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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3420. Wien, Mittwoch, den 4. März 1874

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Concerte.

Wien, 3. März.


0003Ed. H. Wir hatten in jüngster Zeit einem solchen
0004Massenangriff von Concerten standzuhalten, daß es schwer
0005fällt, sie jetzt einzeln, der Reihe nach, zu erledigen, selbst
0006mit Hilfe der Rechtswohlthat eines sehr summarischen Ver-
0007fahrens. Beginnen wir mit Herrn Door’sTrio-
0008Soiréen
“, welche heuer ihren dritten Jahrgang zählen.
0009Sie gehören zu den besten unserer periodisch wiederkehren-
0010den Concert-Aufführungen, in welchen sie thatsächlich eine
0011fühlbare Lücke ausfüllen. Zu dem Pianisten Door und dem
0012Cellisten Popper, den bewährten Grundpfeilern des Un-
0013ternehmens, hat sich diesmal für den Violinpart der Con-
0014certmeister Herr Emanuel Wirth aus Rotterdam (ein ge-
0015borener Karlsbader) gesellt. Er ist ein tüchtiger Geiger, mu-
0016sikalisch verläßlich, von klarem Ton, reiner Intonation,
0017tüchtigem, etwas bürgerlichem Vortrag und einer Technik,
0018welche den virtuosen Ansprüchen der Rust’schen D-dur-So-
0019nate sich gewachsen zeigte. Dem Aeußeren nach eine hünen-
0020hafte, finsterblickende Gestalt, welche das Vorgetragene nicht
0021eben freundlicher erscheinen läßt, aber etwas Vertrauen-
0022erweckendes hat, etwa wie Marcell in den „Hugenotten“.
0023Die drei Künstler begannen mit Beethoven’s G-dur-
0024Trio, Op. 1, das bei der ohnehin großen Länge des Con-
0025certes besser weggeblieben wäre. So wichtig diese Anfänge
0026Beethoven’s (keine Jugendversuche, sondern reife Kunstwerke)
0027für den Kunsthistoriker und so werthvoll sie für die musi-
0028kalische Hausandacht sind, so gering scheint uns heutzutage
0029das Bedürfniß danach im öffentlichen Concert. Diese ein-
0030fachen, an Haydn lehnenden Trios erfreuen vollständig nur,
0031wenn man sie selbst spielt; man muß dabei etwas zu thun
0032haben, blos zuhörend fühlt man doch Verstand und Phan-
0033tasie nicht mehr hinreichend beschäftigt. Mit außerordent-
0034lichem Erfolg spielten die Herren Door und Popper J.
0035Brahms’ Sonate für Violoncell und Clavier (Op. 38),
0036ein Meisterwerk, für dessen Bekanntschaft wir ihnen dankbar
0037verpflichtet sind. Ohne Door’s „Trio-Soiréen“ wären diese
0038Compositionen vielleicht noch weitere zehn Jahre in Wien 
0039unaufgeführt geblieben. Der erste Satz (E-moll), mit Haupt-
0040motiven von Beethoven’scher Kraft und Prägnanz, fließt in
0041wundervoller Führung beider Stimmen stolz und klar vor-
0042über, so reich und doch so genügsam in seiner echten Lyrik!
0043Noch unmittelbarer, einschmeichelnder wirkt der Menuett mit
0044seiner stattlichen, ganz leicht ans Rococo streifenden Haltung
0045und seinem gesangvollen Trio, Alles frei und natürlich, die
0046„Kunst“ kaum zu merken. Geringere Wirkung macht das Finale,
0047das als zweistimmige Fuge anhebt und ein rasches, tarantella-
0048artiges Triolenmotiv mit meisterhafter, aber vorwiegend ver-
0049standesmäßiger Consequenz durchführt. Was man an den
0050drei Sätzen dieser Sonate vermissen kann, ist höchstens das
0051Fehlen eines vierten, und zwar eines Andante, welches die
0052volle Schönheit des Violoncells in getragenem Gesang zum
0053Ausdruck brächte. Der bedeutende Erfolg der Brahms’schen
0054Sonate rechtfertigt vielleicht den Vorschlag, die Herren Door 
0055und Popper möchten sie in ihrer dritten Soirée wiederholen
0056und dafür eine andere Nummer ausfallen lassen. Nicht nur
0057die zahlreichen Musikfreunde, welche die erste Aufführung
0058versäumt haben, auch wir Anderen, die wir uns daran er-
0059freuten, würden dafür dankbar sein. Bemerken wir bei die-
0060sem Anlasse, wie günstig sich die Stellung der verschiedenen
0061Concertvereine gestaltet hat durch Brahms’ reichlich fließende
0062Productivität. Unsere öffentlichen Concerte haben zehn Jahre
0063vollauf zu thun, um neben ihrem älteren Repertoire die
0064bisher erschienenen Orchester- und Chorcompositionen, Kam-
0065mermusiken und Gesänge von Brahms genügend zu wieder-
0066holen, uns in Fleisch und Blut zu verwandeln; und wäh-
0067rend dieser zehn Jahre wird Brahms ihnen hoffentlich Ar-
0068beit liefern für weitere zwanzig. — Ein liebenswürdiges
0069Genrebildchen von echt französischem Esprit, ungefähr im
0070Tone Chopin’s oder Stephen Heller’s, ist die „Serenade“
0071für Clavier und Violoncell von Saint-Saëns (aus
0072dessen Suite Op. 16); Door und Popper spielten sie reizend.
0073Den Beschluß machte Wilhelm Speidel’s F-moll-Trio 
0074(Op. 36), eine Composition, die zwar weder in die Tiefen
0075musikalischer Speculation dringt, noch einen hohen Flug der
0076Begeisterung nimmt, sich aber ohne Frage angenehm
0077anhört. Dies gilt namentlich von den zwei ersten
0078Sätzen, in welchen eine jugendlich schwärmerische Empfin-
0079dung ungezwungenen und doch maßvollen Ausdruck findet. 
0080Reminiscenzen-Jäger werden diese beiden Sätze nicht ohne
0081Beute verlassen; mir fehlt der Sinn für solches Vergnü-
0082gen; nur die Abhängigkeit des Speidel’schen Scherzos von
0083einem berühmten Schubert’schen Vorbild scheint mir etwas
0084stark. Das Finale, welches durch äußerliche Regsamkeit
0085und starke Klangeffecte die mangelnde innere Triebkraft zu
0086verdecken sucht, bietet am wenigsten Ansprechendes. Im
0087Ganzen hat Speidel’s Trio unleugbare Vorzüge, insbeson-
0088dere sein ungekünstelter, frischer Wohllaut hebt es hoch über
0089manche jener modernen Novitäten, welche so „distinguirt“
0090und unnatürlich sich geberden, daß jeder warme Blutstropfen
0091in ihnen zu gefrieren scheint. An Door’s erster Trio-
0092Soirée hatten wir nur den schwachen Besuch zu beklagen.
0093Er hing wol an zufälligen Umständen, sonst wäre das
0094Factum gerade hier in Wien kaum erklärbar. Durch ihr
0095Programm wie durch die Ausführung haben Door’s Soi-
0096réen sich längst einen Platz neben den Hellmesberger’schen
0097Quartetten erobert, ja sie leisten in interessanten Novitäten
0098noch mehr. Hoffen wir, daß die beiden folgenden Trio-
0099Soiréen (am 6. und 13. März) die Freunde guter Kammer-
0100musik vollzählig versammeln werden.


0101Auch das alljährlich wiederkehrende Compagnie-Concert
0102von Herrn Julius Epstein und Fräulein Helene Magnus 
0103erfreut sich eines festbegründeten Rufes, indem es der
0104Banalität der gewöhnlichen Concert-Programme ausweicht
0105und mit Consequenz werthvolle, selten gehörte Tondichtungen
0106in anmuthigster Ausführung darbietet. Epstein, einer
0107unserer vornehmsten und zugleich bescheidensten Tonkünstler,
0108prätendirt nicht den Ruhm des Virtuosen — des „Stark-
0109spielers“, wie man ehedem sagte — er überläßt Anderen
0110die blutigen Schlachtfelder Liszt’s und Rubinstein’s und
0111taucht desto fleißiger in die Tiefen unserer classischen Literatur
0112nach verborgenen Perlen. Diesmal spielte er Schubert’s 
0113selten gehörte Es-dur-Sonate, deren melodienfrischer erster
0114Satz und launiges Menuett (mit dem fünfactigen Rhythmus
0115im Trio) uns erfreuten; das Andante ist nicht bedeutend
0116und das Finale heitere Gesellschaftsmusik älteren Schlages.
0117Mit den Herren Kleinecke, Krankenhagen, Otter 
0118und Pöck spielte Herr Epstein Mozart’s Es-dur-Quintett,
0119das unverkennbare und unübertroffene Vorbild des Es-dur-
0120Quintetts Op. 16 von Beethoven. Für die Wahl der [2]
0121Beethoven’schen Variationen über ein Thema von Righini:
0122Venni amore“ (ohne Opuszahl, componirt um das Jahr
01231790 und der Gräfin Hatzfeld gewidmet), konnte wol nur
0124der Umstand sprechen, daß sie keiner unserer Zeitgenossen jemals
0125öffentlich gehört hat. Diese vierundzwanzig Variationen, nach
0126alter Art streng symmetrisch in der Tactzahl, unfrei in der
0127Modulation und sehr dünn im Claviersatze, erregen heute
0128kein selbstständiges Interesse mehr. Erst die letzte Variation
0129nimmt einen etwas freieren Verlauf und wagt einige
0130hübsche, kühne Uebergänge; sonst läßt das ganze Heft
0131nicht ahnen, daß sein Autor gerade die Variationen-
0132form zu einer so ungeahnten Höhe emporheben sollte.
0133Epstein trug diese Stücke mit musterhafter Correctheit und
0134feinem Stylgefühle vor, accompagnirte überdies sämmtliche
0135Lieder von Fräulein Magnus in vollendeter Weise. Für das
0136Repertoire seiner nächsten Concerte haben wir nur den Wunsch,
0137es möchte neben älteren Meistern doch auch die Neuzeit be-
0138achten, insbesondere in jenen einfacheren, poetischen Charakter-
0139stücken, welche von den Virtuosen ignorirt werden. Wir er-
0140innern insbesondere an Theodor Kirchner, in dessen Prä-
0141ludien etc. sich reizende Poesien finden. Unsere Wiener Clavier-
0142spieler scheinen von Kirchner so gut wie gar nichts zu wissen,
0143von dem ihm stylverwandten Stephen Heller nicht viel
0144mehr. Von jedem dieser Componisten sind im Ganzen nur
0145zwei bis drei kleine Stücke in Wien öffentlich gespielt wor-
0146den. — Fräulein Helene Magnus war an ihrem Concert-
0147abend gut bei Stimme (bei Geist und Gemüth ist sie
0148immer) und hatte eine glückliche Auswahl getroffen. Das
0149Hauptstück ihrer Vorträge bildeten drei Romanzen („Magel-
0150lone“) von J. Brahms, dessen neueste Lieder-Composi-
0151tionen wir demnächst eingehender würdigen wollen. Cho-
0152pin’s
seelenvolles, durch die nationale Färbung so eigen-
0153thümlich wirksames „Littauisches Volkslied“ und drei Schu-
0154bert’sche Lieder folgten. Unter letzteren wirkte „Alinde“ bei-
0155nahe wie eine neue Entdeckung; das in lauter Wohllaut so
0156schlicht und herzlich sich aussprechende Lied (Op. 81) steht
0157zwar in allen Gesammt-Ausgaben, blieb aber bis heute auf-
0158fallend unbeachtet. In dem reichhaltigen Programme Fräu-
0159lein Magnus’ möchten wir nur Eines beanständen, das
0160Wiegenlied“ von Taubert, so zierlich es auch vorgetragen
0161war. Dergleichen „Sum-Sum“ und „Brum-Brum“-Lieder 
0162singt man doch lieber zu Hause den kleinen Kindern vor,
0163als erwachsenen Leuten im Musikvereinssaal. Das Concert
0164Magnus-Epstein gehörte zu den allerbesuchtesten und bei-
0165fälligst aufgenommenen dieser Saison.


0166Hellmesberger’s viertem Quartett-Abend und
0167dem Concerte der Pianistin Fräulein Constanze Mayer 
0168konnten wir leider nicht beiwohnen. In ersterem soll ein
0169Quintett von dem hier lebenden Componisten Karl Gra-
0170mann
sehr gefallen haben, in letzterem die jugendliche Con-
0171certgeberin selbst, deren Technik und Vortrag gerühmt
0172werden. — Gehen wir zu den Productionen unserer
0173größeren Vereine über, so haben wir zunächst das Concert
0174der von Rudolph Weinwurm geleiteten Sing-Akademie
0175hervorzuheben, deren gemischter Chor sich abermals in clas-
0176sischen und modernen Compositionen sattelfest erwies und
0177mit sehr gelungenen Solovorträgen Fräulein Tomsa’s 
0178und Herrn Buchholz’ wirksam abwechselte. — Der
0179Schubertbund“ hat sich aus kleinen Anfängen schon
0180recht stattlich emporgearbeitet, wie sein jüngstes Concert im
0181großen Musikvereinssaale bewies. Sympathischer ist uns
0182trotzdem dieser, größtentheils aus Schulmännern bestehende
0183Verein in seinem künstlerischen Stillleben, als in solch an-
0184spruchsvollen und kostspieligen Monstre-Concerten mit Vir-
0185tuosen, Solosängern, Hofopern-Orchester und dem unver-
0186meidlichen „Germanenzug“ von Franz Mair. Die Herren
0187vom „Schubertbund“ singen unter der tüchtigen Leitung von
0188Mair und Schmid sicher und correct; ein letzter Hauch
0189von Poesie fehlt allerdings, der Vortrag hat etwas lehrhaft
0190Pädagogisches. Eine kleine Novität gefiel durch ihren zwar
0191nicht bedeutenden, aber freundlich ansprechenden Inhalt:
0192Die schönen Augen der Frühlingsnacht“, von H. Neck-
0193heim
. Als riesige Schlußnummer dieses ermüdend langen
0194Concertes paradirte eine gekrönte Preiscomposition von Wil-
0195helm Tschirch: „Eine Nacht auf dem Meere“, dramati-
0196sches Tongemälde für Soli, Chor und Orchester. Wenn
0197jener Preis ausgeschrieben war für hervorragende Lang-
0198weiligkeit, dann begreifen wir die Krönung dieses Opus.
0199Schon der Einleitungschor: „Heilige Nacht!“ mit seinem
0200lahmen Rhythmus und seiner abgestandenen Matrosen-
0201Frömmigkeit gibt die schlimmsten Aussichten für den weite-
0202ren Verlauf. Es folgt ein Wechselgesang zwischen Steuer
0203mann und Capitän; beide triefen von deutscher Liedertafel-
0204Sentimentalität. Hierauf: „Windstille“, „Matrosenlied“,
0205„Seesturm“ — Alles ohne einen Zug jener realistisch ange-
0206schauten und poetisch empfundenen Marinebilder, wie sie
0207Mendelssohn in der „Meeresstille“, Wagner im „Fliegenden
0208Holländer“ und mit al-fresco-Strichen Meyerbeer in der
0209Afrikanerin“ vorbringen. Den Ausgang des Tschirch’schen
0210Sturmes mit Rettung, Morgenroth und Dankgebet habe ich
0211nicht mehr erlebt. Bei den unvergleichlichen Versen: „Welch
0212Getöse, welch Gekrache! Hölle schweige, Himmel lache! Gott,
0213schau nieder voll Erbarmen! Sei uns gnädig, hilf uns
0214Armen“ — dachte ich: Mensch hilf dir selber! und rettete
0215mich aus dieser Ocean-Phantasie eines auf dem Gänse-
0216teich aufgeregt rudernden Landschulmeisters. Der „Schubert-
0217bund“ erfreute sich der Mitwirkung der Pianistin Fräulein
0218Pauline Fichtner, welche Beethoven’s Es-dur-Concert 
0219mit bedeutender Bravour unter lebhaftem Beifall vortrug.


0220Im siebenten Philharmonischen Concerte 
0221spielte der königlich sächsische Concertmeister Herr Lauterbach 
0222die Spohr’sche Gesangsscene mit gewohntem großen Erfolg.
0223Lauterbach ist den Wienern kein Fremder; wir kennen und
0224lieben ihn ganz besonders in jenem Spohr’schen Concertstück,
0225worin seine Geige klingt wie süßer Nachtigallenton. Von
0226Orchesterwerken kamen außer den Ouvertüren zu „Ruy
0227Blas“ von Mendelssohn und zum „Wasserträger“ von
0228Cherubini noch drei Sätze aus Berlioz’Romeo und
0229Julie“ zur Aufführung. Sie sind in dieser mit Recitativen,
0230Chören und Sologesängen untermischten „dramatischen
0231Symphonie“ die drei einzigen selbstständigen Instrumental-
0232sätze; sie allein haben sich aus jenem großangelegten, wun-
0233derlichen Mischwerk erhalten und verdienen es. Die schmerz-
0234liche Seligkeit der „Liebesscene“ und den berückenden Glanz
0235des Scherzo „Fee Mab“ kennt man aus wiederholten Auf-
0236führungen; das Philharmonische Orchester, mit Dessoff 
0237an der Spitze, spielt hier bewunderungswürdig. Diesmal
0238wurde, mit gutem Recht, auch der erste Satz dazu gegeben
0239(„Romeo allein. Melancholie. Großes Fest bei Capulet“),
0240welcher freilich weniger einheitlich und geringer in der Er-
0241findung ist. Allein er hat seine eigenthümlichen Reize, ins-
0242besondere in der schwermüthigen, langsamen Einleitung.
0243Eine gewisse Dürftigkeit und Herbe der Melodie ist für alle [3]
0244lyrischen Stücke von Berlioz charakteristisch, hier wird dieser
0245Mangel zum getreuen Ausdruck der Situation. Romeo ist
0246allein, allein mit jener unsäglich niederdrückenden Schwer-
0247muth, welche das Herz zersprengen würde, zöge nicht wie
0248eine leichte Silberfurche ein Schimmer von Seligkeit hin-
0249durch. In solcher unbeschreiblich wunden Stimmung kann
0250man nicht laut und frei heraus mit der Stimme; etwas
0251Beklommenes, Stockendes, Hilfloses liegt in diesen Tönen,
0252aber auch eine rührende Beredsamkeit. Das ist Alles bei
0253Berlioz aufs tiefste erlebt, nicht errathen noch erkünstelt,
0254und darum spiegelt sein Adagio so getreu jene Stimmung,
0255welche ein österreichischer Dichter in die Worte preßt:


0256Mir ist, als zögen Arme mich schaurig himmelwärts, /
0257Als flöge jeder Vogel mir mitten durch das Herz! /


0258Montag Abends hörten wir Schumann’sManfred“,
0259nebst Kyrie und Credo einer Messe in As-dur von Franz
0260Schubert. Sie bildeten das Programm des ersten „Außer-
0261ordentlichen Gesellschafts-Concertes“ im großen Musikvereins-
0262saale. Der artistische Director Brahms, der bei solchen
0263Gelegenheiten nur allzusehr auf den Tondichter Brahms 
0264vergißt, fühlte sich verpflichtet, das Publicum mit einer bis-
0265her ungedruckt und unaufgeführt gebliebenen Kirchenmusik
0266von Franz Schubert bekannt zu machen. Das Autograph
0267(Eigenthum der Gesellschaft der Musikfreunde) ist ein merk-
0268würdiges Beweisstück für die ungewöhnliche Sorgfalt und
0269Anstrengung, welche Schubert diesem Werke widmete. Es
0270hat ihn vom November 1819 bis in den September 1822 
0271beschäftigt — ein für Schubert’s rasche Compositionsweise
0272unerhörter Zeitraum. Auch die Umarbeitungen und Correc-
0273turen sind hier zahlreicher und umfangreicher, als in anderen
0274Autographen dieses Meisters, der meist in Einem frisch
0275hinströmenden Zuge seine Gedanken freigab und sein Ziel
0276gern mit Einem Wurf erreichte. Für das Gloria dieser
0277As-dur-Messe hat er eine Fuge nicht weniger als dreimal
0278vollständig umgearbeitet. Wäre das Maß der Sorgfalt und
0279Bemühung entscheidend für ein Kunstwerk, so müßte Schu-
0280bert’s As-dur-Messe zuhöchst stehen unter seinen Werken.
0281Für meine Empfindung, die ich Niemandem aufdrängen will,
0282hat ein Lied wie „Sei mir gegrüßt“, „Du bist die Ruh’“
0283und hundert ähnliche von Schubert mehr Schönheit, Wahr-
0284heit und Eigenart, also mit Einem Worte mehr Werth als 
0285diese Messe. Aus ihr spricht nicht der echte und volle Schu-
0286bert, wie er, unser Freund und Tröster, in seinen weltlichen
0287Compositionen erscheint. Jedes schöne Lied von ihm über-
0288ragt ungleich höher die übrige deutsche Lieder-Composition,
0289als seine Messe das Niveau der besseren österreichischen
0290Kirchenmusik überragt. Den Familienzug dieser österreichi-
0291schen Kirchenmusik verleugnet die Schubert’sche Messe nicht,
0292wenn sie gleich übergroßem Hang zur Gemüthlichkeit Zügel
0293anlegt. Klar, wohlautend, formschön, auch würdig und fromm
0294nennen wir diese Musik, aber eines Schubert bedürfte es
0295nicht, um sie zu machen. Möglich, daß meine Empfänglichkeit
0296für rein musikalische Aufnahme von Kirchenmusik nicht
0297lebhaft genug ist; im Concertsaale empfing ich einen tiefen
0298Eindruck immer nur von jenen großen Ausnahmen, in
0299welchen höchste musikalische Kunst und Genialität gleichsam
0300auf eigene Faust ihre Wunder thun, die kirchlichen Formeln
0301und Zwecke uns gänzlich vergessen machen. Dies ist der Fall
0302mit Bach’s H-moll-Messe und Beethoven’s Missa
0303solennis. Dies ist nicht der Fall mit Schubert’s As-dur-
0304Messe. Die Aufführung von eigentlich kirchlichen, für den
0305praktischen Gottesdienst bestimmten Compositionen im Con-
0306certsaale ist an und für sich bedenklich und wird hier in den
0307Gemüthern der Hörer selten die rechte Resonanz antreffen.
0308Auch gestern schien es mir, als gleite die Schubert’sche Messe 
0309nicht blos an mir, sondern an der ganzen Versammlung
0310ziemlich eindruckslos ab. Damit soll weder die künstlerische
0311Pietät unseres Brahms, noch die treffliche Leistung des
0312„Singvereines“ auch nur im entferntesten verkannt sein.
0313Auf das Kyrie und Credo von Schubert folgte Schumann’s 
0314Manfred“. Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!
0315Diese gewaltigen, in ihrem schmerzlichsten Zucken noch wun-
0316derthätigen Klänge pochen vergeblich an kein Herz, so schüch-
0317tern auch manches vielleicht vor diesem verzehrenden Brande
0318zurückweiche. Welch wahrhafte, Sinn und Geist entzückende,
0319aus tiefster Seele heraufgeholte Musik! Ihr ebenbürtig und
0320blutsverwandt nur die Declamation Lewinsky’s. So oft
0321ich seinen „Manfred“ gehört — diese unbeschreiblichen Herzens-
0322töne seines Abschiedes von Astarte, dies rührende letzte
0323„Lebewohl!“ fassen mich immer mit gleicher Gewalt und
0324halten fest für alle Zeiten.