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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3543. Wien, Mittwoch, den 8. Juli 1874

[1]

Felix Mendelssohn und Ferdinand Hiller.


0002Ed. H. Wenn wir die bekannten „Reisebriefe“ Men-
0003delssohn’s ausnehmen, die ihm kaum geringere Liebe und Ver-
0004ehrung gewonnen haben, als manche seiner Tondichtungen,
0005so müssen wir das kürzlich erschienene Buch von Hiller 
0006als den anziehendsten und bedeutendsten Beitrag zur Cha-
0007rakteristik Mendelssohn’s bezeichnen. *) Ja, die neue Publi-
0011cation hat noch einen Reiz voraus vor jener älteren Samm-
0012lung: den anmuthigen Wechsel von Mendelssohn’s Briefen
0013mit den sie umrankenden Erzählungen Hiller’s, welche, die
0014weiße Linie der Bescheidenheit nirgends überschreitend, doch
0015den geistvollen Schriftsteller in eigenstem Lichte glänzen
0016lassen. Bekanntlich verband innige Freundschaft die beiden
0017Tondichter. Unter den musikalischen Zeitgenossen Mendels-
0018sohn’s wüßten wir auch keinen Zweiten, welcher durch vor-
0019nehmes, zugleich liebenswürdig frisches Wesen ihm so sym-
0020pathisch und durch Geist und Bildung so nahe verwandt ge-
0021wesen wäre, wie Hiller. Es war vorauszusehen, daß aus
0022dem riesig ausgedehnten Correspondenz-Garten Mendelssohn’s
0023(der in dieser Beziehung eine Art Humboldt der Musikwelt
0024vorstellte) die Briefe an Hiller in Duft und Farbe her-
0025vorstechen würden. Sie zeigen uns überdies den großen
0026Componisten von einer neuen Seite, nämlich in seinem Ver-
0027hältniß zu einem treugesinnten künstlerischen Kameraden. Es
0028war ein dankenswerther Entschluß, welcher Hiller nach
0029langem Zaudern endlich zur Enthüllung dieses für beide
0030Theile ehrenvollen Denkmals antrieb.


0031Als elfjähriger Knabe lernte Hiller im elterlichen Hause
0032zu Frankfurt am Main den jungen Felix kennen, welchem
0033damals schon der Ruf früher musikalischer Wunderthaten
0034vorausging. Hiller erzählt uns einige heitere Erlebnisse aus 
0035schönen Jugendtagen und kommt dann auf sein Zusammen-
0036leben mit Mendelssohn in Paris zu sprechen. Es war im
0037Winter 1831 auf 1832, zu einer Zeit also, wo Paris in
0038lebhaftem politischen, literarischen und künstlerischen Auf-
0039schwung die reichsten Anregungen auch in der Musik darbot.
0040Cherubini, Meyerbeer, Liszt, Chopin, Ole Bull, Kalkbrenner 
0041— sie Alle werden in einigen scharfen Charakterzügen vor
0042uns lebendig. Den alten Cherubini besuchte Mendels-
0043sohn gern und sagte von ihm: „Er ist ein so außerordent-
0044licher Meister. Nur sollte man doch denken, daß zum großen
0045Componisten vor Allem Wärme der Empfindung, Herz, Ge-
0046müth gehören müssen — ich glaube aber, Cherubini macht
0047Alles lediglich mit dem Kopfe.“ Mit Meyerbeer kam
0048Felix nicht viel zusammen und es verdroß ihn, häufig hören
0049zu müssen, er habe viel Aehnlichkeit mit dem Componisten
0050des „Robert“. Im ersten Moment mochten Gestalt und Hal-
0051tung einige Veranlassung dazu geben, auch trugen Beide ihr
0052Haar in gleicher Weise. Als auch Hiller seinen Freund damit
0053aufzog, wurde dieser ernstlich ärgerlich und erschien andern
0054Tags mit gräulich geschnittenen oder verschnittenen Haaren.
0055Hiller erzählt noch viel Lustiges und Interessantes aus
0056diesem Aufenthalt in der französischen Hauptstadt, welche
0057Mendelssohn später nie wieder besucht hat.


0058Es folgt die Zeit von Mendelssohn’s Wirksamkeit in
0059Düsseldorf und damit der Anfang seiner Correspondenz mit
0060Hiller (1835). An mancher Aeußerung frappirt die merk-
0061würdige künstlerische Mäßigung und Abgeklärtheit, die Men-
0062delssohn so früh errungen. Anläßlich einer Reise nach Düs-
0063seldorf schreibt er über seine Reisegefährten Hiller und
0064Chopin: „Beide laboriren etwas an der Pariser Ver-
0065zweiflungssucht und Leidenschaftssucherei und haben Tact
0066und Ruhe und das recht Musikalische oft gar sehr aus den
0067Augen gelassen, ich nun wieder vielleicht zu wenig, und
0068so ergänzen wir uns und lernten, glaube ich, alle Drei von
0069einander, indem ich mir ein Bischen wie ein Schulmeister
0070und sie sich ein Bischen wie Mirliflors oder Incroyables
0071vorkamen.“ Die Freunde verlebten bald darauf fröhliche 
0072Tage in Frankfurt, wo Hiller als Vertrauter von Mendels-
0073sohn’s anfangs sorgfältig verborgener Neigung für die schöne
0074Pastorstochter Cécile Jeaurenauel auftritt. Im
0075März 1837 wurde Mendelssohn mit seiner Cécile getraut,
0076und zwar, der Confession der Braut gemäß, in der fran-
0077zösisch-reformirten Kirche. Es hatte etwas Eigenthümliches,
0078einen so echt deutschen Künstler in diesem ernsten Momente
0079französisch anreden zu hören, aber das in jedem Betracht
0080so anziehende Paar fesselte und rührte alle Herzen. Die
0081Ehe Mendelssohn’s ward eine der idealsten, beglückendsten,
0082die es gegeben; man wird die Briefstellen, in welchen er
0083von seiner Frau spricht, nicht ohne Rührung lesen. Er be-
0084reut es, der Einladung zum Birminghamer Musikfest gefolgt
0085zu sein, und schreibt aus London: „Ich muß doch wol meine
0086Frau ein Bischen lieb haben, denn mir schmeckt England 
0087und Nebel und Beaf und Porter diesmal infam bitter —
0088und ich liebe das Alles doch sonst. Ich will jetzt hier gar nichts
0089machen, als schimpfen und mich nach meiner Cécile sehnen.
0090Was hilft mir aller doppelter Contrapunkt, wenn die
0091nicht da ist!“


0092Von besonderem musikalischen Interesse sind Mendels-
0093sohn’s Briefe aus Leipzig, Zeugnisse seiner außerordent-
0094lichen Thätigkeit daselbst als Dirigent, Pianist und Ton-
0095dichter. Er klagt, daß das viele Dirigiren während der
0096zwei Concertmonate ihn mehr mitnehme als eine Compo-
0097nisten-Thätigkeit von zwei Jahren. „Und wenn ich nach der
0098größten Hetze mich frage, was eigentlich geschehen ist, so ist’s
0099am Ende kaum der Rede werth, wenigstens interessirt mich’s
0100nicht sehr, ob all die anerkannt guten Sachen einmal mehr
0101oder einmal besser gegeben werden oder nicht. Das Einzige,
0102was mir jetzt interessant ist, sind die neuen, und daran
0103fehlt es allzusehr.“ Eine hübsche Parallelstelle dazu, welche
0104wir Kritiker besonders dankbar empfinden, gibt Mendels-
0105sohn anläßlich des Kölner Musikfestes: „Ich mag so gern
0106einiges Ungewisse, das mir selbst und dem Publicum Raum
0107zu einer Meinung gibt; im Beethoven, Händel und
0108Bach weiß man schon so vorher, was man daran hat, das [2]
0109muß dabei bleiben, aber viel Anderes dazu. Du hast ganz
0110Recht, daß es in Italien besser ist, wo die Leute alle Jahr
0111eine neue Musik und ein neues Urtheil haben müssen, wenn
0112nur die Musik und die Urtheile selbst ein Bischen besser
0113wären.“


0114Mit unermüdlicher Freundschaft verfolgt Mendelssohn 
0115die künstlerische Thätigkeit Hiller’s, drängt ihn zu immer
0116neuem Schaffen, sucht ihn für eine feste Stellung in Deutsch-
0117land zu gewinnen und führt dessen Novitäten in den Ge-
0118wandhaus-Concerten mit ebenso viel Liebe wie Erfolg vor
0119die Oeffentlichkeit. Die bedeutendste Wirkung darunter machte
0120im Jahre 1844 Hiller’s Oratorium: „Die Zerstörung Jeru-
0121salems“. Interessant ist eine theoretische Controverse zwi-
0122schen beiden Freunden. Mendelssohn bedauert nämlich bei
0123Besprechung einer neuen Hiller’schen Ouvertüre, daß das
0124warme Interesse des Hörers an den Themen dieser Com-
0125position im Verlaufe der Durchführung immer mehr schwinde.
0126Er wisse recht gut, daß kein Musiker seine Gedanken, sein
0127Talent anders machen kann, als der Himmel sie ihm gibt;
0128„daß er aber, wenn der Himmel sie ihm gut gibt, sie auch
0129gut ausführen können muß“, das sei unzweifelhaft.
0130Was Hiller darauf erwidert, erscheint uns schla-
0131gend und drängt überzeugend auf seine Seite in
0132der häkeligen Frage, wo die Macht der Begabung
0133aufhöre und die Macht der Mache anfange? Nach Men-
0134delssohn’s Meinung würde Alles, was in den Bereich der
0135melodischen Erfindung gehört, die Sache der ersteren
0136sein und die Entwicklung in den Bereich des ernsten
0137Willens gehören. Hiller erachtet es hingegen für einen
0138Irrthum, „die vollendete Entwicklung weniger von der
0139genialen Begabung abhängig machen zu wollen, als die
0140erste Erfindung“. „Man könnte sogar behaupten,“ fährt er
0141fort, „daß sich in der Vereinigung jenes musikalischen Den-
0142kens und Grübelns mit dem Feuer der Einbildungskraft
0143ein noch höherer Grad productiver Genialität geltend macht,
0144als in der Gestaltung der einfachen melodischen Idee. In
0145den besten Compositionen Bach’s, Händel’s, Mozart’s, 
0146Haydn’s und Beethoven’s wird man keine Trennung auf-
0147weisen können zwischen Erfindung und Mache. Ja, der Fälle
0148sind nicht wenige, wo gerade die ganze Macht ihres Genies
0149in dem sich zeigt, was sie aus verhältnißmäßig weniger
0150bedeutenden Keimen entsprießen lassen.“ Der Musiker möge
0151die ganze schöne Ausführung dieses Grundgedankens bei
0152Hiller selbst nachlesen. Auch im Urtheil über einzelne Com-
0153ponisten und Tonwerke treten die beiden Freunde sich mit-
0154unter entgegen. Wenn Mendelssohn nicht begreift, wie
0155Hiller an Berlioz’ Phantastischer Symphonie „irgend
0156etwas finden kann“, da doch „nichts Faderes, Langweilige-
0157res und Philisterhafteres“ denkbar sei, so erscheint die über-
0158treibende Härte dieses Urtheils wol nur aus dem Umstande
0159erklärlich, daß Mendelssohn die Symphonie blos aus dem
0160Clavierauszuge kannte. Hingegen können wir nur vom Her-
0161zen secundiren, wenn Mendelssohn also losdonnert: „Wenn
0162du Mercadante’sGiuramento“ lobst, so schlag’ die
0163schwere Noth zehntausendmal drein, denn ich hab’ den Cla-
0164vierauszug lange genug auf meiner Stube gehabt und mir
0165gewiß alle Mühe gegeben, und find’s doch ganz unerträg-
0166lich, ordinär und nicht Eine Note darin, die mir den ge-
0167ringsten Spaß machte.“ Freilich muß man hier auch wieder
0168die Zeit in Anschlag bringen (1839) und die wahrscheinlich
0169treffliche Aufführung, durch welche Hiller den „Giuramento“
0170in Mailand kennen gelernt.


0171Hiller’s Schmerz über den Tod seiner vortrefflichen
0172Mutter veranlaßt Mendelssohn, den Freund immer drin-
0173gender zu einem Besuch nach Leipzig zu bereden. „Wie hab’
0174auch ich das von Herzensgrund gefühlt, daß alle Kunst und
0175Poesie und was uns sonst lieb und werth ist, in solchen
0176Augenblicken so leer und trostlos dasteht. Einem so wider-
0177wärtig und klein vorkommt und kein Gedanke Stich hält
0178als der Eine: wollte Gott helfen!“ Hiller trifft im De-
0179cember 1839 in Leipzig ein und wohnt bei Mendelssohn,
0180dessen Häuslichkeit, Tagesordnung und Gewohnheiten er uns
0181auf das anschaulichste schildert. „Wann und wie Mendels-
0182sohn eigentlich inmitten so vielfach zerstreuender Verhältnisse 
0183arbeitete, würde schwer zu begreifen sein, wenn ihm nicht ein
0184so wunderbarer geistiger — Gleichmuth möchte ich’s nennen,
0185innegewohnt. Im Allgemeinen war er stets Herr seiner
0186Kräfte, womit nicht gesagt werden soll, daß er zu jeder
0187Stunde hätte componiren können oder mögen — aber daß
0188er es oft dann that, wenn man es am wenigsten vermuthete,
0189ist sicher.“ Gern und mit überfließender Wärme sprach Men-
0190delssohn von dem Glück der Freundschaft und der Zunei-
0191gung bedeutender Menschen. „Es ist sicherlich das Beste,
0192was man hat. Wenn ich zuweilen so recht unzufrieden mit
0193mir bin, denke ich an Diese und Jene, die mir freund-
0194schaftlich zugethan sind, und sage mir, es muß doch so
0195schlimm nicht mit dir stehen, wenn solche Männer dich lie-
0196ben.“ Es thut weh, zu erfahren, daß selbst in der so innigen,
0197langjährigen Freundschaft zwischen Mendelssohn und Hiller 
0198schließlich irgend eine mißverständliche Empfindlichkeit Span-
0199nung und Entfremdung herbeiführen konnte. Hiller zweifelt
0200nicht, daß Mendelssohn’s Gesinnung gegen ihn die gleiche
0201geblieben sei, aber mit dem Correspondiren war es aus.
0202Der letzte Brief ist vom März 1843 datirt; als Hiller im
0203November 1847 nach Leipzig kam, war Mendelssohn eben
0204gestorben. Hiller gesteht rückhaltlos, er betrachte das Auf-
0205hören seines Verhältnisses zu Mendelssohn während seiner
0206letzten Jahre als einen der größten Verluste, die er in sei-
0207nem vielbewegten Leben zu tragen hatte. Es ist die alte
0208traurige Geschichte, die sich vielleicht nicht gar so häufig
0209wiederholen würde, wenn wir uns recht oft und tief Frei-
0210ligrath’s Gedicht: „O lieb’, so lang du lieben kannst“, ein-
0211prägen wollten.


0212Eine der schönsten und heilsamsten Betrachtungen stellt
0213Hiller an den Schluß seines Buches; sie gilt dem Einfluß,
0214welchen Reichthum oder Armuth auf die Entwicklung eines
0215Genies üben. Man hat oft die Gunst von Mendelssohn’s
0216äußeren Verhältnissen gepriesen, die ihn materiell unabhängig
0217machten. Es ist ohne Frage eine glückliche Fügung, nicht
0218blos für den Künstler, sondern auch für sein Publicum, für
0219die Nation, wenn er nicht gezwungen ist, allerlei Modetand [3]
0220und unbedeutendes Zeug zu componiren, wie es Mozart 
0221und Schubert thun mußten. Was Rousseau in seinen
0222Confessions“ gegen die Literaten von Fach äußert: „II est
0223trop difficile de penser noblement, quand on ne pense
0224que pour vivre“, paßt in gewissen Grenzen gewiß auch auf
0225Künstler. Dies vorausgeschickt, muß die Art, wie Hiller die
0226Kehrseite jener Unabhängigkeit betrachtet, überaus treffend
0227und geistreich genannt werden. Wir können uns nicht ver-
0228sagen, die Stelle mit einigen Kürzungen wörtlich hier wieder-
0229zugeben; sie ist doch zugleich die beste Empfehlung des
0230ganzen Buches. „Dem großen Publicum,“ sagt Hiller,
0231„scheint es im Allgemeinen nicht zu mißfallen, wenn es
0232großen Dichtern (in Worten und Tönen) einigermaßen
0233schlecht geht. Man beklagt deren Schicksal, aber der Jam-
0234mer, den dieselben erlitten, ist ein Gewürz, welches ihre
0235Persönlichkeit schmackhafter macht. Der äußere Glanz, welcher
0236Goethe umstrahlte, hat ihm sicherlich viele Gegner ein-
0237getragen, und die bevorzugte Lage, welche Mendels-
0238sohn
von seiner Geburt an zu Theil geworden, ist für
0239gar Manche ein Flecken, der an ihm haftet. . . . Der
0240Kampf um die gemeinen Bedürfnisse des Lebens mag immer-
0241hin ein schwerer sein — an und für sich hat er nichts sonder-
0242lich Verdienstliches. Es ist der Instinct der Selbsterhaltung,
0243welcher auch den Taglöhner zur Arbeit zwingt, und der
0244Kampf wird zwar peinlicher, aber nicht anerkennenswerther,
0245wenn der Kopf statt der Arme dabei im Spiele ist. Ein
0246anderer Kampf ist der mit dem Vorurtheil, mit dem Un-
0247verstand, mit der Eifersucht und wie alle die schönen Dinge
0248heißen mögen — aber welchem Ritter vom Geiste ist dieser
0249erspart? Und in diesem Kampfe die Lust des Schaffens, die Kraft
0250des Wollens sich zu erhalten, dazu gehört viel mehr, als jenen
0251zu bestehen. Schlimm ist es freilich, wenn, was sich oft
0252genug ereignet, beide zusammentreffen. Ob aber die größere
0253Bewunderung, die man demjenigen zu zollen pflegt, der sich
0254durch Dürftigkeit durchzuschlagen hatte, vollkommen berech-
0255tigt sei, ist noch sehr die Frage. Jedenfalls kommt es dabei
0256wesentlich auf das Wie an. Vielleicht gehört sogar stärkere, 
0257weil freiere Willenskraft dazu, aus dem Reichthum heraus
0258Großes zu leisten, als aus der Armuth. Wer hat nicht
0259Menschen gekannt von bedeutender Begabung, von vielseiti-
0260gem Wissen, von übersprudelnder Beredsamkeit, welche Her-
0261vorragendes für die Oeffentlichkeit hätten leisten können, aber
0262es ging ihnen, was man so nennt, zu gut. Wenn man
0263Reichthum und Stellung mit auf die Welt bringt, bleibt
0264von weltlichen Glücksgütern nur noch der Ruhm zu erlan-
0265gen übrig, nach welchem zu trachten nicht Jedermanns Sache
0266ist. . . Wenn nun ein Künstler wie Mendelssohn seine ganze
0267Kraft zusammenraffte, um dem kleinsten Liede, welches ihm
0268entströmte, die Vollendung zu geben, die ihm stets als Ideal
0269vorschwebte; wenn er mit Anspannung seines vollen Könnens
0270und Wissens Alles aufbot, um in seiner Kunst nach jeder
0271Seite hin das Beste zu fördern, so verdient dies in der
0272materiell sorgenfreien Stellung, die ihm beschieden war,
0273sicherlich nicht weniger Anerkennung, als wenn er auf den
0274Lohn seiner Arbeit hätte warten müssen, um seine Gläubiger
0275zu befriedigen. Oder ist jene Vorliebe für den Jammer die
0276unausgesprochene, am besten auch gar nicht zu nennende
0277Empfindung, daß es des Guten zu viel sei, wenn sich das
0278äußere Wohlergehen mit dem Glücke dichterischer Schöpfungs-
0279kraft vereinigt? Sollte jene Vorliebe nicht aus einem Irr-
0280thume hervorgehen? Sollte die Genugthuung dessen, der
0281kraftvoll die gemeine Sorge besiegt, nicht noch größer sein
0282als die Befriedigung desjenigen, an welchen sie nie heran-
0283getreten?“


0284Sei dem wie ihm wolle, der Anblick jener geistigen
0285Kämpfer, die, wie die Helden in Kaulbach’s „Hunnenschlacht“,
0286die Erde nicht berühren und in den Wolken nach dem Siege
0287ringen, ist jedenfalls ein erfreulicherer als der Anblick der-
0288jenigen, die, auf der Erde fechtend, den Staub aufwirbeln.
0289Jene werden selbst zum Kunstwerk. Der Anblick ihrer Licht-
0290gestalten ist ein schöner, ganz abgesehen von den Palmen, die
0291ihnen winken, und man sollte sich stolzer Freude hingeben,
0292daß es, wenn auch allzu selten, dem Schicksal gelingt, einen
0293wahrhaft freien Menschen hinzustellen.

Fußnoten
  • *)Felix Mendelssohn-Bartholdy: Briefe und
    Erinnerungen. Von Ferdinand Hiller (Köln 1874. Verlag von
    Dumont-Schauberg. 196 Seiten in Octav.)