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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3667. Wien, Dienstag, den 10. November 1874

[1]

Oper und Operette.

(„Der erste Glückstag“ von Auber. — „Schönröschen“ von Offenbach.)


0003Ed. H. Gibt es ein größeres Glück, als jung, hübsch,
0004brav und immer lustig zu sein? Das Alles ist der Capitän
0005Gaston, der Held der letzten Auber’schen Oper, und dennoch
0006dämmert für ihn niemals ein „erster Tag des Glückes“.
0007Sobald ein günstiges Geschick ihm naht, schlägt es auch schon
0008mit mathematischer Gewißheit in Unheil um. Er wird seiner
0009Tapferkeit wegen zum Oberst befördert — „außertourlich“,
0010wie das so reizend auf Armeedeutsch heißt — aber augen-
0011blicklich fordert ihn deßhalb ein zurückgesetzter Kamerad zum
0012Zweikampf. Eine reiche Erbschaft fällt ihm unversehens an
0013den Hals, damit aber auch die Feindschaft einer neidischen
0014Verwandtenschaar und ein Dutzend Processe. Und was das
0015Liebste, Schlimmste ist, die junge Engländerin Miß Helene,
0016die er in London flüchtig gesehen hat und dauernd anbetet,
0017sie kommt durch einen Zufall in sein Bivouac — sie ist
0018Braut und versichert ihn ihres Hasses. Im zweiten Acte
0019ändert sich dies Alles für Gaston mit Einem Zauberschlage.
0020Der gekränkte Kamerad bittet ihn unaufgefordert um Ver-
0021gebung und zieht seine Herausforderung zurück, dasselbe thut
0022der erbschaftshungrige Vetter mit seinem Processe. Helene 
0023endlich, mit Einemmale weich und zärtlich, gesteht ihm, daß
0024ihr Haß eigentlich nichts weiter war, als zurückgeschlagene
0025Liebe, ungefähr wie der Diamant nach Hegel nur eine zum
0026Selbstbewußtsein gekommene Kohle. Gaston jubelt über diesen
0027unverhofften Sonnenschein. Der Arme! Er allein weiß nicht,
0028was alle Uebrigen im britischen Lager schon wissen: daß er
0029zum Tode verurtheilt ist, als Sühne für einen angeblich von
0030den Franzosen erschossenen englischen Gefangenen. Fröhlich
0031spielt und scherzt er weiter auf dem Balle des Gouverneurs
0032von Madras und preist auch dann noch diesen ersten Tag
0033seines Glückes, als er erfährt, daß es zugleich der letzte sei-
0034nes Lebens sei. Glücklicherweise kommt im dritten Acte der 
0035gefangene Engländer, John Littlepol, heimgelaufen, ein komi-
0036scher Hasenfuß, der jetzt gerne auf seine Verlobte Helene 
0037verzichtet, um Gaston und sich selbst das Leben zu retten.
0038So endet Alles in eitel Freude und Lustbarkeit.


0039Es ist ein allerliebstes Textbuch, dessen Grundgedanken
0040ich hier flüchtig erzählte. Nachdem Scribe, durch vierzig
0041Jahre der trefflichste Mitarbeiter Auber’s, diesem zum
0042erstenmal untreu geworden war, d. h. einige Jahre vor ihm
0043starb, hatte der greise Componist das Glück, an den Herren
0044d’Ennery und Cormon einen nicht unwürdigen Ersatz zu
0045finden. Sie haben in „Le premier jour de bonheur“ ein
0046neues Motiv in geistreicher Weise behandelt, die Fabel klar
0047und geschickt geschildert, anziehende Charaktere in wechsel-
0048volle, echt dramatische Situationen gebracht. Der für Opern-
0049zwecke schon oft verwerthete Gegensatz zwischen Europäern
0050und Orientalen steigert sich hier zu einem dreifachen: die
0051Gruppe der französischen Officiere mit Gaston an der Spitze,
0052die englische Gesellschaft mit Helene, Littlepol und dem
0053Gouverneur, endlich als exotische Folie die Indier mit der
0054poetischen Figur der jungen Tänzerin und Sängerin Djelma.
0055Der gesprochene Dialog hält ein bescheidenes Gleichgewicht
0056zu den Musikstücken, welche, ungezwungen aus der Situa-
0057tion hervorgehend, überall an rechter Stelle eintreten.
0058Auber’s Musik überraschte seine Freunde mit dem Zauber
0059eines nicht mehr gehofften Glückstages. „C’est une impru-
0060dence dans mon âge!“ seufzte der fünfundachtzigjährige
0061Meister, als ich ihn im Sommer 1867 an dieser Partitur
0062schreibend fand. Und man hatte leider einigen Grund, seine
0063bescheidene Sorge zu theilen. Seit zehn Jahren hatte der
0064unverwüstliche alte Herr doch nur mehr die lockeren Fäden
0065eines musikalischen Altweibersommers gesponnen; man wußte
0066in Frankreich diese Gespinnste pflichtschuldigst zu ehren, aber
0067man liebte sie nicht mehr. Nach so schwachen Opern wie
0068Manon Lescaut“, „La fiancée du roi de Garbe“ etc. stand
0069noch Schwächeres zu erwarten, als der Theaterzettel der
0070Opéra Comique am 15. Februar 1868 den „Ersten Glücks-
0071tag“ anzeigte. Und siehe da, der alte Auber hatte sich in diesem
0072seinem letzten Werke unversehens wiedergefunden! Die halb
0073verschüttete Quelle seines reizenden Talentes sprang wieder lustig
0074empor, nicht in so hohem, kräftigem Strahl wie im „Fra
0075Diavolo“ oder der „Stummen“, aber doch wieder frisch und
0076hell genug. Der „Erste Glückstag“ feierte einen aufrichtigen
0077großen Erfolg in einer langen Reihe von Wiederholungen.
0078Und solch anhaltender Succeß läßt sich nicht erkünsteln, wie
0079ein Triumph der ersten Aufführung; zu einem langweiligen
0080Stück findet sich kein Publicum für hundert Vorstellungen,
0081selbst wenn der Autor in Paris Auber heißt, oder in Wien 
0082Bauernfeld. Wer da weiß, daß der „Glückstag“ die Arbeit
0083eines Uralten ist, der muß sie bewundern; man braucht es
0084aber nicht zu wissen, um sie zu lieben. Heiter ohne Rohheit,
0085geistreich ohne Bizarrerie fließt diese Musik dahin, nirgends
0086tief oder mächtig ergreifend, doch stets freundlich anregend,
0087fein, maßvoll und natürlich. Wenn man ein Meisterwerk
0088nennen darf, was nur ein Meister, sei es auch ein alternder,
0089gemacht haben konnte, so verdient Auber’s „Glückstag“ diese
0090Bezeichnung.


0091Der erste Act bietet im Verhältniß zu seiner Ausdehnung
0092die geringste Ausbeute an Musik, sie ist an vielen Stellen
0093seicht und behilft sich an anderen mit alt-Auber’schen Remi-
0094niscenzen. Doch fehlt es nicht an hübschen Nummern, wie
0095Gaston’s Romanze mit dem Refrain: „Attendons, attendons
0096encore le premier jour de bonheur!“, die brillante Polacca
0097der Helene, der erste Theil ihres Duetts mit Gaston. Un-
0098gleich bewegter und musikreicher gestaltet sich der zweite Act.
0099Das pikante Staccato-Motiv im Zweivierteltact aus der Ouver-
0100türe, ein Thema wie springende Perlen, erscheint hier in dem
0101einleitenden Festchor der Ballgäste. Es schließt sich eine Art
0102indischer Elfenballade der Djelma an, ein originelles,
0103reizendes Musikstück, welches glücklicherweise die zarten
0104Verse hebt, wie es selber von ihnen gehoben wird. „Ton
0105coeur bat-il? Oui. — Sais-tu pourquoi? Non. — Crains-tu
0106l’amour. Oui. — Veux-tu le fuir? Non“ — wie selig
0107schwermüthig wiegt sich diese Melodie über den einförmigen,
0108in süßer Betäubung nickenden zwei Baßnoten! Als Gegen-
0109stück singt Helena ein sehr hübsches, munteres Liedchen von
0110„Susanne und dem jungen Corporal“. In dem Terzett [2]
0111zwischen Gaston und seinen beiden Freunden pulsirt echt
0112Auber’sches Blut, desgleichen in dem liebenswürdig aufge-
0113regten Duettino: „Un mot, un seul!“ Das Finale verfügt
0114musikalisch über keinen besonderen Reichthum, fesselt aber
0115durch seinen lebhaften Zug und jene meisterhafte Anordnung
0116und Abrundung, welche die Franzosen, Auber vor Allen,
0117solchen großen Scenen zu geben wissen. Ein zweistimmiges
0118Nocturno mit Frauenchor eröffnet stimmungsvoll den dritten
0119Act. Das komische Element kommt in dem Rondo des
0120furchtsamen Littlepol, der die Reize Englands schildert, zu
0121seinem Rechte. Unbedeutend und conventionell klingt das
0122große Liebesduett zwischen Helene und Gaston; fehlte doch
0123Auber auch in jungen Jahren überall das letzte, erlösende
0124Wort, wo die Empfindung nicht blos gestreift, sondern aus
0125der Tiefe des Herzens geschöpft werden soll. Gaston’s
0126schlichte „Stanzen“ in A-moll überragen dieses Duett ohne
0127Frage. Mit diesen hervorragenden Einzelnummern, zwischen
0128denen sich auch Strecken gewöhnlicher Conversations-Musik
0129dehnen, ist das Verdienst des „Glückstags“ nicht erschöpft.
0130Die sichere Führung des Ganzen, die feine, maßvolle Hal-
0131tung, welche auch dem Unbedeutenden wenigstens den Adel
0132einer formellen Bildung verleiht, das sind Vorzüge, die
0133heutzutage zu den Seltenheiten gehören und ob welcher uns
0134der „Glückstag“, dieses spätgeborene Kind aus vornehmem
0135Hause, doppelt willkommen erscheint.


0136Die Aufführung des „Ersten Glückstags“ in der Komi-
0137schen Oper war leider nicht geeignet, den Vorzügen dieses
0138Werkes das rechte Relief zu geben. Herr Erl allein füllte
0139als Gaston seinen Platz aus. Die auffallenden Fortschritte
0140dieses Sängers in der Behandlung der Prosa gereichen nicht
0141blos ihm selbst zum Verdienst, sondern gleichmäßig Herrn
0142Alexander Strakosch, dem dramaturgischen Adjutanten
0143Laube’s am Stadttheater, jetzt Professor am Conservatorium,
0144welcher mit Erl die Rolle studirt hatte. Musikalisch vermiß-
0145ten wir nirgends den geschmackvollen Sänger, wol aber den
0146vollen Klang des Instruments. Herr Erl sang mit merkli-
0147cher Anstrengung; daß er überhaupt noch zu singen ver-
0148mochte, erscheint wie ein halbes Wunder bei seiner geradezu 
0149unerhörten Ueberbürdung mit Vorstellungen und Proben.
0150Durch eine also fortgesetzte Ausbeutung dieses nicht allzu
0151kräftigen Tenors dürfte die Direction der Komischen Oper
0152bald ihre ganze Thätigkeit in Frage gestellt sehen. Fräulein
0153Tremel (Helene) ließ sich nach dem ersten Act wegen Hei-
0154serkeit entschuldigen und mußte mehrere Gesangsnummern
0155weglassen. Doch fehlte auch dort, wo die Stimme ausreichte,
0156durchwegs der Geist der Rolle. Fräulein Tremel und
0157Fräulein Jäger — Beide gaben von ihren Partien nichts
0158als die Noten. Das national-charakteristische Element, der
0159exotische Reiz in der Figur der Djelma kam bei Fräulein
0160Jäger kaum als Ahnung zum Vorschein; das war ein nettes
0161deutsches Stubenmädchen, obendrein eines von der gebildeten
0162Sorte. Herr Winkelmann that als Buffo sein Mög-
0163lichstes; schade, daß das nur sehr nothdürftig hinreichte. In
0164den Händen eines Komikers wie Sainte-Foix in Paris wird
0165dieser Sir John Littlepol ein würdiges Seitenstück zu Auber’s
0166köstlichem Lord Kockburn und läßt das Publicum vor Lachen
0167kaum zu Athem kommen. Auch die Scenirung der neuen
0168Oper ließ Manches zu wünschen. Im ersten Act wurden wir
0169wieder ohne Noth von einem eingelegten langen Ballet des
0170Herrn Opfermann heimgesucht. Dafür bildete das Finale
0171des zweiten Actes, in welchem die Ballgäste eine fortwäh-
0172rend fröhliche Bewegung unterhalten sollen, ein starres
0173Tableau. Am tapfersten hielt sich das Orchester unter Herrn
0174Sucher’s Leitung.


0175Sahen wir dergestalt in der Komischen Oper ein
0176geistreiches, liebenswürdiges Werk durch Schuld der Auffüh-
0177rung in seiner Wirkung geschmälert und verschoben, so pro-
0178ducirte am Abend vorher das Carl-Theater ein Gegen-
0179stück und zeigte, wie eine Operette von der Geringfügigkeit
0180des Offenbach’schen „Schönröschen“ durch treffliche Dar-
0181stellung Effect machen kann. Wenn man „La jolie Parfu-
0182meuse“ (so heißt das Stück im Original) durchblättert, so
0183vermag man einen Erfolg sich kaum zu denken, so schleude-
0184risch und unerlaubt einfach ist diese Musik. Wie ein ange-
0185heiterter Bummler schleudert sie nachlässig trällernd und
0186summend Ihres Weges. Die meisten Musikstücke darin bewe
0187gen sich melodisch innerhalb ein paar Noten und harmonisch
0188auf zwei Accorden. Nur selten blitzt ein Licht auf, wie der
0189geistreiche Einfall, in dem Duett zwischen Rose und dem
0190alten Wüstling den Dialog Rothkäppchens mit dem Wolf
0191zu parodiren. Die melodiöse Erfindung hat Offenbach dies-
0192mal nicht geplagt; sein Rettungsmittel ist fast durchwegs
0193der Rhythmus, in dessen Behandlung er ein kleiner Hexen-
0194meister ist. Sänger, die nebst einem graziösen Darstellungstalent
0195und deutlicher Aussprache auch ein lebhaftes rhythmisches Gefühl
0196besitzen, werden deßhalb im „Schönröschen“ nicht ohne Bei-
0197fall bleiben. Fräulein Meyerhoff bewies das mit
0198ihrem effectvollen Vortrag der „Ronde de la Marjolaine“
0199im ersten Acte, des Bruscambiglia-Liedes im zweiten und des
0200musikalisch sehr heiklen, um nicht zu sagen kitzlichen Cou-
0201plets „Je suis chatouilleuse“. Ein negativer Vorzug, den
0202wir übrigens nicht geringschätzen, liegt in der Knappheit und
0203Anspruchslosigkeit dieser Partitur, welche damit zu dem
0204Styl der frühesten Offenbach’schen Operetten zurückgreift,
0205ohne freilich deren Originalität und melodischen Reiz ent-
0206fernt zu erreichen. Das Libretto bietet einige possenhafte
0207Scenen, das ist Alles. Die Handlung geht von frivolsten
0208Voraussetzungen aus und ergeht sich mit schmunzelnder
0209Lüsternheit in bedenklichen Situationen. Die schlimmsten da-
0210von hat Herr Treumann, von dem die sehr geschickte
0211Bearbeitung herrührt, weislich ganz unterdrückt. Abgenützte
0212Motive von ärgerlicher Unwahrscheinlichkeit erkälten das
0213Interesse im zweiten Act, während im dritten die auf dem
0214Sand festsitzende Handlung nur durch allerhand Lückenbüßer
0215gefristet wird. Doch was will eine ernsthafte Kritik gegen-
0216über einer Posse, die nur ein leichtes Amusement für einen
0217Abend beabsichtigt? Und diese Absicht erreicht die Novität,
0218wenn sie so ausgezeichnet dargestellt und scenirt ist, wie im
0219Carl-Theater. Das Stück tragen zunächst Fräulein Meyer-
0220hoff
und Herr Blasel (wundervoll als blinder Musi-
0221kant); in weniger dankbaren Rollen nicht weniger vortreff-
0222lich sind die Sängerinnen Link und Wiedermann,
0223die Komiker Knaack und Eppich.