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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3345. Wien, Mittwoch, den 17. December 1873

[1]

Musik.

(Concert des Männergesang-Vereins. — Quartett. — Concerte von L. Breitner und Frau Essipoff. — „Fra Diavolo“.)


0004Ed. H. Der Wiener Männergesang-Verein 
0005erschien in seinem ersten diesjährigen Concert in großer
0006Toilette: mit Orgel- und Orchester-Begleitung und zwei
0007Hofopernsängerinnen als Solisten. Sehr interessant war
0008uns die selten gehörte Ouvertüre zu „Peter Schmoll“
0009von C. M. Weber. Der Componist schrieb diese zwei-
0010actige komische Oper als sechzehnjähriger Jüngling in Salz-
0011burg, zur besonderen Zufriedenheit Michael Haydn’s, seines
0012alten Lehrers daselbst. Das Stück, nach einem verschollenen
0013Cramer’schen Roman bearbeitet, spielt zur Zeit der französi-
0014schen Revolution, gegen welche gleich in dem ersten Terzett:
0015„Das sind die schönen Früchte der Revolution“ Opposition
0016gemacht wird. Der Held, Peter Schmoll, der in der That
0017mit aller Welt schmollt, ist ein hypochondrischer Menschen-
0018feind und wird schließlich durch allerlei seltsame Mittel,
0019wozu insbesondere Kinderspiele gehören, gezähmt und ge-
0020glättet. Dieser bürgerliche Timon von Athen führt sich mit
0021der Arie ein: „Spiele, alter Esel du, immerhin die blinde
0022Kuh!“ So kleiner, spießbürgerlicher Komik gegenüber muß
0023Weber’s Ouvertüre auffallend groß und ernsthaft erscheinen.
0024Das einleitende Maëstoso, noch mehr das später auftau-
0025chende Largo lassen auf einen bedeutenden Stoff schließen,
0026desgleichen die reiche Instrumentirung und der Umfang
0027dieser Ouvertüre, welche 252 Tacte zählt, also mehr als
0028die Ouvertüren zu „Oberon“ und „Euryanthe“. Sie zeigt
0029schon deutlich manchen liebenswürdig charakteristischen Zug
0030Weber’s, sowie dessen fortan festgehaltene Methode, die
0031Ouvertüren aus den Themen der Oper selbst zu construiren,
0032eine Methode, welche bei „Peter Schmoll“ allerdings noch
0033die Mosaik nicht zu verbergen versteht, während die Ouvertüren
0034zu „Oberon“ und „Freischütz“ wie aus Einem Gusse hinströmen. 
0035In der „Schmoll“-Ouvertüre kämpft Weber’s unvergleichliches
0036Talent noch sichtlich theils mit veralteten Formen und For-
0037meln, theils mit jener Unersättlichkeit der Jugend, welche
0038Alles in Einem Athem heraussingen möchte, was ihr im
0039Kopf und auf dem Herzen liegt. Weber erkannte bald, daß
0040die Ouvertüre das Niveau seines Singspiels hoch überrage,
0041und rettete das ihm werthe Musikstück durch eine neue Um-
0042arbeitung, welche 1807 selbstständig als „Ouvertüre in Es“
0043(mit der Dedication an König Jérôme) erschien.


0044Es folgte als zweite Concertnummer Schubert’s 
0045Lied „Die Allmacht“, für Männerchor mit Orchester- und
0046Orgelbegleitung arrangirt von Liszt. Bekanntlich ist diese
0047Composition von Schubert blos für eine Sopranstimme mit
0048Clavierbegleitung gesetzt. Aber das triumphirende Pathos
0049dieser Melodie, der großartige Wurf der Harmonien führt
0050unwillkürlich auf die Idee einer vollstimmigen Ausführung;
0051ja bei den Worten: „Du hörst sie im brausenden Sturm, in
0052des Waldstroms laut aufrauschendem Ruf“ glaubt man
0053förmlich majestätischen Paukenwirbel zu hören und das Erz
0054der Posaunen. Unanfechtbar im Princip, ist Liszt’s Bear-
0055beitung unübertrefflich in der Ausführung. Bei aller Wucht
0056der Tonmittel wird die Instrumentirung nirgends banal
0057oder lärmsüchtig, sie wirkt echt musikalisch und mit unwider-
0058stehlicher Gewalt. Liszt erscheint hier im vollen Glanze
0059seiner Kunst — wie immer, wenn Schubert die Ideen
0060dazu hergibt. Auch für das darauffolgende Duett aus „Beatrice
0061und Benedict“ von Berlioz verdient Herr Weinwurm,
0062als Dirigent des Vereins, ausdrücklichen Dank; es ist das erste
0063Stück, das aus dieser Oper hier zur Aufführung kommt.
0064Berlioz schrieb diese zweiactige komische Oper 1862 für
0065Baden-Baden auf Ersuchen des Pächters Benazet, der
0066wenigstens von seinem großen Spielgewinn ein gutes Theil
0067für künstlerische Zwecke verwendete und in der Biographie
0068Berlioz’ eine sehr rühmliche Rolle spielt. Das Textbuch
0069hält sich ziemlich getreu an Shakspeare’s „Viel Lärmen um
0070Nichts“, nur die komische Episode mit dem Capellmeister hat 
0071der Componist hinzugethan. Zum erstenmal war hier Berlioz 
0072als Opern-Componist relativ glücklich. Nach dem jähen, un-
0073verblümten Fiasco seines „Benvenuto Cellini“ und dem
0074allmäligen, verschämten seiner „Trojaner“ erlebte doch
0075Beatrice und Benedict“ ein freundlicheres Los; die Oper
0076wurde in Baden-Baden und Weimar wiederholt mit Erfolg
0077gegeben. Sie ist von sehr bescheidenem Umfang, leicht zu be-
0078setzen und zu sceniren; vielleicht nimmt unsere Komische
0079Oper einmal Notiz davon. Der Charakter des Zärtlichen,
0080Idyllischen, welcher die ganze Oper beherrscht, kommt viel-
0081leicht am reinsten in dem Duett zwischen Hero und Ursula 
0082zum Vorschein, welches Frau Ehnn und Fräulein Gin-
0083dele
im Concerte des Männergesang-Vereines so beifällig
0084sangen. Die eigenthümliche Herbheit und Blässe der
0085Berlioz’schen Vocal-Melodie verleugnet sich auch hier nicht,
0086aber sie übt durch ihre Innigkeit und Keuschheit einen un-
0087leugbaren Reiz. „Sie haben gewiß dieses Duett bei Voll-
0088mondschein in einer romantischen Gegend componirt?“ inter-
0089pellirte der Großherzog von Weimar den Componisten.
0090„Monseigneur,“ erwiderte dieser, „das ist einer jener Natur-
0091eindrücke, welche wir Künstler in Vorrath sammeln und
0092welche gelegentlich aus unserer Seele wieder ausströmen,
0093gleichviel wo. Ich componirte dieses Duett eines Tages in
0094der Akademie der Wissenschaften, während ein Gelehrter
0095seine Rede hielt.“


0096In Schubert’sStändchen“ („Zögernd leise“) be-
0097gleitete diesmal der Männerchor mit schönster Wirkung das
0098Altsolo, welches von Fräulein Gindele so glücklich aus-
0099geführt wurde, daß die Nummer nach mehrmaligem Hervor-
0100ruf der Sängerin zur Wiederholung gelangte. Eine Novität
0101vom Chormeister E. Kremser, „Spartacus“, für Män-
0102nerchor und Orchester, fand lebhaften Beifall. Dieser Com-
0103position ist eine effectvolle Technik sowol in der Behandlung
0104der Chorstimmen als des Orchesters nachzurühmen, des-
0105gleichen die ausdrucksvolle Haltung und geistreiche Harmoni-
0106sirung der Introduction. Leider fällt der Componist bei der [2]
0107dritten Strophe aus dem richtigen Tone und läßt die
0108empörten Sklaven ihre Drohung: „Zerfallen muß das
0109Pantheon!“ auf eine behagliche Liedertafel-Melodie singen.
0110Das Mode gewordene Componiren dieser und ähnlicher Histo-
0111rienbilder von Hermann Lingg scheint uns überhaupt ein
0112undankbares, mißverständliches Unternehmen; es werden
0113doch nur höchstens erstickte Opernscenen daraus. Hierauf
0114sang Frau Ehnn mit leidenschaftlichem, fast zu gewaltsa-
0115mem Ausdrucke Schubert’sSuleika“ und „Du liebst
0116mich nicht“. — Lieder, die sich allerdings in bedenklicher
0117Nähe des Opernstyles bewegen. Außerordentlichen Beifall
0118fand wie immer Herbeck’s charakteristischer, lebensfrischer
0119Landsknecht-Chor“; das Publicum applaudirte nicht erst
0120am Schlusse, sondern nach jeder Strophe. Die beiden Chor-
0121meister des Vereins, Weinwurm und Kremser, theil-
0122ten sich erfolgreich in die Direction des reichhaltigen und
0123gutbesuchten Concertes.


0124Die Quartett-Gesellschaft J. Hellmesberger’s 
0125producirte zum erstenmale ein Streichquartett von Johannes
0126Brahms (C-moll, Op. 51 Nr. 1). Dasselbe ist mit der
0127gleichzeitig erschienenen Nr. 2 in A-moll die erste Publication
0128dieses Tondichters auf dem Gebiete des Streichquartetts.
0129Ebenso überlegt als überlegen, geht Brahms mit einer heut-
0130zutage gar seltenen Strenge und Selbstkritik an jede neue
0131Kunstgattung, tritt niemals mit Halbfertigem oder Halb-
0132gelungenem auf. Trotz seiner großen Erfolge in der Kam-
0133mer- und Orchestermusik hielt er bis heute mit dem Streich-
0134quartett und der Symphonie zurück. Hoffentlich bringt uns
0135das Jahr 1874 Brahms’ erste Symphonie — möge sie
0136ihm so erfreulich glücken, wie das erste Streichquartett in
0137C-moll! Das ist ein gedankenreiches und doch klares, ein
0138geistvolles und doch nicht überspanntes Werk. Der erste Satz,
0139den wir zuhöchst stellen, führt ein prachtvoll leidenschaftliches
0140Thema ganz meisterhaft durch; einem sinnenden, an Beet-
0141hoven’s letzten Quartettstyl erinnernden Adagio in As-dur
0142folgt ein geistvolles F-moll-Allegretto mit einem reizend
0143melodiösen Trio in F-dur. Das lebhaft dahinstürmende 
0144Finale (C-moll) steht an Originalität der Erfindung und an
0145unmittelbarer Wirkung hinter dem früheren etwas zurück;
0146das Ungenügende jedes Quartettspieles bei anhaltender An-
0147strengung in leidenschaftlichen Forti-Passagen schädigt auch
0148dieses Stück, das uns eine doppelte Besetzung und Contra-
0149bässe hinzuwünschen läßt. Das Brahms’sche C-moll-Quar-
0150tett wird mit dem (mindestens ebenso schönen) in
0151A-moll bald zu den unentbehrlichen Repertoirestücken der
0152Quartett-Vereine gehören. Aufs erstemal sind sie freilich
0153nicht leicht zu fassen, und es ist schade, daß das Publicum
0154solche Stücke nicht gleich zum zweitenmale hören kann. Beide
0155Quartette sind dem Freunde des Componisten, Professor
0156Billroth in Wien, gewidmet, in dessen Hause sie vor einem
0157intimen Kreise zum erstenmale gespielt wurden. Brahms 
0158zu loben, das ist mir in meinem Berufe häufig vergönnt,
0159aber die Gelegenheit, von Billroth zu sprechen, könnte mir
0160nicht leicht ein zweitesmal wiederkommen. Darum will ich
0161schnell dem Leser im Vertrauen mittheilen, daß unser be-
0162rühmtester Chirurg zugleich ein ganz exquisiter Musiker und
0163Musikkenner ist. Fast so geschickt wie mit Messer und
0164Scalpell weiß er mit der Geige und dem Clavier zu han-
0165tieren, und die musikalischen Operationen Billroth’s, denen
0166wir ab und zu beiwohnen, gehören nicht zu seinen unrühm-
0167lichsten, jedenfalls zu den angenehmsten. Die gerühmte
0168sichere Hand Professor Billroth’s bewährt sich da ganz aus-
0169nehmend in der Behandlung der schwierigsten „interessanten
0170Fälle“ von Schumann und Brahms. Obgleich an solchen
0171Abenden keinerlei Schmerzgefühl aufkommen kann, pflegt der
0172Professor doch ganz zum Ueberfluß seine Zuhörer noch einer
0173leichten Rheinwein-Narkose zu unterziehen.


0174Von Virtuosen hörten wir in den letzten Tagen Frau
0175Annette Essipoff und Herrn Ludovico Breitner. Frau
0176Essipoff gab ihr drittes Concert mit dem gewöhnlichen glän-
0177zenden Erfolg, welcher sie hoffentlich noch zu einem „Ab-
0178schiedsconcert“ bewegen wird. Herrn Breitner’s Concert
0179fehlte es gleichfalls weder an zahlreichem Besuche, noch an
0180lebhaftem Applaus. Breitner besitzt einen wunderschönen 
0181Anschlag und eine ungewöhnliche Bravour; die Zeit wird
0182wol hinzuthun, was dem feurigen jungen Virtuosen noch
0183fehlt: Ruhe und Mäßigung. Fräulein Emilia Tagliana 
0184unterstützte ihren ehemaligen Mitschüler aus dem Mailänder
0185Conservatorium durch den Vortrag zweier italienischer Ge-
0186sangstücke. Eine Arie von Palloni macht nicht eben be-
0187gierig auf die nähere Bekanntschaft dieses meyerbeerisirenden
0188Maestro. Fräulein Tagliana machte Effect mit der
0189Arie, aber noch ungleich mehr mit dem bekannten Gesangs-
0190walzer von Arditi: „L’estasi“. Da gerieth das Publicum
0191in die entsprechenden „Ekstasen“ und rief die junge
0192Sängerin ein halbdutzendmal stürmisch hervor. Wir
0193haben in der That dieses Stück niemals so rei-
0194zend vortragen hören. Die Anmuth und Natürlichkeit des
0195Vortrages, die geläufige, in den höchsten Chorden leicht an-
0196sprechende Coloratur, durch welche Fräulein Tagliana 
0197mit diesem Walzer Furore machte, entwickelte sie in weiterem
0198Rahmen als Zerlina in „Fra Diavolo“. Es war eine durch-
0199aus liebenswürdige Leistung; eine bewunderungswürdige,
0200wenn man erwägt, daß Fräulein Tagliana die Rolle hier
0201binnen acht Tagen gelernt hat, ohne auch nur eine Auf-
0202führung des „Fra Diavolo“ je gesehen zu haben. In dem
0203Ensemble hätte manchmal eine kräftigere Stimme nothge-
0204than; die beiden Einzelnummern Zerlina’s (die Romanze
0205im ersten Act, die große Arie im zweiten) wurden von Fräu-
0206lein Tagliana sehr hübsch gesungen und ganz vortrefflich ge-
0207spielt. Der herzliche Beifall, welchen das sehr zahlreich ver-
0208sammelte Publicum der Tagliana spendete, ließ darum die
0209übrigen Künstler nicht zu kurz kommen. Herr Müller, der
0210namentlich Fra Diavolo’s Barcarole im zweiten Acte vor-
0211züglich sang, Fräulein Gindele als Lady Kockburn, Herr
0212Mayerhofer als Lord, endlich die Herren Neumann 
0213und Lay als Banditen schienen ganz besonders gut dis-
0214ponirt und fanden verdiente Anerkennung. Diese vortreff-
0215liche Aufführung von Auber’s unverwüstlich frischem und
0216liebenswürdigem „Fra Diavolo“ hat den Besuchern des Hof-
0217operntheaters einen der angenehmsten Abende bereitet.