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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3693. Wien, Sonntag, den 6. December 1874

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Concerte.


0002Ed. H. Das Clavierconcert von Johannes Brahms 
0003nimmt in der Literatur dieser Kunstform eine hoch empor-
0004ragende, zugleich eine ganz aparte Stelle ein. Kein Ton-
0005dichter, auch Beethoven nicht, hat es bisher versucht, das
0006Concert, welches seiner praktischen Bestimmung und seiner
0007ganzen Entwicklung nach ein fröhliches Turnier der Vir-
0008tuosität gewesen, dem Pathos schmerzlicher Leidenschaftlichkeit
0009ganz zu überantworten. In dem ersten Satze des Brahms’-
0010schen Concertes grollen die Gewitter der Neunten Sym-
0011phonie. Fast klingt er wie eine freie Nachdichtung jener ge-
0012waltigen Schöpfung; ungefähr als wenn Brahms unter
0013dem frischen Eindrucke der Neunten Symphonie die gewal-
0014tigen Empfindungen, die sie in ihm geweckt, in seiner 
0015Sprache selbstständig schildern wollte. Nicht blos die Ton-
0016art A-moll, die Donnerschläge der Pauken auf dem tiefen
0017D und manche Einzelheiten sind Beiden gemeinsam, son-
0018dern der großartig pathetische Charakter des Ganzen. „Es
0019geht ein finsterer Geist durch dieses Haus,“ möchte man mit
0020Wallenstein von dem Maëstoso des Brahms’schen Concertes
0021sagen, das von dem heiteren Geiste des übrigen Concert-
0022wesens so seltsam absticht. Aber dieser „finstere Geist“ treibt
0023keinen unheimlichen Spuk, er schreitet aufrechten Hauptes
0024und festen Trittes durch die weiten Hallen. Ueber diesen
0025ersten Satz hinaus, der auch an musikalischem Gedanken-
0026reichthum Beethoven zunächst steht, erstreckt sich die Aehn-
0027lichkeit nicht. Die edlen, aber etwas müden und verschwim-
0028menden Klänge des Adagio mahnen nicht an die himmlische
0029Verklärung in dem langsamen Satze Beethoven’s; im Finale
0030endlich benützt Brahms die herkömmliche Rondoform, erfüllt sie
0031mit neuem reichen Geiste und löst das hier so schwierige Problem,
0032den einheitlichen Charakter des Ganzen zu wahren. Nicht Lustigkeit,
0033sondern trotziger Lebensmuth strömt durch die Adern dieses
0034Schlußsatzes. Das D-moll-Concert ist mehr eine Symphonie
0035mit obligatem Clavier, in größten Dimensionen aufgebaut
0036und frei von allem herkömmlichen Passagenwerk. Die innere 
0037Verwandtschaft zwischen Brahms und Beethoven, welche in
0038den Clavierstücken des Ersteren durch Schumann’sches Licht
0039prismatisch gebrochen erscheint, tritt in dem Concert, wie
0040auch in manchem Trio- und Quartettsatze überraschend zu
0041Tage. Neben Franz Schubert ist unstreitig Brahms der un-
0042mittelbarste Ausfluß Beethoven’schen Geistes. Allein wäh-
0043rend Schubert das Weiche, Mädchenhafte, (nach Schumann’s
0044Ausdruck) das „provençalische Element“ Beethoven’s selbst-
0045ständig weitergebildet hat, hält sich Brahms an die männ-
0046liche, pathetische Seite, an das germanische Element des
0047Meisters. Schubert ist ungleich reizvoller, melodiöser, sinn-
0048licher als Brahms, er wirkt viel unmittelbarer; hingegen
0049waltet in den großen Compositionen von Brahms mehr von
0050jener zusammenhaltenden Kraft und strengen Logik der Ge-
0051danken, welche Beethoven’s Schöpfungen den Charakter inne-
0052rer Nothwendigkeit ausprägt. Das D-moll-Concert ist das
0053fünfzehnte Werk von Brahms, welcher seither sein sechzigstes
0054überschritten hat. Wie langsam hat es sich Bahn gebrochen!
0055Vor drei Jahren wurde es in Wien von Brahms zum ersten-
0056male gespielt; nur selten und zaghaft wagt sich ein Virtuose
0057an dieses Concert, welches von dem Spieler zwar keine
0058Liszt’schen Hexenkünste, aber einen großen Styl verlangt und
0059vom Hörer eine ernste, gesammelte Aufnahme. Es ist nicht
0060mühelos dieser Tondichtung zu folgen, nicht möglich, sie auf
0061Einmal vollständig zu fassen. Jede folgende Wiederholung
0062gedeiht dem Werke und dem Publicum zum Vortheile. Brahms 
0063gehört nicht zu den gefällig Entgegenkommenden, er will
0064genau gekannt, mit Hingebung studirt sein; dann lohnt er
0065aber reichlich unsere Mühe, unser Vertrauen. Brahms 
0066spielte sein Concert, und zwar mit großartigem Vortrage, in
0067der zweiten Production der Philharmoniker, zwischen
0068Beethoven’s „Leonoren“-Ouvertüre (Nr. 2) und Schu-
0069bert’s
prachtvoller C-dur-Symphonie.


0070Auch in Hellmesberger’s zweiter Quartett-Soirée 
0071bildete Brahms den Mittelpunkt des Interesses. Sein
0072A-moll-Quartett (Nr. 2 aus den Billroth gewidmeten
0073Streichquartetten Op. 51) kam unter großem Beifall zur
0074Aufführung. Die Vorliebe für dieses zweite oder für das
0075erste Quartett (C-moll) ist getheilt; bei mir sogar mathe
0076matisch getheilt zwischen zwei und zwei Sätzen. Das leiden-
0077schaftliche Allegro und das launige Scherzo des C-moll-
0078Quartetts überragen nämlich die beiden analogen Sätze des
0079A-moll-Quartetts, welches wiederum in der tiefen, ruhigen
0080Schwermuth seines Adagio und dem rhythmischen Zug des
0081Finales seinen Vorgänger verdunkelt. Auf das Brahms’sche
0082Quartett folgte die D-moll-Sonate für Violine und Clavier
0083von Schumann; Herr Hellmesberger spielte sie mit
0084Frau Auspitz-Kolar, welche den Clavierpart mit der
0085ihr jetzt eigenen trockenen Energie wiedergab. Die Compo-
0086sition selbst ist uns keine der liebsten unseres Lieblings. Ein
0087unerquickliches Werk, voll Unruhe und äußerlicher Erhitzung,
0088bei dürftigem, kühlem Inhalt. Der erste Satz kommt aus
0089dem D-moll-Dreiklang gar nicht heraus, das Wühlen will
0090nicht enden. Daß das Hauptmotiv des Finales Note für
0091Note dem Seesturm aus „Oberon“ entnommen ist, möchten
0092wir Schumann kaum verargen — in der Kunst verzeiht man
0093das Stehlen nur dem Armen nicht. Aber der reiche Schu-
0094mann erfüllt es nicht mit der Herzlichkeit und blühenden
0095Phantasie seiner früheren Tage; über der D-moll-Sonate 
0096lagert schon der graue Schatten seiner dritten Periode.


0097Einen Pianisten von glänzender Virtuosität lernten wir
0098in Herrn Raphael Joseffy kennen. Schüler Tausig’s, so-
0099mit Lisztianer in zweiter Generation, folgt Herr Joseffy 
0100auch äußerlich dem kaum nachahmenswerthen Beispiel seiner
0101Meister, das ganze Concert-Programm allein, ohne „Zwischen-
0102nummern“, auszufüllen. Tausig’s Schule ist unverkennbar
0103in der allseitig durchgebildeten Technik Joseffy’s, in der klar
0104und scharf ausgemeißelten Phrasirung, in den reichen Nüancen
0105des Anschlags; auch in manchen mehr koketten als zweck-
0106mäßigen Nebendingen, wie das Herausstechen einer einzelnen
0107Note, das wiegende Nachhelfen mit dem Handgelenk, wo
0108der Finger bei ruhiger Handstellung dasselbe und ohne Kraft-
0109vergeudung leistet; ferner das manchmal bis zum blasirten
0110Getändel getriebene Pianissimo u. dgl. Alles, was Joseffy 
0111vorträgt, ist technisch vollendet, bis in die kleinste Note aus-
0112gefeilt. Im Passagenspiel erreicht er die besten Virtuosen,
0113an Kraft übertreffen ihn viele. Die ruhige Sicherheit, mit
0114der Künstler das Perpetuum mobile Bach’scher [2]
0115Figural-Musik abrollen ließ, erregte Bewunderung, daneben
0116glitzerte die Spinnerlied-Paraphrase aus dem „Fliegenden
0117Holländer“ in vollendeter Zierlichkeit. Die technischen Schwierig-
0118keiten mehrerer Stücke von Chopin und Schumann bewäl-
0119tigte Herr Joseffy gleichfalls mit der größten Leichtigkeit
0120und Sauberkeit. Aber der Schatz von Poesie, der namentlich
0121in Schumann’s Charakterstücken liegt, blieb so ziemlich un-
0122gehoben. Fehlt ihm die geheimnißvolle Resonanz des Ge-
0123müths dafür, oder ist’s die Freude am blos Virtuosen, was
0124den jungen Künstler zur Stunde noch bindet? Das
0125Phantasiestück „Traumeswirren“, eine der sinnigsten kleinen
0126Dichtungen Schumann’s, spielte Herr Joseffy wie eine Etude,
0127bei der es nur auf größte Schnelligkeit und feinstes Pianis-
0128simo ankommt, fast spieluhrenmäßig. Selbst der wunderbare
0129Mittelsatz, das eigenthümlich Verschleierte, Dunstige, Blei-
0130schwere dieses Traumes, war zu sehr in helle Morgenbeleuch-
0131tung gerückt. Daß Joseffy überaus zart zu singen weiß, be-
0132wies er in dem zauberhaften Mittelsatze der D-dur-No-
0133vellette von Schumann (Nr. 4 aus Op. 21), aber im An-
0134fange und Schluß verwischte das rasche Tänzeln und Sprin-
0135gen, das allzu kurze, stechende Staccato den poetischen Cha-
0136rakter des Stückes. Wir sahen blos den Ballsaal, aber nicht
0137die Herzensgeschichte, die Novelle, die sich darin abspielt.
0138Gewiß werden Zeit und Lebenserfahrung, zwei theure Lehr-
0139meister, Joseffy’s Spiel noch mehr erwärmen und vertiefen;
0140durch den glänzenden Schliff seiner Technik erregt er heute
0141schon unsere Bewunderung.


0142Ein anderer, hier bereits bekannter Pianist, Herr Si-
0143gismund Blumner, gab kürzlich ein Concert und gefiel.
0144Größeres Aufsehen als der Spieler machten übrigens die
0145beiden von ihm benützten neuen Concertflügel „amerikanischer
0146Construction“ aus der Fabrik von Friedrich Ehrbar,
0147welche einen glänzenden Höhepunkt der Clavierbaukunst be-
0148zeichnen. Ich erinnere mich nicht, solche Fülle und Rundung
0149des Claviertons, ein so schönes, langes Nachsingen der Me-
0150lodie gehört zu haben, wie sie Ehrbar durch eine auf Helm-
0151holtz’ Forschungen begründete geniale Neuerung im Saiten-
0152bezuge in diesen Flügeln gewonnen hat. 


0153Herzliche Aufmunterung verdient die junge Violinspie-
0154lerin Fräulein Bertha Haft, deren sehr besuchtes Concert
0155Zeugniß gab von dem Interesse, das die Wiener Gesellschaft
0156an ihrem vielversprechenden Talente nimmt. Joachim’s „Unga-
0157risches Concert“, ein Bravourstück, das außer dem Compo-
0158nisten selbst wol nur Wilhelmj und Laub vollständig bemei-
0159stern, war freilich eine allzu vorgreifende Wahl für Fräu-
0160lein Haft. In den übrigen Programm-Nummern hingegen lei-
0161stete das kaum den Kinderschuhen entwachsene Mädchen (eine
0162Schülerin Professor Heißler’s) jetzt schon Ueberraschendes.
0163Fräulein Haft steht ohne Zweifel an der Schwelle einer
0164rühmlichen Laufbahn.


0165Die Aufführung des ersten Actes von Richard Wag-
0166ner’s
Walküre“ in Concertform, bei Clavierbegleitung —
0167schon im vorigen Jahre hier versucht und von uns bespro-
0168chen — wurde am 4. d. M. zum Besten des Wagner-
0169Theaters in Bayreuth wiederholt. Wie damals ernteten Frau
0170Friedrich-Materna, die Herren Labatt und
0171Scaria wieder den lebhaftesten Beifall für ihre effect-
0172vollen Leistungen. Vor einem Jahre ungefähr hatte Richard
0173Wagner in einer „nothgedrungenen Erklärung“ sich sehr
0174scharf gegen die Zumuthung ausgesprochen, er solle die Auf-
0175führung von Bruchstücken aus der „Walküre“ gestatten. Er
0176sagt darin, daß es ihm „widerwärtig sei, die Gründe erst
0177auseinanderzusetzen“, und schließt mit der Erklärung, auch
0178die Theater-Aufführung der „Walküre“ in München habe
0179ihm nur bewiesen, „wie unrichtig das Werk bisher noch ver-
0180standen worden ist; denn wäre es richtig verstanden worden,
0181so würde es Niemandem beikommen können, die Ueberlassung
0182solcher Bruchstücke zu Concert-Aufführungen zu verlangen“.
0183Es mögen also diejenigen, die gestern mit ihrem Applaus
0184und Jubelgeschrei den Saal erschütterten, die niederschmet-
0185ternde Ueberzeugung mitnehmen, daß sie damit nur ihre
0186vollständige Unfähigkeit, Wagner zu verstehen, documen-
0187tirt haben.


0188Und nun dürfen wir noch zum Schluß liebe alte Be-
0189kannte begrüßen: die vier schwedischen Sängerin-
0190nen
! Ihr erstes Concert war überfüllt; man hatte das 
0191schwedische Damenquartett und seine erquickenden Vorträge
0192vom vorigen Jahre nicht vergessen. Ganz unverändert er-
0193freuten uns die Sängerinnen wieder durch die zauberische
0194Reinheit ihrer Intonation, durch ihr wie aus Einer Kehle
0195strömendes Crescendo und Decrescendo, durch die prunklose
0196Schlichtheit und Natürlichkeit ihres Vortrages. Die schwedi-
0197schen und norwegischen Volkslieder bildeten abermals die
0198Glanzpunkte ihres Programms. Eine reizende Nummer ist
0199neu hinzugekommen: das einst von Jenny Lind gesungene
0200Lied „Fjerran i skog“ (Im fernen Wald), welches von
0201O. Goldschmidt arrangirt und von Jenny Lind selbst ihren
0202vier Landsmänninnen in London einstudirt wurde. Es kommt
0203ein wundervoll verhallendes Echo darin vor. Der Cellist
0204Herr Hummer unterstützte die Concertgeberinnen durch
0205den Vortrag dreier „Märchenbilder“ von Schumann und
0206eines Concertstückes von Servais. Sein Hauptvorzug ist ein
0207edler, gesangvoller Ton, der auf der höchsten Saite nicht
0208winselt, auf der tiefsten nicht brummt. Auch in der Bravour
0209leistet Hummer sehr Anerkennenswerthes; seine linke Hand
0210greift rein und behend, seine Rechte führt den Bogen mit
0211der Leichtigkeit eines Violinspielers. Es freut uns, in dem
0212jungen Manne die „bedeutende Zukunft“ jetzt schon gegen-
0213wärtig zu sehen, die wir ihm vor zwei Jahren prophezeiten.
0214Er gehört zu unseren besten Künstlern. Schließlich produ-
0215cirte sich in demselben Concert ein niedliches kleines Schwe-
0216sternpaar, Ida und Ottilie Cohn, mit vierhändigen Clavier-
0217stücken. Eine beängstigende Wunderkind-Ahnung packte mich
0218beim Anblick des Programms, aber die Enttäuschung kam
0219rasch und angenehm. Der gesunde, natürliche Vortrag der
0220beiden beherzten Kleinen hat keinen halsbrecherischen Bei-
0221geschmack und verräth echtes, unverkünsteltes Talent. Die
0222drollige Energie, mit welcher die achtjährige Primspielerin,
0223am Clavier stehend, ihre Crescendo-Passagen vorbrachte,
0224erregte eine freundliche Heiterkeit im ganzen Publicum. Der
0225Applaus, den die kleinen Mädchen ernteten, war stürmisch.
0226Ob er ihnen auch zuträglich und heilsam sei, ist eine an-
0227dere Frage.