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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3378. Wien, Dienstag, den 20. Januar 1874

[1]

Der erste Abend in der Komischen Oper.

Wien, 19. Januar.


0003Ed. H. Am verflossenen Samstag beging die Komische
0004Oper ihre Eröffnungsfeier mit Rossini’s „Barbier von
0005Sevilla“. Lange vor der Theaterstunde umwogte eine dichte
0006Menge schaulustiger Peripatetiker das neue Theater auf
0007dem Schottenring. Die glücklichen Besitzer von Eintritts-
0008karten drängten durch die hellen, freundlichen Corridors in
0009den prächtig erleuchteten Saal. Dieser für achtzehn- bis
0010neunzehnhundert Zuschauer berechnete elegante Bau hat gerade
0011die rechte Größe für Aufnahme des musikalischen Lustspiels,
0012dessen feinere Wirkungen in großen Opernhäusern versagen.
0013Nach ihren Dimensionen erscheint die Komische Oper als
0014eine Schwester unseres Stadttheaters, nach der Anord-
0015nung des Zuschauerraumes als ein architektonischer Spröß-
0016ling des Hofoperntheaters. In zwei Punkten scheint uns
0017letzteres übertroffen: in der Disposition des Orchesters und
0018der Logen. Das Orchester der Komischen Oper liegt merk-
0019lich tiefer als jenes des Hofoperntheaters, entzieht somit die
0020Musiker und ihre mit Armen, Fingern und Backen arbei-
0021tende Gymnastik mehr dem Anblicke des Publicums. Es
0022nähert sich wenigstens dem Ideale dieser Einrichtung, dem
0023Münchener Orchester, dessen Herabsenkung eine Wohlthat
0024für das Auge des Zuschauers und für die Stimmen der
0025Sänger geworden ist. Wenn man hierüber Orchestermitglie-
0026der befragt, so vernimmt man natürlich nur heftigste Oppo-
0027sition gegen die Münchener Reform, und es erscheint vom
0028Standpunkte menschlicher Schwäche verzeihlich, daß die geigen-
0029den Künstler auch gesehen sein wollen. Vom Standpunkte des
0030dramatischen Vortheils und Bedürfnisses ist es aber nicht
0031verzeihlich. An diesen Vorzug, daß man vom Orchester
0032weniger sieht, reiht sich in der Komischen Oper der andere,
0033daß man, Dank den tieferen Logenbrüstungen, mehr zu sehen
0034bekommt von den Damen und ihren Toiletten. Vortrefflich 
0035ist die Akustik des neuen Theaters: das Forte weckt kein
0036hallendes Echo, das Piano ist bis zur leisesten Abschwächung
0037des Tones oder Wortes deutlich vernehmbar, und zwar —
0038wie gewissenhafte Experimentatoren versichern — gleich gut
0039vernehmbar von jedem Platze des Zuschauerraumes. Als aus-
0040gezeichnet bewährte sich ferner die Beleuchtung und die Ventila-
0041tion; man hatte trotz der Ueberfüllung des Theaters nicht
0042über Hitze zu klagen. In Einem Punkte jedoch ist für das
0043Publicum lange nicht so gut gesorgt, wie im Hofoperntheater, und
0044wir wollen diesen Uebelstand, dem ja vielleicht theilweise noch
0045abzuhelfen ist, ohneweiters denunciren. Es ist der viel zu
0046schmale Zugang zu den Parterresitzen, welcher durch die längs
0047der Wand aufgestellten Klappstühlchen vollends zur beängsti-
0048genden Klemme wird.


0049Das Publicum hat sich noch lange nicht sattgesehen
0050an dem glänzenden Interieur des Theaters, als Capell-
0051meister Proch vor das Pult tritt, um das Zeichen zur
0052Ouvertüre zu geben. Rauschender Applaus begrüßt den be-
0053liebten Operndirigenten, welcher, mit nahezu vier Decennien
0054der Wiener Musikgeschichte verwachsen, noch immer den
0055Sängern als besonders verläßlicher Führer gilt. (Im echten
0056Theaterdeutsch lautet dies Zeugniß: „Auf den Proch singen
0057wir uns sehr gut.“) Herr Proch hatte für die Eröffnungs-
0058feier eine eigene Fest-Ouvertüre geschrieben, welche weniger
0059den Componisten als das Orchester in günstiges Licht
0060stellte. Wir erkennen wohlgefällig die volltönigen Harfen-
0061Arpeggien der Therese Zamara, den sicheren, schnei-
0062digen Geigenstrich des jungen Hellmesberger, den
0063schönen Ton des ersten Clarinettisten. Ueberhaupt merkt
0064man an dem feurigen Zuge des Ganzen sofort, daß viel
0065junges Blut in diesem Orchester sitzt. Dasselbe läßt darum
0066keineswegs die Zügel schießen, sondern versteht sich an rech-
0067ter Stelle auf feines Schattiren. So in dem musterhaften
0068Accompagnement der Verleumdungs-Arie und in dem kleinen
0069Gewitter, das Rossini im zweiten Acte mit unglaublich ein-
0070fachen Mitteln (ohne Pauken!) so bewunderungswürdig malt.
0071Die musikalische Literatur ist nicht arm an imposanten Ge
0072wittern — die der beiden Donnergötter Beethoven und
0073Berlioz obenan — aber ein so liebenswürdiges Gewitter-
0074chen wie dieses Rossini’sche kommt nicht wieder vor.


0075Die Ouvertüre ist zu Ende, und Director Swoboda,
0076umgeben von seinem Künstler-Personale, hält eine Anrede,
0077deren hervortretendste Stellen das Blatt bereits mitge-
0078theilt hat. Der durch die Ansprache entfesselte allgemeine
0079Applaus ist ein lautes Vertrauensvotum, das man dem
0080in vieljähriger glänzender Thätigkeit bewährten Künstler in
0081seiner neuen Stellung darbringt. Nicht immer sind gute
0082Schauspieler zugleich auch gute Theater-Directoren, und
0083Herr Swoboda wird diesen zweiten Ruhm sich erst erstrei-
0084ten müssen. Wenn aber seine Komische Oper so fortfährt,
0085wie der erste Abend begonnen hat, dann ist uns um Swo-
0086boda’s Directions-Erfolge nicht bange.


0087Die Oper beginnt: Rossini’s „Barbier von Sevilla“.
0088Wir hatten manches Bedenken gegen die Wahl dieser Oper
0089gerade zur Eröffnungsfeier. Nicht weil die Composition von
0090einem Italiener herrührt — sind wir Deutsche doch an komi-
0091schen Opern recht arm — aber weil eine vollkommene, lebens-
0092wahre Darstellung des „Barbier“ fast unzertrennlich ist von
0093italienischem Naturell. Auf deutschen Bühnen habe ich selten
0094eine gute Rosine gefunden, noch seltener einen annehmbaren
0095Almaviva, gar nie einen glaubwürdigen Figaro. Den ersten
0096Schaden erleidet der „Barbier“ schon durch seine Ueber-
0097setzung aus der italienischen in die deutsche Sprache, den
0098zweiten durch jene aus dem italienischen ins deutsche Tem-
0099perament. Man betrachte nur beispielsweise den Sechsachtel-
0100tact in Figaro’s erster Arie; muß nicht eine nordische Zunge
0101zerschellen in diesem deutschen Steinregen, der italienisch zum
0102munteren Geplätscher wird? Die südliche Beweglichkeit, Laune
0103und Pfiffigkeit, die ganze Tonart dieses Humors sind unseren
0104Sängern nicht natürlich; kein deutscher Figaro glaubt an sich
0105selbst, noch viel weniger glauben ihm die Anderen. Wer ein-
0106mal eine italienische Buffo-Vorstellung gehört, wie sie in
0107Wien so häufig stattfanden, der wird die natürliche Supe-
0108riorität der Italiener auf diesem ihrem eigenen Grund und [2]
0109Boden nicht bestreiten. Das entgegengesetzte Urtheil Gutz-
0110kow’s
in seinen „Pariser Briefen“ ist und bleibt ein wun-
0111derliches Räthsel. Er hört in Paris (1842) den „Barbier
0112von Sevilla“ mit Lablache, Mario, Ronconi, Tagliafico und
0113der Persiani und ist überzeugt, daß die besten deutschen
0114Operngesellschaften in dieser Oper Vorzüglicheres leisten,
0115ja daß „selbst eine gewöhnliche Besetzung in Deutschland 
0116(vielleicht mit Ausnahme Lablache’s als Bartolo) dasselbe 
0117gibt“. „Wäre es möglich,“ setzt er bei, „mit einer halbwegs
0118guten deutschen Gesellschaft in Paris „Norma“, „Nachtwand-
0119lerin“, „Barbier von Sevilla“ etc. zu geben, eine solche Ge-
0120sellschaft würde Alles besiegen!“ Gutzkow’s Urtheil beweist
0121nur, in welchen Unsinn selbst ein so geistreicher und bühnen-
0122kundiger Mann gerathen kann, wenn der deutsche Patriotis-
0123mus bei ihm die Stelle musikalischer Einsicht vertritt.


0124Die Aufführung des „Barbier“ in der Komischen Oper
0125ist sehr gut ausgefallen, und dieser Erfolg hat jedenfalls
0126mehr Kraft, als alle theoretischen Bedenken. Director Swo-
0127boda war in der glücklichen Lage, zwei Hauptrollen (Rosine 
0128und Almaviva) besser besetzen zu können, als es gegenwärtig
0129irgend eine deutsche Bühne vermag; die übrigen Rollen aber
0130wenigstens ebenso gut, wie man sie durchschnittlich auf deut-
0131schen Hoftheatern sieht. Fräulein Minnie Hauck, bisher
0132eine Zierde des Hofoperntheaters, erzielte als Rosine einen außer-
0133ordentlichen Erfolg. Ihre Stimme hat in jüngster Zeit an
0134Tiefe gewonnen, ihr Vortrag an feinem Geschmack und
0135glänzender Bravour. Die haarscharfe Reinheit ihrer Into-
0136nation in den gewagtesten Sprüngen und Modulationen, die
0137mühelose Leichtigkeit ihrer Passagen, die flötenartig weiche
0138Behandlung des Mezza voce errangen ihr gleich nach der
0139Eingangs-Arie den lebhaftesten Beifall. Noch lebensfrischer
0140und individueller erschien ihre Leistung in der sogenannten
0141Singlection; überaus fein und zierlich sang sie die bekannte
0142hübsche „Mandolinata“ und hierauf ein munteres englisches
0143Lied mit dem Refrain: „Take care!“ „Sie hat so wunder-
0144schöne Augen — gib Acht! Und was sie sagt, es ist nicht
0145wahr — gib Acht!“ Man kann diese scherzhafte Warnung 
0146nicht schelmischer und liebenswürdiger predigen, als Minnie
0147Hauck es in dem Liede thut. Die Zuhörer wollten aber
0148vorsichtshalber noch einmal gewarnt sein, und so mußte die
0149Hauck repetiren. Noch mit einer dritten Einlage glänzte die
0150Sängerin, ganz zum Schlusse der Oper, nämlich mit einem
0151Arditi-Surrogat, namens „Minnie-Walzer“, welches Hölzl 
0152der Hauck zu Ehren componirt und die Hauck dem Hölzl zu
0153Ehren gesungen hat.


0154Ein Coloratur-Tenor ist auf deutschem Boden bekannt-
0155lich ein nur höchst sporadisch vorkommendes Geschöpf. Um
0156so überraschender wirkte die Leistung des Herrn Anton Erl 
0157als Almaviva. Seine schwache, aber angenehm klingende
0158Stimme ist in Passagen und Trillern so vorzüglich geübt,
0159daß schon die erste Serenade stürmischen Beifall hervorrief.
0160Noch mehr das Strophenlied „lo son Lindoro“ (aus Paë-
0161siello’s „Barbiere“), das Erl im zweiten Acte einlegte und
0162mit einer vollständigen Kunststickerei von Trillern und Falsett-
0163Passagen ausschmückte. Von seinem Vater hat er die musi-
0164kalische Sicherheit, der Stimme „ernstes Führen“; sonst
0165bildet er beinahe dessen Gegenstück, in der äußeren Erschei-
0166nung, dem Charakter der Stimme und der Specialität sei-
0167ner Erfolge — eine Taube neben einem Steinadler. Die
0168Freude des Publicums über den jungen Erl, dessen Alma-
0169viva in Deutschland kaum einen Rivalen hat, äußerte sich
0170stürmisch. Wenn ein wehmüthiges Gefühl an diesem Abende
0171sich einschleichen konnte, so war es die Trauer, daß der vor
0172einem Monat noch muntere alte Erl, einst der Achilles unter
0173unseren Heldentenoren, den ersten großen Erfolg seines Soh-
0174nes nicht mehr erlebt hat.


0175Eine zweite neue Bekanntschaft angenehmen Eindruckes
0176machten wir an dem Darsteller des Figaro, Hermany.
0177Gleich seine ersten, hinter der Coulisse gesungenen Töne
0178verkündigten eine wohlklingende, biegsame, wenn auch nicht
0179besonders starke Baritonstimme. Eigentlich hätte dieser Figaro 
0180auch noch auf der Scene ein Weilchen nicht zu singen ge-
0181braucht, um die Sympathien des Publicums zu gewinnen;
0182denn mit Wohlgefallen „verschaute“ sich dieses an der jugend
0183lich kräftigen Gestalt und dem offenen, schönen Antlitze des
0184Sängers. Nicht „die widerwärtige Erscheinung, die man einen
0185schönen Mann nennt“ (wie Dahlmann von dem englischen
0186Darnley sagt), sondern ein bildhübscher Kerl auf gut Deutsch,
0187für welchen die Damen sofort Partei nahmen. Take care!
0188Hermany (das fatal assonirende „Herr“ vor diesem Na-
0189men will uns nicht aus der Feder) sang den Figaro durch-
0190gehends gut, mit sehr correcter, deutlicher Aussprache und
0191bemerkenswerther Kehlengeläufigkeit. Im Spiele zählt er
0192ebenfalls zu den besseren deutschen Figaros, wenngleich der
0193verkleidete Prinz oder Held auch bei ihm unter der Barbier-
0194jacke zeitweilig hervorguckt. Von den akrobatischen Armver-
0195drehungen, mit welchen er in der ersten Scene angehüpft kommt,
0196möchten wir abrathen; die Mandoline im Arme ist natürlicher
0197und charakteristischer, überdies ein günstiges „Motiv“ im
0198Sinne des Malers. Die beiden Baßbuffos, Basilio und Bartolo,
0199sangen musikalisch tüchtig, sprachen deutlich und erheiterten
0200das Publicum aufs beste. Insbesondere Herr Hölzl, der
0201als alter Liebling der Wiener mit Applaus begrüßt wurde,
0202wirkte als Basilio ergötzlich durch seinen trockenen Humor
0203und manchen Witz eigener Fechsung. Herr Robert Müller 
0204ist der richtige deutsche Bartolo: etwas trocken und gravi-
0205tätisch, aber in seiner Art recht wirksam und wohlver-
0206traut mit allen Bühnenkniffen. — Der Ausstattung kann
0207man in Bezug auf Geschmack und Richtigkeit nur Gutes
0208nachsagen.


0209So ist denn der erste Abend der Komischen Oper
0210ungetrübt und überraschend glücklich ausgefallen. Bei den
0211großen Schwierigkeiten, unter denen ein so großes, von
0212Grund auf neues Unternehmen ins Leben tritt, waren wir
0213darauf gefaßt, die Anfänge desselben mit den Rücksichten
0214einer schonungsvollen Courtoisie besprechen zu müssen. Allein
0215zu unserer größten Befriedigung hat gleich die erste Vor-
0216stellung der Komischen Oper alle Rücksichten überflüssig und
0217als ihr gutes Recht geltend gemacht, was nur vorgefaßten
0218Wohlwollen ihr zuzugestehen hoffen durfte.