahinsickernder Musik. In dem Terzett zwischen Hamlet,
0142Ophelia und der Königin finden sich einige glückliche Mo-
0143tive, so die Fis-moll-Stelle „Geh’ in ein Kloster“, der wir
0144freilich noch lieber mit einem anderen Text an anderer
0145Stelle begegnen würden. Der Act schließt mit einem sehr
0146langen Duett Hamlet’s und der Königin, das, anfangs er-
0147müdend, sich schließlich (mit dem Erscheinen des Geistes)
0148über das Niveau der übrigen Hamlet-Scenen dieser Oper er-
0149hebt. Es ist Stimmung und dramatischer Zug darin. Der
0150effectvollste, poetischeste Act ist der vierte; er hat fast
0151überall den Erfolg der Oper entschieden. Landleute
0152feiern ein Frühlingsfest mit Gesang und Tanz; die
0153theilweise recht hübsche, nur allzu lange Balletmusik
0154ist zum Vortheile des Ganzen in Wien energisch gekürzt.
0155Die wahnsinnige Orphelia erscheint blumengeschmückt und
0156singt, an dem Feste theilnehmend, eine schwermüthige schwe-
0157dische Ballade, die in einen Schluß von glänzendem Passagen-
0158werk ausgeht. Die Verbindung des Gesanges der Ophelia 
0159mit dem Tanz und der Pantomime ist in ihrer Art neu
0160und von guter Wirkung. Das Ballet bildet gleichsam den
0161stummen Chor zu Ophelia’s Arie. Die Landleute gehen ab: 
0162Ophelia sucht Blumen im Schilf und versinkt in den See.
0163Wir haben den Tod Ophelia’s, den bei Shakspeare die
0164Königin so rührend erzählt, mit lebhaften Augen vor uns:
0165„Es neigt ein Weidenbaum sich über’n Bach und zeigt im
0166klaren Strom sein grünes Laub, mit welchem sie phantastisch
0167Kränze wand von Hahnfuß, Nesseln, Maaslieb, Kukuks-
0168blumen. Dort, als sie aufklomm, um ihr Laubgewinde an
0169den gesenkten Aesten aufzuhängen, zerbrach ein falscher
0170Zweig, und niederfielen die rankenden Trophäen und sie
0171selbst ins weinende Gewässer. Ihre Kleider verbreiteten sich
0172weit und trugen sie sirenengleich ein Weilchen noch empor,
0173indeß sie Stellen alter Weisen sang, als ob sie nicht die
0174eigene Noth begriffe, wie ein Geschöpf geboren und begabt
0175für dieses Element. Doch lange währt es nicht, bis ihre
0176Kleider, die sich schwergetrunken, das arme Kind von ihren
0177Melodien herunterzogen in den schlammigen Tod.“ Die
0178rührende Gewalt dieser einfachen Worte wird kaum eine
0179Musik jemals übertreffen. Doch gestehen wir gerne, daß
0180die Scene bei Ambroise Thomas, verstärkt durch den Zauber
0181der schönen, stimmungsvollen Landschaft, einen poetischen
0182Eindruck macht. Wären uns nicht die gesungenen Wahn-
0183sinnsscenen so schrecklich verleidet, wir würden noch lebhafter
0184in den Beifall des Publicums einstimmen. Der fünfte Act des
0185Originals (hier mit Hilfe des Zwischenvorhangs dem vier-
0186ten zugeschlagen) ist geringfügig: er bringt das Duett der
0187beiden Todtengräber, eine gekünstelte Composition von sehr
0188zweifelhaftem Humor, und das Leichenbegängniß Ophelia’s,
0189an deren Sarge Hamlet stirbt, nachdem er vorher schnell
0190den König erstochen.


0191Aus dem Gesagten ergibt sich von selbst, wie schwan-
0192kend und unbefriedigend der Totaleindruck der neuen Oper
0193ist. Wir sehen hier das feine, leichtflüssige Talent und die
0194meisterhaft geschickte Bühnen- und Orchestertechnik des Com-
0195ponisten in ungleichem Kampfe mit einem schweren, musik-
0196widrigen Stoffe, welcher überdies durch die Rohheit der
0197Librettomacher den Beigeschmack einer Shakspeare-Travestie
0198nicht ganz loswerden kann. Einzelne Stellen interessiren
0199und erfreuen uns; im Ganzen fehlt aber der Musik die
0200nachhaltige schöpferische Kraft, die Energie des Ausdruckes,
0201der dramatische Nerv. An der künstlerischen Redlichkeit
0202von Ambroise Thomas ist nicht zu zweifeln, und jene Kri
0203tiker, welche ihm vorwerfen, er wolle um jeden Preis nur
0204Effect auf das große Publicum machen, sind im Irrthum.
0205Ambroise Thomas, eine ehrliche Künstlernatur, wie nur
0206irgend eine, will überall das Wahre geben und glaubt es
0207zu geben. Wer wüßte es nicht, daß das Wahre wie das
0208Schöne in der Kunst ein Relatives ist, das jede Nation
0209durch ein anders gefärbtes Glas erblickt? Wo Ambroise
0210Thomas irregeht, da tragen nicht Gewissenlosigkeit und Ge-
0211fallsucht die Schuld, sondern die theatralischen Anschauun-
0212gen seiner Nation und die Grenzen seines Talentes.


0213Wir haben schließlich noch der Aufführung zu gedenken,
0214welche zu den besten des Hofoperntheaters gehört. Die
0215Rolle des Hamlet hat der Componist für Bariton geschrie-
0216ben, zunächst, weil die dunkle Klangfarbe ihm geeigneter für
0217den Charakter Hamlet’s erschien, als der weichere, hellere
0218Tenor; sodann, weil er sich von der Prätension und Un-
0219verläßlichkeit der ersten Tenoristen einmal emancipiren
0220wollte. Der Gedanke an Faure, den gefeierten Bariton
0221der Großen Oper in Paris, mochte den letzten Zweifel be-
0222heben; in ihm hatte Ambroise Thomas das Ideal seines
0223Hamlet“ gefunden. Die Leistung Faure’s als Hamlet gilt
0224für so vollendet und einzig in ihrer Art, wie jene der
0225Nielssen als Ophelia. Faure’s ganze Erscheinung, seine
0226schlanke Gestalt, sein edles, etwas längliches Gesicht mit den
0227sanften, tiefblauen Augen kommt dieser Rolle unvergleichlich
0228entgegen. Etwas Leidsames, Träumerisches liegt in dem
0229weichen Klang seiner Stimme, in seinem ganzen Wesen.
0230Spiel und Vortrag sind bei Faure ausdrucksvoll und sinnig,
0231von überlegener Bildung gemeißelt, allerdings auch schon
0232etwas „von des Gedankens Blässe angekränkelt“. Für diesen
0233Sänger konnte es keine sympathischere Rolle geben, als
0234Hamlet. In Wien singt Beck den Hamlet mit außerordent-
0235lichem Beifall. Seine effectvolle, in Spiel und Gesang
0236durchdachte Leistung verdient um so größere Anerkennung,
0237als Beck’s ganze Persönlichkeit eigentlich gegen Charaktere
0238wie Hamlet reagirt. Seine Erscheinung, der eherne Klang
0239seiner Stimme athmen durchaus männliche Energie und
0240ungestümen Lebensdrang. In Beck ist jeder Muskel von
0241Thatkraft geschwellt; was er anfaßt, wird markig be-
0242stimmt, heldenhaft, alles Grübelnde, Verschwommene liegt
0243ihm fern. Zum Hamlet konnte Herr Beck somit nur mit [3]
0244Hilfe jenes rastlosen Studiums und jener unbestechlichen
0245künstlerischen Gewissenhaftigkeit gelangen, die wir an diesem
0246Künstler so hochschätzen. Er dürfte in Deutschland keinen
0247Rivalen finden im Vortrag der leidenschaftlichen, erregten
0248Scenen des Hamlet, namentlich jener mit dem Geiste (am
0249Schlusse des ersten und des dritten Actes) und der Schau-
0250spielscene sammt Finale im zweiten Acte. Mit diesen Stellen,
0251sowie mit dem Vortrage des Trinkliedes enthusiasmirte Herr
0252Beck das Publicum, das nicht müde wurde, ihn nach jedem
0253Actschlusse zu rufen. Die dankbarste Rolle in der Oper
0254(Ophelia) war Fräulein Murska zugefallen, welche in
0255Petersburg und London bereits große Erfolge damit errun-
0256gen. Wenn man Christiane Nielssen nachrühmt, daß sie die
0257beiden entscheidenden Elemente dieser Partie: die vollendetste
0258Virtuosität im Coloraturgesang und den rührendsten Aus-
0259druck in der einfachen Cantilene gleichmäßig beherrsche und
0260der ganzen Gestalt den unbeschreiblichen Duft Shakspeare’-
0261scher Poesie einzuhauchen wisse, so muß sich Fräulein
0262Murska mit der ersten Hälfte dieses Lobes begnügen.
0263Ueberall, wo glänzende Coloratur und leicht ansprechende
0264Höhe entscheidend sind, siegte Fräulein Murska vollständig. An
0265dramatischem Geist, seelenvollem Vortrag und überzeugender
0266Wahrheit des Spieles hat es ihr bekanntlich stets gemangelt.
0267Eine Ophelia, wie Dichter und Tonsetzer sich sie gedacht,
0268war das nicht, wol aber eine brillante Coloratur-Sängerin,
0269welche den reichlichen Beifall nach der großen Arie im vierten
0270Acte vollauf verdiente. Von den übrigen Mitwirkenden hatten
0271nur Frau Materna (Königin) und Herr Rokitansky 
0272(König) Gelegenheit, sich vortheilhaft bemerkbar zu machen.
0273Auf das anerkennendste ist jedoch hervorzuheben, daß selbst
0274die kleineren und kleinsten Partien vortrefflich besetzt waren,
0275und zwar mit den Herren Draxler, Mayerhofer,
0276Adams, Pirk, Hablawetz, Neumann und Lay.
0277Vorzüglich war das Zusammenwirken von Chor und Or-
0278chester unter Herrn Dessoff’s Leitung, von großem Effect
0279die neuen Decorationen der Herren Brioschi, Burg-
0280hard
und Kautzky. Auf die geschickte Scenirung und
0281glänzende Ausstattung der Novität hat der den Director
0282seit mehreren Monaten vertretende Ober-Inspector Herr
0283Richard Lewy die rühmlichste Sorgfalt verwendet.