Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3714. Wien, Dienstag, den 29. December 1874

[1]

Theater und Musik.

(Byron’s „Manfred“. — Akademie im Hofoperntheater.)


0003Ed. H. Ein theatralisches Ereigniß seltenster Art er-
0004lebten wir an der vollständigen scenischen Aufführung von
0005Byron’s „Manfred“ im Hofoperntheater. Lange Zeit hin-
0006durch war die „Manfred“-Musik, in welcher Schumann’s
0007beste Jugendkraft noch einmal, an der Neige seines Wir-
0008kens, groß und geläutert aufflammt, nur in Concerten ge-
0009geben worden, bis man in Weimar (1852), dann in Leipzig 
0010(1863), endlich in München (1873) den Versuch einer thea-
0011tralischen Darstellung des Dramas wagte. In München ge-
0012staltete sich die Wirkung wenigstens theilweise befriedigend,
0013an den beiden anderen Bühnen versagte sie dergestalt, daß
0014die Leipziger Musikzeitung seinerzeit von einem „fast pein-
0015lichen Eindruck“ berichten konnte. Eine vollendete Reproduc-
0016tion dieses Werkes stellt ganz ungewöhnliche Ansprüche an
0017die declamatorische, musikalische und scenische Kunst. Nur bei
0018einem Zusammenwirken so vieler ausgezeichneten Kräfte, wie
0019sie das Hofoperntheater am 22. d. M. vereinigte, vermag
0020Manfred“ einen reinen und tiefen Eindruck zu machen;
0021dann aber macht er ihn ohne Frage. Vom Größten bis
0022zum Kleinsten wurde hier Alles mit rühmenswerther Sorg-
0023falt und Hingebung geleistet; die ersten Mitglieder des Hof-
0024operntheaters: Ehnn, Dustmann, Materna, Wilt, Dillner,
0025Gindele, dann Beck, Walter, Rokitansky, Bignio, Mayer-
0026hofer und Andere, begnügten sich mit Rollen von wenigen
0027Tacten oder Worten. Das größte Lob werden sie wol Alle
0028dem Director Herbeck gönnen, dem trefflichen musikali-
0029schen und dramaturgischen Leiter des Ganzen. Sein Tactstab
0030elektrisirte das Orchester, welches namentlich die Ouvertüre,
0031eine der schwierigsten Instrumental-Aufgaben, in bisher un-
0032erreichter Vollendung ausführte. Auf der Bühne überragte
0033Lewinsky als Manfred alles Uebrige. Manfred ist nicht
0034nur weitaus die größte, er ist geradezu die einzige Rolle in
0035diesem seltsamen Drama; Lewinsky, dafür wie prädestinirt,
0036spielt und spricht sie bewunderungswürdig. Seine unver-
0037gleichliche Kunst in klarer Auseinandersetzung der Rede; sein
0038rhetorischer Schwung, der sich niemals zu prahlerischer
0039Declamation aufbläht, sondern stets von Herzenswärme
0040durchströmt, von geistiger Kraft getragen ist; sein echtes, 
0041von Verzerrung wie von eitler Ziererei unberührtes Gefühl;
0042seine ganze Persönlichkeit — Alles wirkte zusammen, um
0043uns Manfred, diesen unglücklichen Virtuosen der Selbst-
0044quälerei, nicht nur begreiflich, sondern sympathisch und lie-
0045benswerth zu machen. Schon um dieser Einen Leistung willen
0046sollte man den „Manfred“ wenigstens alljährlich Einmal auf-
0047führen. Ohne Schumann’s Tondichtung dürfte das Drama,
0048trotz all seines Gedankenschatzes, wahrscheinlich scheitern; aber
0049diese Musik verschmilzt so innig mit der Grundstimmung
0050desselben, breitet über die bedenklichsten Stellen hier einen
0051so berückenden Glanz, dort ein so verklärendes Mondlicht,
0052daß der Eindruck zu den ergreifendsten wird, die wir im
0053Theater erlebten. Und doch ist Byron’s Gedicht als Bühnen-
0054stück fehlerhaft, wunderlich, abstrus; kaum daß die Kritik
0055weiß, wo sie mit ihrem gewöhnlichen Rüstzeug anfangen, wo
0056aufhören soll. Das ganze Drama bildet Einen langen
0057Monolog Manfred’s, den nur zeitweilig ein kurzes Echo be-
0058stätigend oder äffend unterbricht. Blos in wenigen kurzen
0059Sätzen des Anfangs und des Schlusses sind es menschliche
0060Laute, welche dies Echo spenden: der Alpenjäger, der Abt,
0061der alte Diener. Im Uebrigen lauter Geister abenteuer-
0062lichster Art, mit denen Manfred verkehrt, sie rufend und
0063meisternd, halb Mensch, halb einer der Ihrigen. Ein edler,
0064von räthselhafter Schuld bedrückter, mit Zauberkünsten be-
0065wehrter Sterblicher, der sterben will und nicht sterben kann.
0066Ein Zwillingsbruder Faust’s, wie schon Goethe selbst ihn ge-
0067nannt und anerkannt — aber ein Faust ohne Gretchen,
0068ohne Valentin und Mephisto, ein Faust ohne Oster-Spazier-
0069gang, ohne Auerbach’s Keller, ohne Frau Marthe’s
0070Gärtchen! Nur eine Walpurgisnacht in noch grausigerer höl-
0071lischer Umgestaltung finden wir in diesem Byron’schen
0072Faust-Drama wieder. Von den „zwei Seelen“, die in Faust’s
0073Brust wohnen, hat Manfred nur die eine, die unbefriedigt
0074grübelnde, metaphysische; nichts von der anderen, die in
0075derber Liebeslust die Welt umfaßt mit klammernden Organen.
0076Manfred handelt nicht, er wird und wächst nicht vor unseren
0077Augen, kaum daß überhaupt etwas mit ihm vorgeht. Und
0078das soll ein Bühnendrama sein? Gewiß kein Muster
0079eines solchen. Aber ein wunderbares Gedicht, das auch von
0080der Bühne herab das Gemüth widerstandslos gefangen
0081nimmt, ein Abgrund von Gedanken und Gefühlen, befrem-
0082dend, abstoßend und doch zugleich dämonisch anziehend und
0083fesselnd.


0084Zwei Elemente, die in Byron’s Drama verwirrend und
0085verstörend wirken, finden in Schumann’s Musik ein wunder-
0086thätig Rettungsmittel. Einmal der große mystische Apparat
0087von Geistern und Erscheinungen, welche Byron mitten in
0088die reale Welt stellt, sodann die niederdrückende Trostlosig-
0089keit der Stimmung. Ohne Hilfe der Musik, welche jenen
0090Geisterspuk, wo er erscheint, sofort auf ihren Fittig nimmt
0091und uns glaubwürdig macht, müßte dies wirre Gespenster-
0092wesen uns von der Bühne fast wie eine Maskerade anstar-
0093ren. Wie nothwendig diese Musik dem Drama und wie noth-
0094wendig wieder das Drama der Schumann’schen Musik sei,
0095das haben wir vollständig erst aus der lebendigen Auf-
0096führung erkannt. Im Concerte bleiben sämmtliche Gesangs-
0097stücke der „Manfred“-Composition tief unter dem Eindrucke der
0098Orchesternummern. Aber auf der Bühne! Man höre da den
0099Geister-Bannfluch der vier Baßstimmen! Welch schauriger
0100Eindruck, wenn diese vier schwarzverhüllten Gestalten auf der
0101Felswand hinter Manfred auftauchen! Die Erscheinung der
0102silberglänzenden Alpensee versinnlicht auf das reizendste das
0103glitzernde Tonbild Schumann’s; sie gibt ihm und empfängt
0104von ihm erst das volle Leben. Auch der Höllenchor vor
0105Ahriman’s Thron, als selbstständiges Concertstück äußerlich
0106und gezwungen, wirkt wie eine grelle Theater-Decoration
0107vollständig auf der Bühne. Was jenen düsteren Fanatismus
0108der Verzweiflung betrifft, der das Gedicht Byron’s durch-
0109wühlt, so würde er den Hörer erbarmungslos niederdrücken,
0110legte sich nicht Schumann’s Musik wie lindernder Balsam
0111auf die Wunde. Welcher Zauber ruht in der verklären-
0112den Kraft der Musik! Ein zweites Pygmalions-Wunder,
0113das düstere Marmorstatuen leben und lächeln macht.
0114Etwas Tröstenderes, Friedlicheres als die idyllische Zwischen-
0115musik in F-dur kenne ich nicht; die kleineren Orchestersätze
0116im ersten und im dritten Acte tönen mitten durch die Trauer
0117in verwandter Weise, beglückend, segnend. Und über dem
0118Allen die Beschwörung der Astarte! Hier schlägt Schumann 
0119Töne an, wie sie Keiner vor ihm oder nach ihm erdacht;
0120Töne von so tiefschmerzlicher und dabei doch eigenthümlich
0121seliger Trauer, daß sie uns sanft das Herz zusammenpreßt
0122und die Thränen ins Auge drängt. Das Grausige, Schreck-
0123hafte der Erscheinung ist hier zur stillen, blassen Schönheit
0124verklärt, der Verwesungsmoder wie von Rosenduft durch-
0125zogen. In der Schlußscene, beim Sonnenuntergang und dem
0126Tode Manfred’s, übt die Musik anspruchslos, fast unschein[2]
0127bar dieselbe Mission des Tröstens und Versöhnens. Mit
0128Ausnahme der Ouvertüre, welche das Bild Manfred’s in
0129seiner ganzen düsteren Größe widerspiegelt, wirkt Schu-
0130mann’s Musik, trotz aller Schärfe der Charakteristik, das
0131ganze Drama hindurch mildernd und verklärend.


0132Der Fluch der Melancholie ist es, der Byron’s Helden
0133krampfhaft schüttelt; aus Schumann’s Musik blickt uns das
0134Lichtbild derselben Empfindung an: der Segen der Melan-
0135cholie. Es mag vielleicht unpassend scheinen, bei diesen Tönen
0136an ein anderes Gedicht als das Byron’sche zu denken; aber
0137der sanfte, fast friedliche Schmerz, der die kleinen Instru-
0138mentalstücke der „Manfred“-Musik durchweht, verbindet sich
0139mir stets unwillkürlich mit der Erinnerung an ein wenig
0140bekanntes Gedicht Gottfried Keller’s, „An die Melancholie“:


0141Sei mir gegrüßt, Melancholie, /
0142Die mit dem leisen Feenschritt /
0143Im Garten meiner Phantasie /
0144Zu rechter Zeit ans Herz mir tritt! /
0145Die mir den Muth, wie eine junge Weide, /
0146Tief an den Rand des Lebens biegt, /
0147Doch dann in meinem bittern Leide /
0148Voll Treue mir zur Seite liegt! /


0149Die zweite Akademie im Hofoperntheater zum
0150Besten des Pensionsfonds war das gerade Widerspiel der
0151ersten. Während am Dienstag Abends ein bisher nur in
0152Concertform gegebenes Drama, „Manfred“, zum erstenmal
0153auf seinen rechtmäßigen Platz, die Bühne, gelangte und
0154damit zu der vom Dichter beabsichtigten vollen Wirkung,
0155wurden am Mittwoch verschiedene Fragmente aus Opern
0156durch concertmäßige Vorführung entstellt und entkräftet.
0157Ebenso angelegentlich, wie wir Herrn Director Herbeck um
0158eine Wiederholung des „Manfred“ ersuchten, bitten wir ihn,
0159Opern-Abtödtungen wie die in der zweiten Weihnachts-Aka-
0160demie nicht wieder zu veranlassen. Im Concertsaal mag es
0161sich mitunter empfehlen, irgend ein musikalisches Prachtstück
0162aus einer verschollenen Oper nach Oratorienweise abzusingen,
0163um Kunstfreunden wenigstens dessen rein musikalischen Ge-
0164halt, abgezogen von der Bühnenwirkung, darzubringen. Im
0165Theater sind wir aber nicht blos Hörer, sondern auch Zu-
0166schauer, wir wollen und können da nicht auf Bühnenwirkung
0167verzichten. Der Genius loci ist auch in der Musik eine
0168Macht, die nicht mit sich spassen läßt. Eine wohlbekannte
0169Oper wie „Jessonda“, die in unserem Geiste durchweg aufs 
0170innigste mit der Darstellung, den Costümen und Decora-
0171tionen verwachsen ist, läßt man uns auf der Bühne des
0172Hofoperntheaters wie ein Oratorium aus Noten
0173vorsingen: Nadori und Dandau im Frack, Jessonda und
0174Amazili in Balltoilette; jeder steif aus seinem Sessel sich
0175aufrichtend, wenn die Reihe an ihn kommt, und wieder
0176ruhig niedersitzend, sobald eine andere Nummer anhebt —
0177dahinter auf langen Bänken die Herren und Damen vom
0178Chor regungslos nebeneinandergereiht, mit den Notenheften
0179in der Hand. „Ja, warum singen denn all diese Künstler,
0180die wir so oft in der „Jessonda“ spielen gesehen, nicht im
0181Costüm?“ so hörten wir ringsum fragen. Wozu ladet man
0182uns denn ins Opernhaus, wenn eine Oper nicht
0183opernmäßig dargestellt werden soll? Ehemals konnte
0184man sich mit kirchlichen Velleitäten entschuldigen, welche
0185an gewissen „Normatagen“ keine scenische Aufführung er-
0186laubten. Das hat aufgehört, und an demselben Abende, wo
0187der erste Act der „Jessonda“, Scenen aus „Titus“ und dem
0188Blitz“ unter die Luftpumpe der Oratorienform gezwängt
0189wurden, spielte man schließlich — gleichsam um uns das
0190Willkürliche des ganzen Vorgangs recht deutlich zu machen
0191— den vierten Act aus der „Favorite“ im Costüm, wie es
0192sich gehört. Die Lucca entfesselte als Leonore eine hin-
0193reißende dramatische Lebendigkeit und fand in den Herren
0194Rokitansky und Adams vortreffliche Partner. Da
0195athmete denn Jedermann wie nach langer Gefängnißhaft
0196auf, und die gute Hälfte des Publicums verließ das Haus
0197mit der Ueberzeugung, Donizetti’s „Favorite“ sei eine viel
0198bessere Oper als „Jessonda“, „Titus“ u. s. w. Das ist der
0199unter der Langweile tiefer liegende Nachtheil solcher Verun-
0200staltungen, daß sie dem Hörer eine ganz falsche, verleum-
0201derische Vorstellung von den also gehörten Opern einnisten.
0202„Diese „Jessonda“ muß ja eine schrecklich langweilige Oper
0203sein,“ flüsterten sich die Leute zu. Was nützt es, sie des
0204Gegentheils zu versichern; sie sind durch die farb- und leb-
0205lose Concert-Production abgeschreckt und bleiben sicherlich
0206fern, wenn „Jessonda“ (was wir so lange wünschen) wieder
0207einmal als Oper ins Repertoire eintritt. Aber auch wir An-
0208deren hören die uns wohlbekannten Opernfragmente nicht
0209blos resignirt, musikgeduldig, etwa blos mit dem Eindruck
0210des Ungenügenden, sondern mit wirklichem Verdruß, ärger-
0211lich darüber, daß wir hier um einen Genuß gebracht werden, 
0212auf den uns das Hofoperntheater vollen Anspruch gewährt.
0213Wenn eine Musik von der edlen, milden Sentimentalität
0214der „Jessonda“ losgelöst wird von dem dramatischen Knochen-
0215gerüst, das ihr Kraft und Widerhalt verleiht, dann muß sie
0216freilich unendlich monoton erscheinen. Geradezu unver-
0217ständlich werden aber Scenen wie das große Fi-
0218nale aus Mozart’s „Titus“, dieses dramatische Haupt- 
0219und Glanzstück der im Uebrigen veralteten und
0220kaum mehr lebensfähigen Oper. Wenn wir da nicht
0221das aufgeregte Volk über die Bühne stürzen sehen und das
0222brennende Capitol im Hintergrund, so begreifen wir platter-
0223dings nicht, was eigentlich all diese sittsamen Herren
0224und Damen so ruhig aus ihren Notenblättern absingen?
0225So hat man der gegenwärtigen Theater-Generation wahr-
0226scheinlich nur die Meinung beigebracht, daß auch an diesem
0227berühmten Finale „nichts ist“. Der Bühne entbehren können
0228allenfalls Opernfragmente, in welchen bei stillstehender Hand-
0229lung sich die Empfindung des Einzelnen lyrisch ausbreitet,
0230also Arien und Romanzen. Darum erzielte auch die von
0231Herrn Walter sehr zart vorgetragene, an sich unbedeu-
0232tende Romanze aus Halévy’s „Blitz“ mehr Beifall, als alle
0233übrigen Opernscenen zusammen, an welche die Damen
0234Dustmann, Materna, Wilt, Gindele, Siegstädt, die Herren
0235Rokitansky, Walter und Pirk gewiß die redlichste Mühe ge-
0236wendet hatten. Die Sopran-Arie mit Chor aus Mendels-
0237sohn’s
unvollendeter Oper „Loreley“ bildet bekanntlich ein
0238Lieblingsstück aller Concert-Repertoires. Im Hofoperntheater
0239hätte man diese Opernscene nicht anders als im Costüm
0240aufführen sollen; wir würden damit einen neuen schönen
0241Eindruck gewonnen haben, und Herbeck im Kleinen ein
0242ähnliches Verdienst, wie durch seine dramatische Wiederher-
0243stellung des „Manfred“. Der einzige Einwand, welchen die
0244Direction gegen unsere Anschauung vorbringen kann, betrifft
0245den Zeitaufwand und die Mühe des Auswendiglernens von
0246Opernfragmenten, welche nicht auf dem Repertoire stehen.
0247Nun wohl, so führe man in den Akademien des Hofopern-
0248theaters Acte oder Scenen aus bereits einstudirten Opern
0249auf, in passender Auswahl und mit glänzender Besetzung.
0250Das gibt allerdings auch nur ein Flickwerk, aber die concert-
0251mäßige Ausschrottung von Opern ist etwas noch Schlimmeres:
0252eine Barbarei.