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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3413. Wien, Mittwoch, den 25. Februar 1874

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Komische Oper.


0002Ed. H. Die zweite Vorstellung von Boieldieu’s „Weiße
0003Dame
“ hat mit mehrfach veränderter Besetzung stattgefun-
0004den, welche sich vortheilhaft erwies für die Wirkung des
0005Ganzen. Von absoluter Vollendung oder einem Erreichen
0006der berühmtesten Darsteller in dieser Oper war freilich nicht
0007die Rede. Wer z. B. Herrn Erl kennt, wußte im vorhin-
0008ein, daß der Charakter des Georges Brown seiner Indivi-
0009dualität wenig zusagt. Er ist von einer stillen, fast schüch-
0010ternen Bescheidenheit, welche in Rollen von entsprechendem
0011Charakter überaus gewinnend und liebenswürdig anspricht.
0012Der gemüthvolle, träumerische Silvain im „Glöckchen des
0013Eremiten“ ist der treueste Ausdruck dieser Liebenswürdigkeit,
0014welche ein bischen linkisches Gebahren nicht ausschließt. Daß
0015Erl in der Maske Silvain’s lebhaft an die Persönlichkeit
0016Fichtner’s erinnert, breitet über diese Gestalt noch einen
0017eigenen verklärenden Schimmer. Aber Georges Brown!
0018Gibt es einen schärferen Gegensatz zu Silvain, als diesen
0019kecken, abenteuerlustigen und übermäßig galanten Officier?
0020Diese Rolle verlangt einen vollendeten Schauspieler und ein
0021Naturell, in dem einige Tropfen französischen Blutes rollen.
0022Ich habe keinen deutschen Georges Brown gesehen, welcher
0023die geistreiche Anmuth und vollendete Natürlichkeit Roger’s 
0024oder Montaubry’s halbwegs erreicht hätte. Auch Herr
0025Erl bleibt in diesem Punkte unter seiner Aufgabe, sein
0026Georges Brown ist ein gar frommer, guter Junge,
0027und dort, wo die Schilderung des Soldatenlebens
0028mit größeren Ansprüchen an die Stimmkraft auch noch die
0029größten an die schauspielerische Virtuosität verbindet, blieb
0030seine Leistung ohne Effect. Obendrein gönnte das zu schnelle
0031Tempo der ersten Arie dem Sänger wie dem Schauspieler
0032nicht die Zeit zur sorgfältigen Ausbreitung des Details.
0033Hingegen bieten andere Seiten der Partie günstige Hand-
0034haben für Erl’s Talent, und diese hat er mit glücklichem
0035Griffe erfaßt. Dahin gehören alle Situationen, wo die Me-
0036lodie aus dem lyrischen Elemente reichlichere Nahrung schöpft; 
0037insbesondere die Arien des zweiten und dritten Actes, die,
0038von warmer Empfindung angehaucht, sich in dem Spiele mit
0039allerlei anmuthigen Melismen gefallen. Hier reussirten Erl’s
0040zarter Vortrag und seine ungewöhnliche Kehlengeläufigkeit
0041vollständig; er übertraf darin entschieden seinen Vorgänger,
0042Herrn Lederer, so sehr ihm dieser an schneidigem Nach-
0043drucke der Stimme und Beweglichkeit des Spieles überlegen
0044war. Die Beweglichkeit Lederer’s hatte freilich einen fatalen
0045Beigeschmack von eitler Selbstgefälligkeit, ein Zug, der Herrn
0046Erl gänzlich fremd ist. Er begnügte sich, als Georges Brown 
0047das gewöhnliche Niveau seines Temperamentes ein wenig
0048zu erhöhen, ohne durch krampfhafte Anspannung etwas sei-
0049ner Natur Heterogenes erkünsteln zu wollen. Und daran
0050that er wohl, er wäre sonst unnatürlich und seiner angebo-
0051renen Vorzüge leicht verlustig geworden, ohne den ihm bluts-
0052fremden Typus des Georges Brown überzeugend nachzuschaf-
0053fen. So hat denn sein Spiel, indem es ehrlich blieb, nir-
0054gends gestört, sein Vortrag in allen sanften Stellen befriedigt
0055und seine Gesangskunst in Einzelheiten (wie das langausge-
0056haltene, schön geschwellte hohe B im zweiten, die Trillerkette
0057im dritten Acte) geradezu geglänzt. Die Leistung wurde auf
0058das schmeichelhafteste ausgezeichnet. Daß Erl’s Stimme etwas
0059angegriffen klang, ist bei seiner anstrengenden Beschäftigung
0060nicht verwunderlich; die Direction würde gut thun, ihre schönste,
0061aber auch delicateste Tenorstimme möglichst zu schonen.


0062Auch die weibliche Hauptrolle in der „Weißen Frau“
0063war neu besetzt, nämlich durch Fräulein Deichmann,
0064welche die Miß Anna recht gut sang und lebhaft, wenn
0065auch etwas geziert spielte. Ihr starkes Tremoliren beein-
0066trächtigte zwar das Vergnügen des Zuhörers, aber im Gan-
0067zen erschien ihre Leistung, nach jener der Frau Ubrich,
0068fast wie eine Wohlthat. Frau Ubrich haben wir im Win-
0069ter 1868 als Concertsängerin von bedeutender Bravour,
0070aber so geringer Wärme kennen gelernt, daß wir uns da-
0071mals — anspielend an F. Schlegel’s Wort von der „ge-
0072frorenen Architektur“ — den schlechten Witz von „gesunge-
0073nem Schnee“ erlaubten. Seither hat Frau Ubrich den jugend-
0074lichen Schmelz der Stimme eingebüßt, ja sogar die Rein-
0075heit der Intonation ist ihr in der „Weißen Frau“ auffallend 
0076häufig abhanden gekommen. Was uns aber aus dem Ge-
0077sichtspunkte der Komischen Oper am bedenklichsten an Frau
0078Ubrich erscheint, das ist ihr completer Mangel an schauspie-
0079lerischem Talent, an Lebendigkeit und Wärme. Man kann
0080nicht sagen, Frau Ubrich habe die Miß Anna schlecht ge-
0081spielt; denn dies würde das Zugeständniß einschließen, daß
0082sie dieselbe überhaupt gespielt habe. In Wahrheit hat sie
0083aber die Rolle nur aufgesagt, starr und eintönig, wie ein
0084Schulmädchen sein Neujahrsgedicht. Dieser phlegmatischen,
0085üppigen Dame die Rosina im „Barbier von Sevilla“ zu-
0086zutheilen, den Ausbund jugendlichen Muthwillens, war ein
0087Mißgriff, über welchen man kein Wort zu verlieren brauchte.
0088Man konnte sich vielleicht auch mit dem Glauben vertrösten,
0089es fehle ihr eben nur der Muthwille. Die Rolle der Miß
0090Anna verlangt keinen Wildfang, sondern nur eine in die
0091Situation verständig eingehende Darstellerin, welche natür-
0092lich zu sprechen und sich frei zu bewegen weiß. Für das
0093Concert und das Oratorium ist Frau Ubrich noch ohne
0094Zweifel eine schätzbare Kraft, für die Spieloper — eine
0095Unmöglichkeit. Fräulein Deichmann wollen wir noch dan-
0096ken, daß sie nicht wie Frau Ubrich eine unpassende Arie in
0097die „Weiße Frau“ einlegte; dafür möge sie uns die Bitte
0098um ein passenderes Costüm gestatten. Oder sollte wirklich
0099Miß Anna, die anspruchslose Waise, ihre einsamen Wald-
0100promenaden in einem langen, himmelblauatlassenen Schlepp-
0101kleide machen, mit bloßen Armen und Schultern?


0102Mit Fräulein Wiedermann, die wir jüngst anerkennend
0103hervorhoben, alternirt jetzt in der „Weißen Dame“ Frau
0104Fischer-Swoboda. Sie sieht als Pächterin Jenny aller-
0105liebst aus und spielt vorzüglich; mit ihrem Gatten, Herrn
0106Swoboda (Dickson), bildet sie auch auf der Bühne ein
0107auserlesenes Pärchen. Von den übrigen Rollen ist nur der
0108Verweser Gaveston von größerer Wichtigkeit. Herr Dalle-
0109Aste
, welcher noch über Töne von schönstem Klange ver-
0110fügt, singt die Rolle gut, spielt sie aber um so mittelmäßi-
0111ger. Er gleicht als Gaveston der personificirten Humanität:
0112offene, ehrliche Stirne, argloser Blick, warmer Biedermanns-
0113ton, sanfte Bewegungen. Nun ist aber Gaveston in einer
0114Welt von guten Leutchen moralisch der einzige schwarze [2]
0115Schlagschatten und als solcher unbezahlbar. Er allein ver-
0116tritt in der Handlung das verneinende Princip, zwar nicht
0117in der grellen Form des Tyrannen, aber doch des habsüch-
0118tigen, bauernstolzen und hartherzigen Intriganten. Des
0119Contrastes wegen müssen diese Linien stark und sicher gezo-
0120gen werden, und es ist noch immer besser, Gaveston ähnelt
0121einem Bösewicht, als Nathan dem Weisen.


0122Auch Frau Périchon (eine Schwester des Directors
0123Swoboda) glich als Margarethe weit mehr einer verwitwe-
0124ten Gräfin von Avenel als einer Haushälterin. Diese Dame,
0125eine stattliche, geübte Schauspielerin, besitzt eine ausreichende,
0126besonders im Sprechen wohlklingende Altstimme. Ihr Vor-
0127trag des Spinnrockenliedes wurde lebhaft applaudirt, mir
0128schien er viel zu nachdrücklich und pathetisch. Text und Musik
0129sprechen gegen solche Auffassung, außerdem noch die für
0130Boieldieu sehr charakteristische Entstehungsgeschichte dieses
0131Liedes. Boieldieu componirte dasselbe nebst anderen Num-
0132mern der „Weißen Frau“ in Cormeilles-en-Parisis, einem
0133vier Stunden von Paris auf der Straße nach Rouen ge-
0134legenen Dorfe. Mit der ersten Conception des Liedes be-
0135schäftigt, kam er auf die Idee, die alte Gärtnerin holen zu
0136lassen und sie vor sich an das Spinnrad zu setzen. Das
0137entschied über den Charakter dieser unvergleichlichen Nummer;
0138die ganze Persönlichkeit seines Modells, das Schnurren des
0139Rades, die schlichte Umgebung brachten dem Componisten
0140die Inspiration, nach der er suchte. Als man fragte, wie er
0141diese in so natürlichem Ton geschriebene Weise aufgefunden
0142habe, antwortete er: „Wir waren Zwei, ich und Frau Gilette.“


0143Vergessen wir schließlich nicht Herrn Seidemann,
0144der als Friedensrichter Mac Irton wacker in das herrliche
0145zweite Finale eingriff. Dieser stimmbegabte und eifrige junge
0146Bassist dürfte sich zu einer tüchtigen Kraft entwickeln; ich
0147konnte bisher nur Anerkennendes über ihn berichten, wenn-
0148gleich — möge er mir verzeihen! — nie ohne ein unwill-
0149kürliches Lächeln auf den Lippen. Seidemann’s ganze Er-
0150scheinung erinnert nämlich an alles Andere eher, als an die
0151komische Muse. Eine legendenhafte, lange, hagere Gestalt,
0152mit langen schwarzen Haaren, einer unabsehbar langen Nase, 
0153zwei tiefliegenden pechschwarzen Augen und einer pechschwarzen
0154Baßstimme. Wenn Seidemann gedankenvoll am Tische sitzt,
0155erinnert er an den Unglückspropheten Jeremias, der mit
0156alten Harfen und anderen abgetragenen Sachen an den
0157Flüssen Babylons lamentirt. Als ich in einem befreundeten
0158Kreise zum erstenmale Herrn Seidemann, als einem neuen Mit-
0159glied der Komischen Oper, vorgestellt wurde, glaubte
0160ich einen Augenblick, es handle sich um einen Spaß. War
0161doch die einzige Rolle, die ich ihm zugetraut hätte, der stei-
0162nerne Gast im „Don Juan“. Seidemann und komische
0163Rollen! Aber: Les extrêmes se touchent. Je länger ich ihn
0164betrachtete, desto mehr kam es mir vor, das Aussehen des
0165jungen Mannes sei eigentlich so excessiv melancholisch, daß
0166es schon ins Komische übergehe. So müßte z. B.
0167der Cotillon-Vortänzer auf einem Kränzchen der Entreprise
0168des pompes funèbres aussehen. Und siehe da, als er eines
0169Abends im „Barbier von Sevilla“ für Herrn Hölzel eintrat,
0170erzielte Seidemann — Basilio — den vollständigsten Er-
0171folg, einen Erfolg seiner Stimme und seines Talentes zu-
0172nächst, der aber wesentlich durch die drastische Erscheinung
0173unterstützt war. Dieser Abend hat ihm ganz unerwartet die
0174Taufe des Komikers als unauslöschliches Merkmal aufge-
0175drückt; er kann Herrn Seidemann, falls dessen Talent sich
0176nach dieser bestimmten Richtung durch fleißiges Studium
0177entwickelt, zum bleibenden Nutzen gedeihen. Welche Vortheile
0178wußte nicht Nestroy aus seiner Gestalt zu ziehen für
0179komische Wirkung! Wie leicht könnte Herr Seidemann klei-
0180nen Episodenrollen, wie der Friedensrichter in der „Weißen
0181Frau“, durch einige leichte Striche den Reiz discreter Komik
0182verleihen! Man sehe ihn nur an, in dem langen schwarzen
0183Talar, mit der riesigen Allonge-Perrücke und dem einge-
0184äscherten Ruinengesicht, in welchem nur zwei glühende Koh-
0185len und ein vorspringender Thurm erkennbar sind. Wenn er
0186dann gravitätisch sein Protocoll entfaltet, sieht er aus halb
0187wie eine Gypsstatue Voltaire’s, halb wie der Geist eines alten
0188Schimmels. Es bedarf da nur des wohlbemessenen Schrittes
0189von den unbeabsichtigten zur bewußten, freien Komik, und
0190Herrn Seidemann’s Carrière ist gemacht.