Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3626. Wien, Mittwoch, den 30. September 1874
[1]Von der Oper.
0002Ed. H. Wenn unsere Nordpolfahrer unter anderen
0003Raritäten und Kostbarkeiten auch eine Opernpartitur mit-
0004gebracht hätten, sie wären heute um ein Verdienst und um
0005eine Dankadresse reicher. Denn eine so außerordentliche
0006Seltenheit dürfte doch vielleicht die Genehmigung der hohen
0007General-Intendanz zur Aufführung im Hofoperntheater er-
0008langen, nachdem allen unter dem 80. Grad nördlicher
0009Breite componirten Novitäten diese Hoffnung, wie es scheint,
0010abgeschnitten ist. Von der Direction des Hofoperntheaters
0011ist freilich kein Wörtchen über diese schon hinreichend bren-
0012nende Frage zu erfahren, sie hüllt sich in eine imposante
0013Wolke von Amtsgeheimniß. Wenn nicht das inspirirte Organ
0014der General-Intendanz selbst sein melodisches Sonntags-
0015glöckchen geschwungen hätte, wir wüßten nichts davon, daß
0016Director Herbeck schon vor längerer Zeit eine Reihe von
0017Novitäten zur Aufführung vorgeschlagen, aber für keine der-
0018selben die Genehmigung seines hohen Chefs erlangt habe.
0019Diese Novitäten sind: „Tristan und Isolde“ von R. Wag-
0020ner, „Benvenuto Cellini“ von H. Berlioz, „Die Köni-
0021gin von Saba“ von K. Goldmark und „Das Leben für
0022den Czar“ von Glinka.
0023Gegen den Vorschlag von „Tristan und Isolde“ darf
0024man nichts einwenden. Es ist dies zwar für meinen indivi-
0025duellen Geschmack eine wahrhaft peinvolle Musik und selbst
0026von den Wagner-Enthusiasten verhältnißmäßig wenig geliebt,
0027aber der Name des Componisten wäre schon für sich ein
0028vollkommen deckender Schild. Dies scheint mir nicht der Fall
0029in dem zweiten berühmten Namen, mit Hector Berlioz.
0030Kein Concert-Institut darf diesen originellen, geistvollen Ton-
0031dichter ignoriren, aber die Operntheater dürfen es getrost.
0032Daß sein „Benvenuto Cellini“ 1838 in Paris und dreizehn
0033Jahre später in London eine vollständige Niederlage erlitt
0034(nach Fétis’ und Berlioz’ eigenem Anspruche „une chute
0035complète“), ist nicht empfehlend, aber auch noch nicht ent
0036scheidend. Daß hingegen diesem Orchester-Componisten par
0037excellence jeder Sinn für Gesangsschönheit fehlt, wie die
0038Gabe, durch sinnliche Gewalt der Melodien und dramatisch
0039anschauliches Leben von der Bühne zu wirken, das spricht
0040bedenklich gegen seine Opernmusik. Nur für Versuchsstationen
0041wie Weimar, überhaupt für kleinere Theater, die jährlich
0042fünf bis sechs neue Opern rasch einstudiren, empfehlen sich
0043dergleichen interessante Opern wie die Berlioz’schen, denen
0044es nicht an feinen geistreichen Einzelheiten, wol aber an
0045starker einheitlicher Wirkung fehlt. Die dritte vorgeschlagene
0046Novität, Goldmark’s „Königin von Saba“, hätte, als
0047das Werk eines geachteten einheimischen Componisten, jeden-
0048falls Berücksichtigung verdient. Den Vorzugsplatz unter den
0049genannten Novitäten darf man wol der russischen Oper:
0050„Das Leben für den Czar“, von Glinka, einräumen,
0051deren Aufführung ich bereits bei früheren Anlässen zu em-
0052pfehlen mir erlaubt habe. Glinka’s Oper besitzt vor den mei-
0053sten modernen Opern, deutschen namentlich, den Vorzug
0054frischer Natürlichkeit, spontaner und origineller Erfindung
0055und klarer dramatischer Wirkung. Das Werk eines großen
0056Meisters ist sie nicht, aber das eines großen und liebens-
0057würdigen Talentes. Ihre glänzenden musikalischen Vorzüge
0058entschädigen nicht nur reichlich für manche unleugbare Mängel
0059und Schwächen, sie versöhnen auch mit dem Fremdartigen
0060eines so specifisch russischen Stoffes. In Rußland seit 1839
0061die gefeiertste, populärste Oper, ist „Das Leben für den
0062Czar“ kürzlich auch in Mailand mit Erfolg aufgeführt
0063worden (ich erinnere an H. v. Bülow’s geistreichen Be-
0064richt in der Augsburger Allgemeinen Zeitung) und wird die
0065nächste Novität des Coventgarden-Theaters in London bilden.
0066Welche Gründe hat der Herr General-Intendant, der doch
0067kaum zu den drei bis vier Personen in Wien gehört, die
0068Glinka’s Oper kennen, sie einfach zu verwerfen? welche
0069Gründe, die übrigen Opern zurückzuweisen, ohne etwas
0070Besseres an die Stelle des Herbeck’schen Vorschlages zu
0071setzen? Die ganze Schädlichkeit einer solchen Intendanten-
0072Regierung, welche vom Bureautisch aus ein großes Theater
0073leiten will, offenbart sich wieder in diesen Vorgängen. An
0074sich unproductiv, hemmt sie überdies jede Productivität der
0075Direction, verzögert, verhindert, verbietet überall und macht
0076schließlich durch ihre Einmengung in das Detail der Theater-
0077führung jede künstlerische Leitung unmöglich. Es ist ein
0078altes Lied, das wir oft gesungen und heute nicht zum letzten-
0079male singen.
0080Wahrscheinlich bringt also das Hofoperntheater in diesem
0081Winter keine Novität. Als Ausbeute des Jahres 1874
0082bleiben die beiden Opern „Genovefa“ und „Aïda“.
0083Robert Schumann hat diesmal gegen Verdi den Kürzeren
0084gezogen; die Thatsache ist betrübend, aber sie ist unanfechtbar.
0085„Genovefa“ verschwand nach wenigen, mühsam sich fristenden
0086Vorstellungen, während „Aïda“ mit jeder Wiederholung leb-
0087hafteren Anklang findet und für lange hinaus eine Stütze
0088des Repertoires bleiben wird. Bei Gelegenheit der ersten
0089„Genovefa“-Aufführung versuchte ich eine Erklärung ihres
0090geringen Erfolges aus den Eigenthümlichkeiten dieses auf
0091anderem Gebiete so großen und bezaubernden Tondichters
0092und wie es komme, daß künstlerisch weit tiefer stehende ita-
0093lienische Componisten gerade in der Oper so viel sicherer
0094und kräftiger wirken. Ein Brief von Moriz Haupt-
0095mann, der mir später zu Gesicht kam, enthält eine hierauf
0096bezügliche sehr interessante Stelle. Hauptmann, dieser
0097gediegene, echt deutsche Musiker, schreibt nämlich im Jahre
00981834 über Bellini’s „Montecchi und Capuletti“: „Das
0099einfältige Misere der beiden Leute im ersten Finale rührt
0100mich, packt mich selbst auf eine Weise, wie ich’s gar nicht
0101sagen mag; nicht das erstemal etwa, sondern je mehr ich’s
0102gehört habe — es muß wol etwas der Art gerade an
0103diesen Platz gehört haben, ein bischen so, ein bischen anders,
0104darauf kommt dann so viel nicht an, in der Hauptsache
0105hat er’s getroffen. Wenn man bedenkt, wie Vieles an einer
0106solchen in vierzehn Tagen geschriebenen Oper ganz unbedeu-
0107tend, wie Vieles gar nichts ist, auf wie wenig die eigentliche
0108Wirkung beruht, die sie denn doch macht, nicht auf diesen
0109oder jenen, sondern auf viele Tausende von Menschen in
0110allen Ländern, wo gesungen wird, und nicht blos in Italien
0111oder Frankreich, sondern in Deutschland, wo man für das[2]
0112selbe Geld einen „Vampyr“, eine „Räuberbraut“ etc. hören
0113könnte (aber nicht mag), so — fehlt mir der Nachsatz —
0114aber einiges musikalische Talent muß man so einem Men-
0115schen doch zugestehen, ein Naturell, das der Oper
0116viel näher ist, als ihr unsere Clavier- und Geigen-
0117männerchen und Generalbassisten sind und je kommen wer-
0118den. Das wird nicht gelernt — Italiener und Franzosen
0119haben von jeher eine Oper gehabt, jederzeit eine zeitgemäße,
0120sie haben es nicht nach und nach gelernt, es war eben da,
0121weil es am geeigneten Organ nicht fehlte, das was eben
0122auszusprechen war, als Oper auszusprechen. Bei uns ist’s
0123und bleibt’s eine künstliche Geschichte!“
0124Während das italienische Talent in der Oper als
0125musikalische Urkraft erscheint, die sich in schlagenden Wir-
0126kungen und starker, süßer, leidenschaftlicher Melodie äußert,
0127trägt das französische den Charakter einer schwächeren, abge-
0128leiteten, aber fein herausgebildeten und geschickt hantieren-
0129den Begabung. Also die richtige Eignung für das musika-
0130lische Lustspiel. Zwei französische komische Opern, welche
0131neben „Aïda“ die beiden größten Erfolge des abgelaufenen
0132Theaterjahres bezeichnen, haben dies neuerdings bewiesen:
0133„Le Roi l’a dit“ von Délibes und „La fille de
0134Madame Angôt“ von Lecoq. Der Titel eines treff-
0135lichen Essays von H. v. Sybel (in welchem leider nur
0136von Musik keine Rede ist) fällt mir stets dabei ein; er heißt:
0137„Was wir von Frankreich lernen können.“
0138Es ist wirklich komisch, wenn die Pedanten über den Erfolg
0139von „Madame Angôt“ wehklagen oder spotten, wie über
0140einen unverdienten und unbegreiflichen Glücksfall. Die
0141Wahrheit ist, daß in dieser Operette sich ein vortreffliches
0142Textbuch mit einer lebhaften, anmuthigen Musik verbindet,
0143und zwar so organisch und zwanglos verbindet, daß Eines
0144das Andere immer nur hebt, niemals drückt oder hindert.
0145Das gehört zu dem, was der deutschen komischen Oper ge-
0146wöhnlich fehlt und „was wir von Frankreich lernen können“.
0147Für die späte Nachwelt sind solche Opern freilich nicht ge-
0148macht; wer sagt auch, daß ein lustiges Theaterstück unsterb-
0149lich sein müsse? Uebrigens eine so ungeheure, rasch über
0150ganz Europa verbreitete Popularität wie die von „Madame
0151Angôt“, ist sie nicht auch eine Art comprimirter Unsterb-
0152lichkeit? Herr Lecoq verzehrt gleichsam in zwei bis drei
0153Jahren dasselbe Kapital von Erfolg, das berühmtere Com-
0154ponisten mit schwereren Werken in fünfzig bis sechzig Jahren
0155verzehrt haben. In Deutschland glaubt man gerne, daß
0156eigentlich nur dem Schweren ein legitimes Recht auf Erfolg
0157zustehe; man will nicht zugestehen, wie schwer das „Leichte“
0158sei und wie Franzosen und Italiener uns darin noch immer
0159überlegen sind. Fast gilt es von vornherein für ausgemacht,
0160daß mit jeder neuen französischen oder italienischen Oper,
0161die in Deutschland zur Aufführung kommt, ein Unrecht gegen
0162die deutschen Componisten begangen werde, und daß man blos
0163aus Modethorheit vom Ausland beziehe, was unsere Lands-
0164leute ebensogut oder noch besser können. Die vielgerühmte
0165deutsche Bescheidenheit, welche sonst so willig die Vorzüge
0166fremder Nationen anerkennt, erscheint hier in einem sehr
0167schielenden Lichte. Wir leugnen doch nicht, daß verschie-
0168dene Himmelsstriche und Lebensweisen auch verschiedene
0169Eigenthümlichkeiten in den Temperamenten, Anlagen
0170und Kunstfertigkeiten der Völker hervorbringen. Auch in
0171einer und derselben Kunst verschiedenartig sich abzweigende
0172Talente. Jedermann weiß, daß die Deutschen für das ganze
0173große Gebiet der Instrumental-Musik eine eminente, speci-
0174fische Begabung besitzen, daß sie in diesem Fache als Meister,
0175fast als Alleinherrscher dastehen. Franzosen und Italiener
0176erkennen das rückhaltlos an, wie die großen Concerte von Pas-
0177deloup und des Conservatoriums in Paris, die Instrumen-
0178tal- und Kammermusiken in den italienischen Hauptstädten
0179beweisen mit ihrem fast ausschließlich deutschen Repertoire.
0180Warum nicht unsererseits anerkennen, daß die specifische Be-
0181gabung für Opernmusik, das Talent, musikalisch von der
0182Bühne zu wirken, im Allgemeinen unter Italienern und
0183Franzosen verbreiteter und stärker sei, als bei uns? Den
0184Deutschen charakterisirt die Innerlichkeit des Gemüthslebens,
0185den Italiener die plastisch an die Oberfläche tretende
0186Empfindung. Welcher dieser Vorzüge eignet sich mehr für
0187dramatische Musik? Die italienische Melodie ist lebendiger,
0188greifbarer, einpräglicher als die deutsche, deßhalb für dra-
0189matische Wirkung günstiger. Den unverwelklichen Kranz
0190deutscher Opern, welche alles Französische und Italienische
0191überragen, kenne ich recht gut und brauche mich wol nicht
0192erst gegen den Verdacht zu schützen, als verkenne ich das
0193Gute der deutschen Opernmusik. Nur das Moment der
0194specifisch theatralischen Begabung sollte hier berührt werden,
0195und zwar mit dem dringenden Wunsche, es möchte dieser
0196Vorzug der romanischen Völker deutscherseits etwas weniger
0197unterschätzt oder geleugnet werden, desgleichen der zweite
0198Vortheil: ihre sichere Handhabung der Bühnentechnik.
0199Die Deutschen haben seit Mozart (der als Opern-
0200componist doch in gewissem Sinne der letzte große Italiener
0201heißen darf) nur drei eminent dramatische Talente aufzu-
0202weisen: Weber, Meyerbeer und Wagner, welchen
0203sich allenfalls — in gemessenem Abstand — Marschner
0204und Lortzing anreihen. Diese Männer haben sich von
0205Anfang an und vollständig der Oper gewidmet, wie dies
0206auch die Operncomponisten der Italiener und Franzosen
0207thun. Im Gegensatz dazu schrieben und schreiben noch immer
0208Hunderte von deutschen Componisten Opern, „mit heißem
0209Bemüh’n“, aber ohne specifisch dramatisches Talent, ohne
0210Kenntniß der Bühne, ja oft sogar ohne jedes warme Inter-
0211esse für das Theater. Diese Tondichter, welche, allenfalls
0212nach glücklichen Erfolgen im Fach der reinen Instrumental-
0213Musik, sich nebenbei auch in der Oper versuchen, sind dann
0214regelmäßig sehr erstaunt, wenn ihre Opern theilnahmslos ge-
0215hört und nach der dritten Vorstellung achtungsvoll beiseite
0216gelegt werden. Es lärmt dann ein förmliches Aufgebot der
0217Empörung in den vaterländischen Kritiken über den „ver-
0218dorbenen Geschmack“ des Publicums, während in Wahrheit
0219meistens die neuen deutschen Opern die verdorbene Waare
0220sind und das Publicum keineswegs den italienischen und
0221französischen Stempel dem deutschen, sondern das wirksame
0222Bühnenstück dem matten, effectlosen vorzieht. Auch was an
0223den schlechten Opern des Auslandes unserem Publicum ge-
0224fällt, ist eigentlich das Gute: die starke sinnfällige Wir-
0225kung, das unmittelbar fortreißende dramatische Temperament.
0226Wenn man in alten Musikzeitungen blättert, so erstaunt
0227man über die wegwerfende Mißachtung oder imper-
0228tinente Herablassung, mit welcher Rossini’s, Auber’s, [3]
0229Donizetti’s reizendste Sachen bei ihrem Erscheinen in
0230Deutschland beurtheilt wurden. Wäre es nicht einsichtsvoller
0231und ehrlicher, zu gestehen, daß keiner unserer deutschen Com-
0232ponisten im Stande ist, eine so liebenswürdig heitere Oper
0233zu schreiben, wie der „Barbier“, „Cenerentola“, „Der
0234Liebestrank“, „Don Pasquale“, „Fra Diavolo“, „Der
0235schwarze Domino“? Dieselbe heftige Journal-Opposition
0236herrscht in unserer Epoche gegen Gounod und Verdi,
0237deren Bestes trotzdem in Deutschland, wie überall, dem
0238Publicum lebhafte und anhaltende Befriedigung gewährt.
0239Man mache alle ihre zahlreichen Schwächen geltend, gestehe
0240aber auch, daß Gounod und Verdi unter den gegenwärtigen
0241Operncomponisten (den ganz apart stehenden R. Wagner
0242immer ausgenommen) die talentvollsten sind. Ihnen reihe
0243ich in seinem begrenzten Buffo-Genre ohne Bedenken
0244Offenbach an, was Talent und Theaterkenntniß betrifft.
0245Die deutsche Oper hat seit „Tannhäuser“ und „Lohen-
0246grin“, also einem Vierteljahrhundert (etwa mit Ausnahme
0247der noch wenig verbreiteten „Meistersinger“), nichts her-
0248vorgebracht, was eine nachhaltige, starke Wirkung geübt
0249hätte. In der deutschen Theaterdichtung, der poetischen
0250wie musikalischen, ist fast Alles entweder Gold oder
0251Kupfer. Das Silber, so unentbehrlich für das tägliche
0252Bühnenleben, fehlt.
0253Es ist ein großer, in unserer deutschen Musikwelt fest-
0254genisteter Irrthum, daß die Aufnahme deutscher Opern prin-
0255cipiell hintertrieben werde, während französische und italie-
0256nische Novitäten von vornherein bevorzugt seien. Ich will
0257die Geduld des Lesers hier nicht mit statistischen Tabellen
0258ermüden, sondern ihn lediglich auf einen beliebigen Jahr-
0259gang der Musikzeitung „Signale“ verweisen, welche die in
0260Deutschland, Italien und Frankreich neu componirten Opern
0261ziemlich vollständig zu verzeichnen pflegt. Daraus kann man
0262bestens entnehmen, daß es nur ein verschwindend kleiner
0263Bruchtheil der ausländischen Opern-Production ist, welcher
0264bei uns recipirt wird, und zweitens, daß in Deutschland
0265weit mehr neue deutsche Opern als neue italienische oder
0266französische zur ersten Aufführung kommen. Die Masse
0267die in einem Jahrzehnt in Italien producirten neuen Opern
0268ist geradezu enorm, die in Frankreich sehr ansehnlich. Aus
0269dieser Zahl werden verhältnißmäßig sehr wenige und nur
0270solche in Deutschland aufgeführt, welche von bereits berühm-
0271ten Componisten herrühren und einen großen Erfolg aufzu-
0272weisen haben. „Faust“ von Gounod, „Mignon“ von Am-
0273broise Thomas, kamen in Deutschland erst zur Aufführung,
0274nachdem sie in Paris weit über hundert Wiederholungen er-
0275lebt hatten. Hätte eine deutsche Novität in Berlin oder
0276Wien hundert Vorstellungen oder auch nur fünfzig nach-
0277einander erlebt, so würden alle anderen deutschen Bühnen
0278sich gewiß noch eiliger um sie bewerben. Nicht daß sie aus
0279Paris stammen, sondern daß sie durch einen ungeheuren
0280Erfolg erprobt sind, bringt Opern wie „Faust“, Singspiele
0281wie „Madame Angôt“ auf unsere Bühnen.
0282Wäre die Gier nach Italienischem und Französischem
0283hier wirklich so groß, wie die deutsche Presse gern behauptet,
0284so hörten wir längst eine Anzahl fremder Opern, deren da-
0285heim sehr angesehene Componisten hier nicht einmal dem
0286Namen nach bekannt sind.
*)
Selbst die Beliebtheit der
0291erfolgreichsten südländischen Componisten hat in Deutschland
0292eigentlich nur wenigen ihrer Werke Eingang verschafft. Auf
0293dem Repertoire des Wiener Hofoperntheaters befinden sich
0294von Verdi’s fünfundzwanzig Opern nur vier („Aïda“,
0295„Trovatore“, „Maskenball“ und „Rigoletto“), von Ambroise
0296Thomas’ fünfzehn Opern zwei („Mignon“, „Hamlet“), von
0297Gounod’s neun Opern zwei („Faust“, „Romeo“). Wenn
0298eine blinde Vorliebe für die Namen dieser Componisten
0299herrschte, müßten die Zahlen ganz anders aussehen; wohl-
0300gemerkt handelt es sich hier obendrein um die gefeiertsten
0301Componisten; ihre zahlreichen Collegen zweiten Ranges sind
0302in Deutschland so gut wie ignorirt. Hingegen ist die Zahl
0303der neuen deutschen Opern, die alljährlich in Deutschland
0304zur Aufführung kommen, eine sehr stattliche; das Verzeichniß
0305der in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland aufge-
0306führten deutschen Opern-Novitäten ist riesig. Der Unterschied
0307ist nur, daß die meisten französischen und italienischen Opern-
0308Novitäten sich durch ihre Wirkung auf dem Repertoire er-
0309halten, also bleiben, während die deutschen in der Regel
0310keinen Erfolg haben, also rasch verschwinden. Daran müssen
0311doch die Compositionen selbst ein wenig schuld sein. Auch
0312was man von den mächtigen Reclamen für ausländische
0313Producte vorbringt, ist irrig. Sie genießen in Deutschland
0314keine andere Protection, als den vorausgegangenen nach-
0315haltigen Erfolg in europäischen Hauptstädten. Was Re-
0316clame betrifft, so haben gewisse Opern-Novitäten von Ber-
0317lin, Stuttgart, München, Leipzig und Köln (ich will keine
0318Namen nennen) die großartigste Unterstützung von dieser
0319modernen Fee genossen. Aber die meisten dieser vom Local-
0320Patriotismus bejubelten Opern werden schon in der näch-
0321sten Stadt, welche den Versuch damit macht, sehr kalt auf-
0322genommen, ja selbst in der glücklichen Vaterstadt pflegen sie
0323ihren ersten Triumph nur kurze Zeit zu überleben. Solche
0324Erfahrungen sollten unsere deutschen Componisten doch end-
0325lich geneigt machen, ein wenig mit sich selbst zu Rathe zu
0326gehen und nicht immer die Schuld ihrer Mißerfolge auf
0327Andere zu wälzen. Es gibt ein sicheres Mittel, die Opern
0328von Verdi, Gounod, Thomas und Offenbach aus Deutsch-
0329land zu vertreiben: wir brauchen blos bessere oder ebenso
0330gute zu machen. Wie dankbar und glücklich unser Publicum
0331ist, wenn ihm eine gute deutsche Novität geboten wird, das
0332beweisen die Opern von R. Wagner, die sich über keine
0333ausländischen Rivalen zu beklagen haben.
**)
Sie sind eben
0339(mag man noch so viel gegen sie auf dem Herzen haben)
0340Werke eines specifisch dramatischen und mit großer Bühnen-
0341kenntniß arbeitenden Talentes. Das ist eine Ausnahme in
0342Deutschland. Zur Regel sollte aber allmälig die Einsicht
0343werden, daß man ohne ein ausgesprochenes dramatisches
0344Talent und ohne Bühnenkenntniß besser daran thut, keine
0345Opern zu schreiben.