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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3371. Wien, Dienstag, den 13. Januar 1874

[1]

Das Liszt-Concert im großen Musikvereinssaale.

Wien, 12. Januar.


0003Ed. H. Kaum war es bekannt geworden, daß Franz
0004Liszt zum Besten der Franz-Josephs-Stiftung in Wien 
0005spielen werde, als eine fieberhafte Erwartung unser ganzes
0006musikalisches Publicum erfaßte. Nahezu dreißig Jahre sind
0007verflossen, seit Liszt zum letztenmale in Wien concertirte;
0008eine Periode, in welcher er die überraschendsten Wandlungen
0009als Künstler und als Mensch vollzogen hatte. Mit dem
0010Jahre 1848 hatte Liszt seine an Triumphen beispiellose
0011Virtuosen-Carrière abgeschlossen, unerwartet, unwiderruflich.
0012Er erklärte uns einmal diese allgemein beklagte Abdication
0013mit den kurzen, aber bedeutungsvollen Worten: „Zum Vir-
0014tuosenthum gehört Jugend.“ Nur in ganz intimem Freun-
0015deskreise spielte er, auch da am liebsten nur Vierhändiges. Erst
0016in neuester Zeit ließ sich der Meister im Interesse wohlthä-
0017tiger Unternehmungen einigemal zu öffentlichen Productio-
0018nen in Pest bestimmen, war aber nicht zu bewegen, an dem
0019großen, denkwürdigen Beethoven-Jubiläum und dem
0020Festconcert zur Feier des Schubert-Monumentes in
0021Wien mitzuwirken, so eng verwebt mit seiner Kunstthätigkeit
0022und so theuer seinem Herzen gerade diese beiden Meister
0023gelten. Unermüdlich als Componist großer Werke, blieb er
0024als Virtuose unerbittlich und ließ sich den stolzen Entschluß
0025nicht schelten, auf voller Sonnenhöhe freiwillig vom Publi-
0026cum geschieden zu sein, und diesem lieber die brennendste
0027Sehnsucht, als den leichtesten Schatten von Ueberdruß zurück-
0028zulassen. Dafür gerieth jetzt in Wien Alles in vollständigen
0029Allarm bei der Ankündigung von Liszt’s Production. Die
0030ganze jüngere Generation wünschte sich Glück zu dem nicht
0031mehr erhofften Erlebniß, den Wundermann zu hören, von
0032dem man ihr seit früher Kindheit so viel erzählt. Die Ael-
0033teren, welche Liszt’s Triumphe noch mitgefeiert, waren nicht
0034minder begierig, ihre glänzendsten Concert-Erinnerungen wie-
0035derzuerwecken und mit dem neuen Eindruck zu vergleichen.


0036Es war im Jahre 1846, als Liszt zum letztenmale in
0037einer Reihe von Concerten die Wiener entzückte. Der alte
0038Musikverein unter den Tuchlauben war der bescheidene Ort
0039dieser Triumphe; er verhält sich zu unserem jetzigen großen
0040Concertsaal ungefähr wie das enge, mauernbedrückte Wien 
0041von damals zu dem heutigen. Die Galerie mit ihrem trost-
0042losen, hühnersteigartigen Aufgang galt seltsamerweise für den
0043elegantesten Platz: die vornehmsten Damen entfalteten da
0044ihre Toilettenpracht. Daneben kam der „Cercle“, damals
0045noch als Nothbehelf, in Liszt’s Concerten auf. Da Liszt 
0046ohne Orchester spielte, gerieth man nämlich auf die zweck-
0047mäßige Idee, das ganze sonst dem Orchester gewidmete
0048Podium den andrängenden Liszt-Verehrern einzuräumen, für
0049deren Zahl das Parterre und die Galerie niemals aus-
0050reichten. Da umfing denn ein blühender Kranz von schönen
0051Damen ringsum das Clavier des „Unvergleichlichen“, welcher
0052solche Umgebung jederzeit als geschmackvoller Kenner liebte
0053und würdigte. Liszt spielte ganz allein, ohne die früher un-
0054entbehrlichen gesungenen, gegeigten und declamirten „Zwischen-
0055nummern“. Sein immenses Repertoire erklang da in bun-
0056testem Wechsel von Beethoven’schen Sonaten und Liszt’schen
0057Bravourgalopps, von Opern-Phantasien und Schubert’schen
0058Lieder-Transscriptionen. Liszt gab sich als der vornehme,
0059liebenswürdige Herr des Hauses, plauderte mit den Damen,
0060begrüßte die Freunde, bezauberte Alle. Er spielte mit-
0061unter sehr ungleich, gut und schlecht nacheinander,
0062aber jederzeit Lisztisch, und das war genug. Daß
0063er von Stimmungen abhängig war, hob ihn nur
0064um so höher in der Meinung des Publicums, welches der
0065gleichförmig sauberen, schachbrettartig eingetheilten Kunst der
0066früheren Virtuosen müde war. Ich erinnere mich, wie Liszt,
0067nach einem Bravourstück über spanische National-Melodien
0068unaufhörlich gerufen, sich nochmals ans Piano setzte und,
0069vortrefflich aufgelegt, das Hauptthema neuerdings aufnahm
0070und in einer kurzen, ganz freien Improvisation voll der er-
0071staunlichsten Schwierigkeiten durchführte. Es war in einem
0072der von Liszt eingeführten Nachtconcerte, welche um halb 10 Uhr
0073begannen — eine fatale Einrichtung, von der Noth geschaffen
0074und von der Mode eine zeitlang beibehalten. Die Theater
0075genossen nämlich bis zum Jahre 1848 in Wien wie in den
0076Provinzstädten das Privilegium, daß Abends keine andere
0077öffentliche Kunstproduction stattfinden durfte. Nur Liszt’s 
0078Anziehungskraft war hinreichend groß und unfehlbar, um den
0079Musikvereinssaal auch nach dem Theater in allen Räumen
0080zu füllen. In Liszt’s Wohnung „zur Stadt London“ lagerte
0081tagsüber das musikalische junge Wien; er selbst saß in schwarz-
0082sammtener Blouse am Clavier, corrigirte Probebogen oder schrieb,
0083das Notenpapier auf dem Knie, irgend eine Composition 
0084mit seiner schiefen, langstieligen, nicht allzu leserlichen Hand-
0085schrift nieder, plaudernd und rauchend. Traf man es glück-
0086licherweise, daß Liszt gerade irgend eine Novität vom Blatte
0087spielte, so hatte man neuen Anlaß, über diese enorme mu-
0088sikalische Organisation zu staunen. Ferdinand Hiller erzählt
0089in seinem eben erschienenen interessanten Buche über Men-
0090delssohn
, wie dieser eines Tages mit dem Ausrufe: „Da
0091habe ich ein Wunder erlebt, ein wahres Wunder!“ bei ihm
0092eintrat und berichtete: „Ich war mit Liszt bei Erard und
0093legte ihm das Manuscript meines Concertes vor, und er
0094spielte es — es ist kaum leserlich — mit der größten Voll-
0095endung vom Blatte; man kann es gar nicht schöner spielen,
0096als er es gespielt hat — es war wunderbar!“ Wozu Hiller 
0097die scharfsinnige Bemerkung macht, daß Liszt die meisten
0098neuen Sachen zum erstenmale am schönsten spiele, weil sie
0099ihm dann gerade genug zu thun geben. Das zweitemal
0100mußte er schon dazuthun, wenn es für sein Interesse aus-
0101reichend sein sollte.


0102Liszt wurde damals vergöttert in Wien als Mensch
0103wie als Künstler; nicht nur sein Spiel war etwas Neues,
0104sondern auch seine Freigebigkeit für wohlthätige Zwecke.
0105Auch jetzt, am 11. Januar 1874, gab eine solche Widmung,
0106die Kaiser-Franz-Josephs-Stiftung, den Anlaß für das
0107Wiederauftreten des berühmten Meisters nach langer Zurück-
0108gezogenheit. Das Comité dieser Stiftung gewährte dem
0109festlichen Charakter dieses Ereignisses auch äußerlichen Aus-
0110druck. Der Saal war längs des Orchesterraumes mit Blu-
0111men und Kränzen geziert (wir hätten nur das geschmack-
0112lose riesige „F. L.“ auf der Orgel weggewünscht), das
0113Clavier starrte in Blumenschmuck, ein elegantes Publicum
0114füllte den Saal bis in den letzten Winkel. Mit Jubel be-
0115grüßt, tritt Liszt auf, in langem, hoch zugeknöpftem Abbé-
0116kleide, setzt sich ans Piano und gibt dem Orchester das
0117Zeichen zum Anfang der Wanderer-Phantasie (Op. 15) von
0118Schubert. Sein Spiel ist vollendet, wie ehemals, dabei
0119von ruhigerem Geiste und milderem Gemüth er-
0120füllt; nicht so blendend, so packend, aber einheit-
0121licher, ich möchte sagen solider, als das des jungen
0122Liszt gewesen. Glänzender trat er in seiner zweiten
0123Nummer hervor, der „Ungarischen Rhapsodie für Clavier
0124und Orchester“. Das originelle Tonstück, welches in echtem
0125Zigeunerton sich anfangs frei in melancholischem Vagabun-
0126diren ergeht, um dann plötzlich stramm, csardaslustig, [2]
0127sporenklirrend aufzuspringen und immer feuriger, immer
0128schneller im Kreise zu wirbeln — es schien alle Jugend-
0129geister Liszt’s zu erwecken. Das Allegro frappirt durch
0130manche Liszt allein angehörige Effecte, wie das Hämmern
0131beider Hände auf Einer Taste und durch die eigenthümliche
0132Nachahmung des Cymbals. In unnachahmlicher Weise er-
0133reicht Liszt das Schwirren, Klopfen, Hämmern und säu-
0134selnde Verhauchen dieses Haupt- und Lieblings-Instruments
0135der ungarischen Zigeuner. Liszt’s Vortrag war frei, poetisch,
0136voll geistreicher Nüancen, dabei von edler, künstlerischer
0137Ruhe. Und seine Technik, seine Virtuosität? Ich werde mich
0138wohl hüten, davon zu reden. Genug, daß Liszt sie nicht ein-
0139gebüßt, sondern höchstens abgeklärt und beruhigt hat. Welch
0140merkwürdiger Mensch! Nach einem reichen, beispiellos be-
0141wegten Leben voll Aufregung, Leidenschaft und Genuß
0142kommt der zweiundsechzigjährige Mann wieder, nicht ent-
0143kräftet, nicht zerstreut, nicht blasirt, und spielt das Schwerste
0144mit der Leichtigkeit, Kraft und Frische eines Jünglings!
0145Mit atemloser Aufmerksamkeit lauscht man nicht blos seinem
0146Spiel, sondern auch den physiognomischen Wirkungen, die
0147es in Liszt’s geistvollen, beweglichen Zügen hervorruft. Im
0148Ausdruck kraftvollen Ernstes hat sein zurückgeworfenes
0149Haupt noch immer etwas vom Jupiter; bald blitzen unter
0150den energisch vorragenden Brauen die feurigen Augen, bald
0151hebt ein leichtes Lächeln die so charakteristisch aufgebogenen Mund-
0152winkel noch einige Linien höher. Der Kopf, das Auge, manchmal
0153auch nachhelfend die Hand unterhalten während des Spielens
0154ununterbrochenen Verkehr mit dem Orchester und den Zu-
0155hörern. Wie Liszt bald aus den Noten, bald auswendig
0156vorträgt, wie er dabei abwechselnd die Lorgnette aufsetzt und
0157wieder herabnimmt, wie er das Haupt hier lauschend vor-
0158neigt, dort kühn zurückwirft — das Alles interessirt seine
0159Zuhörer unsäglich, noch mehr die Zuhörerinnen. Es gehörte
0160jederzeit zu Liszt’s Eigenthümlichkeiten, in seiner großen
0161Kunst auch noch mit allerlei kleinen Künsten zu effectuiren;
0162wir wissen ja: „Die Himmlischen wenden oft seltsame
0163Mittel an.“ In stürmischen Octavenlauf fliegt Liszt mit
0164seiner Rhapsodie zum Schlusse; das vielhundertköpfige
0165Publicum klatscht, ruft, jubelt, erhebt sich von den Sitzen,
0166wird nicht müde, den Meister hervorzurufen, der seinerseits
0167in der ruhigen, freundlich dankenden Haltung eines Ge-
0168wohnheitssiegers kundgibt, daß er auch noch nicht müde ist.
0169Für den Liszt von heute ist es eine große Leistung, die er 
0170vollbracht hat; und doch that er so unbefangen, als sei das
0171nichts und er noch der Liszt von 1840. Fürwahr, ein
0172Liebling der Götter!


0173Arrangirt war das ganze Concert würdig und tactvoll:
0174keine Solonummer neben Liszt, nur Chor- und Orchester-
0175sachen. Die ersten Dirigenten Wiens lösten einander am
0176Pulte ab, sogar Herbeck dirigirte die beiden Liszt’schen
0177Nummern. Der Singverein trug zwei seiner vortreff-
0178lichsten Chöre von Bach und Mendelssohn unter Brahms’ 
0179Leitung vor; der Wiener Männergesang-Verein 
0180zwei von Weinwurm und Kremser dirigirte Lieblings-
0181nummern aus Schumann und Schubert. Dessoff diri-
0182girte das Hofopern-Orchester in den trefflichen Aufführungen
0183der Ouvertüre „Abu Hassan“ von Weber und des „fest-
0184lichen Einzugsmarsches“ aus der Oper „Die Königin von
0185Saaba“ von Goldmark. Bei dem absorbirenden In-
0186teresse, das Liszt’s Spiel und Persönlichkeit an diesem Tage
0187erregten, ist der große Erfolg der Goldmark’schen Novität
0188doppelt hoch anzuschlagen. Das Tonstück, dessen stark orienta-
0189lisirende Weise allerdings erst in der Oper selbst seine volle
0190Rechtfertigung finden kann, ist geistreich concipirt, echt dra-
0191matisch angelegt und mit ungewöhnlichem Glanz instrumen-
0192tirt. Der rauschende Beifall, welcher diesem Opernfragmente
0193folgte — der Componist wurde wiederholt gerufen — ist
0194jedenfalls die stärkste und unbefangenste Reclame, welche die
0195Königin von Saaba“ für ihre in Berlin vorbereitete Auf-
0196führung sich nur wünschen kann.


0197(Druckfehler-Berichtigung.) In der Kritik von
0198Ed. H. über die Oper „Genovefa“ soll es (Spalte 4, Zeile 14
0199von oben) anstatt „das ununterbrochene Gewinsel“ heißen: das
0200ununterbrochene Geriesel des Arioso.