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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3722. Wien, Mittwoch, den 6. Januar 1875

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Die Komische Oper.


0002Ed. H. Es war in einer Aufführung der „Beiden
0003Schützen“ von Lortzing. Wie um ein trautes Kaminfeuer
0004saßen wir vor der Bühne und wärmten uns an dem be-
0005scheidenen gesunden Humor der Handlung, an dem gemüth-
0006vollen Frohsinne der Musik. Das ist so recht das Genre,
0007das für unsere Komische Oper paßt und mit ihren Kräf-
0008ten befriedigend gegeben werden kann. Die Herren waren
0009vortrefflich, über die Schwächen des schwachen Geschlechtes
0010sah man willig hinweg, und Alles unterhielt sich bei dem
0011alten Singspiele, das im großen Opernhause wahrscheinlich
0012als eine beleidigende Kinderei aufgenommen und todtgegähnt
0013worden wäre. Die „Beiden Schützen“ belebten neuerdings in
0014uns den Wunsch, es möchte dies schmucke Haus für Wien 
0015erhalten bleiben — wohlgemerkt als ein Hort der wirklichen
0016komischen Oper, nicht als ein Durchhaus für alle erdenkli-
0017chen Sehenswürdigkeiten oder als ein Treibhaus für Kraut
0018und Rüben. Mit welcher Freude hatten wir die Gründung
0019dieses Theaters begrüßt und aus seinen ersten glücklichen
0020Anfängen eine zukünftige Opéra Comique Deutschlands
0021herausgelesen oder doch herausgehofft! Diese Illusion hat
0022uns treulos verlassen: die Komische Oper hält nicht, was sie
0023versprach, steht nicht auf der Höhe der Wiener Theater-
0024ansprüche, sie ist eine anständige Provinzbühne, ohne den
0025Vortheil des sicheren, stabilen Publicums einer solchen. Alle
0026Ehren der rastlosen Thätigkeit Hasemann’s — aber die
0027unruhige Hast, mit welcher diese Thätigkeit sich auf die ver-
0028schiedenartigsten Gattungen wirft („Sommernachtstraum“,
0029Ludwig XI.“), die seltsamsten Combinationen eingeht (Gall-
0030meyer-Rosen), beweist, daß der Grund und Boden bereits
0031wankt, auf welchem die ursprüngliche Kunstbestimmung dieses
0032Theaters sich aufbaute.


0033Die Komische Oper steckt zwischen einem bösen Di-
0034lemma. Entweder sie engagirt ein ausgezeichnetes, das
0035Publicum fesselndes Personal: dann findet sie im uner-
0036schwinglichen Gagen-Etat ihren sicheren Ruin, oder sie spielt 
0037mit größtmöglicher Sparsamkeit („ganz einfach und beschei-
0038den“, wie Matras singt), dann erzielt sie niemals ein volles
0039Haus. Bei den hohen künstlerischen Ansprüchen des Wiener
0040Publicums und bei den enormen Gagen der ersten Sänger
0041und Sängerinnen — sie werden von ihrer Schwindelhöhe
0042gerade so herabsteigen müssen wie unsere Wohnungszinse —
0043kann ein gutes Operntheater ohne Subvention schlechterdings
0044nicht bestehen. Selbst in Paris, wo doch das Genre der
0045komischen Oper sich auf die ältesten Traditionen und die
0046lebhaftesten Sympathien der Bevölkerung stützt, vermöchte
0047die Opéra Comique nicht ohne Zuschuß zu existiren; die
0048Regierung gewährt ihr bekanntlich eine hohe Subvention,
0049wie auch der Großen Oper und dem Théâtre Lyrique. Eine
0050vorzügliche Oper ist ein theures Ding und kostet mehr, als
0051sie einträgt. Es verlautete auch schon in Wien der Wunsch
0052nach einer Subventionirung der Komischen Oper, und gewiß
0053nicht ohne Berechtigung; aber man weiß, daß er bei den
0054Mächten des Hof-Aerars auf unüberwindlichen Widerstand
0055stößt. „Wie?“ heißt es dort, „wir sollten, selbst schwer
0056bedrückt von dem Deficit des Hofoperntheaters, auch noch
0057einen Rivalen desselben unterstützen, einen Concurrenten
0058prämiiren?“ Nun, eine starke Concurrenz macht euch die
0059Komische Oper nicht, bemerkte ich mit einem bedauernden
0060Blick auf die halbleeren Bänke zu einer Hofopern-Autorität,
0061die sich neben mir in den „Beiden Schützen“ amüsirte.
0062„Doch, doch!“ seufzte die Autorität. „Solcher Theaterbesuch
0063hilft der Komischen Oper nicht auf und uns schadet er.
0064Angenommen, daß die „Komische“ auch nur dreihundert
0065Zuschauer allabendlich anlockt, so entzieht sie diese Dreihun-
0066dert dem Hofoperntheater. Macht aber eine Vorstellung
0067oder eine Serie von Vorstellungen volle Häuser, wie das
0068Gastspiel der Lucca oder voraussichtlich das bevorstehende
0069der Patti, so empfindet unsere Kasse den Rückschlag sehr
0070bedeutend.“ Es müßte also, schlossen wir übereinstimmend,
0071ein Mittel gefunden werden, die Komische Oper zu erhal-
0072ten, ja zu heben und sie trotzdem unschädlich, sogar vor-
0073theilhaft zu machen für das Hofoperntheater. Dies wäre
0074der Fall, wenn das Hof-Aerar die Komische Oper
0075in eigene Regie übernähme und mit dem Or-
0076ganismus der großen Oper verbände
.


0077Als eine Zweigstiftung, eine Dependance des Hofopern-
0078theaters könnte die Komische Oper — in Privathänden ein
0079fressendes Kapital — zur ergiebigen Einnahmsquelle werden.
0080Sie würde allmälig einen Theil der Auslagen der großen
0081Oper decken, welche sonst an ihrem Deficit zu ersticken droht.
0082Die Komische Oper braucht, um ein zahlreiches Publicum
0083anhaltend zu fesseln, mehrere Kräfte ersten Ranges, deren
0084Engagement eben das Budget eines Privatdirectors über-
0085steigt. Das Hofoperntheater besoldet ein so zahlreiches Per-
0086sonal, daß ein Theil davon, der sonst unbeschäftigt spazieren
0087geht, leicht an einigen Abenden in der Komischen Oper
0088singen könnte, bei zweckmäßiger Verminderung der Vorstel-
0089lungen. Auch jetzt schon sind die so hoch bezahlten Kräfte
0090der großen Oper nicht hinreichend benützt; so z. B. unsere
0091vier ersten Tenoristen, deren jedem ein achtmaliges Auftreten
0092im Monat garantirt und bezahlt wird, obgleich die wirkliche
0093Erfüllung dieser Contractspflicht eine Unmöglichkeit ist. Denn
0094damit jeder dieser vier Tenoristen achtmal im Monat sänge,
0095müßte der Monat 32 Tage haben und nie ein Ballet ge-
0096geben werden. Es sind das thörichte Contracte, gewiß, aber
0097man hat sie einmal gemacht und macht sie noch immer.
0098Könnte nicht Herr Walter in einer seiner unbeschäftigten
0099Wochen ganz gut in der Komischen Oper den George Brown 
0100oder Belmonte singen, Herr Müller den Postillon oder
0101Knappen Georg, Herr Labatt den Fra Diavolo — Rollen,
0102die sie im Hofoperntheater zu leisten haben? Aehnlich ver-
0103hält es sich mit den Beherrschern des Sopran- und des
0104Baßschlüssels. Fräulein Tagliana hat das Licht zu einem
0105Stern in der Komischen Oper, wie vordem Minnie Hauck;
0106die spiel- und redegewandten Sängerinnen Dillner und
0107Gindele fänden da ein ergiebiges Feld für ihr Talent.
0108Und Rokitansky als Waffenschmied, Scaria als
0109Falstaff, Mayerhofer als Bijou — zu welcher Wir-
0110kung brächten sie am Schottenring die Spielopern, die in
0111den Hallen des neuen Opernhauses sich unscheinbar ver-
0112lieren! Diese und andere für die Spieloper begabte Künstler
0113(Pirk, Neumann, Lay, Hablawetz etc.) denken wir uns abwech-
0114selnd in der Komischen Oper verwendet, aus deren bisherigem
0115Personal die besten Kräfte beizubehalten und wieder ihrerseits
0116aushilfsweise in der großen Oper zu beschäftigen wären.

[2]


0117Zwei Sätze stehen bei jedem Theaterkenner längst außer
0118Frage. Erstens, daß unser Hofoperntheater sich vollständig
0119nur für große Opern und Ballete eignet; zweitens, daß das
0120tägliche Spielen daselbst vom Nachtheil ist. Die erste Wahr-
0121heit erprobt sich an jedem Versuch aufs neue; sie war auch
0122bereits officiell durch die Thatsache anerkannt, daß Herbeck 
0123anfangs die Spielopern im alten Kärntnerthor-Theater gab,
0124bis dieses der Vernichtung anheimfiel. Wenn das ganze Re-
0125pertoire des musikalischen Lustspiels, mit den Kräften des
0126Hofoperntheaters besetzt, in die Komische Oper übersiedelte,
0127so würden diese Opern nicht nur ungleich günstiger wirken,
0128sie würden auch mehr eintragen. Der weit bessere Effect eines
0129Fra Diavolo“, „Waffenschmied“ etc. im kleineren Raum
0130und der Trieb nach Abwechslung müßten diesen Opern am
0131Schottenring mehr Besucher zuführen, als sie bei gleicher
0132Besetzung thatsächlich im Hofoperntheater vorfinden.


0133Um das Alterniren den Hofopernsängern auf zwei Büh-
0134nen zu erleichtern, müßte die Zahl der Vorstellungen in der
0135großen Oper reducirt werden. Ueber das Unzweckmäßige
0136täglicher Opernvorstellungen herrscht kaum mehr eine Mei-
0137nungsverschiedenheit; die Große Oper in Paris gibt hierin
0138ein nachahmenswerthes Beispiel, und thatsächlich kommt es
0139auf dasselbe heraus, wenn die Hofbühnen von Dresden,
0140München, Stuttgart nur zwei Abende wöchentlich der Oper
0141einräumen. Das Publicum strömt dann mit verdoppeltem
0142Eifer hinein, die Vorstellungen sind besser vorbereitet, die
0143Sänger frischer an Geist und Körper. Wie schlaff und
0144nachlässig hat übermäßige Abnützung bei uns die
0145Aufführungen von „Wilhelm Tell“, „Faust“, „Prophet“
0146Hugenotten“ etc. gemacht! Richard Wagner hat in
0147einem an den Redacteur Friedrich Uhl gerichteten Send-
0148schreiben „Ueber das Wiener Hofoperntheater“ (1863) sich
0149mit ebensoviel Scharfsinn als Entschiedenheit darüber aus-
0150gesprochen. Er sagt: „Vom ersten Functionär bis zum letz-
0151ten Angestellten herab weiß das gesammte Personal des
0152Operntheaters, daß der Grund aller Nöthen, Verwirrungen
0153und Mangelhaftigkeiten in den Vorstellungen desselben fast
0154einzig in der Nöthigung, jeden Tag zu spielen,
0155liegt, und Jeder begreift auf der Stelle, daß ein allergröß
0156ter Theil dieser Calamitäten verschwinden würde, wenn diese
0157Vorstellungen etwa um die Hälfte vermindert 
0158würden. Wenn in Paris das Théâtre Français und in
0159Wien das Burgtheater der Forderung, täglich zu spielen,
0160erträglich und ohne zu stark ersichtlichen Schaden für ihre
0161Leistungen nachkommen können, so liegt der Grund hievon
0162darin, daß erstens dem recitirenden Drama eine unendlich
0163größere Anzahl von Stücken, selbst von guten und vorzüg-
0164lichsten Stücken, zu Gebote steht, als einem Operntheater;
0165daß zweitens diese Stücke in genau geschiedene Genres sich
0166theilen, und daß drittens die Leistungen eines Schauspiel-
0167personals zum großen Theil auf dem Privatstudium der
0168Einzelnen beruhen, der einfachere Hergang einer Schauspiel-
0169vorstellung aber verhältnißmäßig weniger Ensemble-Proben
0170benöthigt. Ganz anders aber verhält es sich bei einem Opern-
0171theater, namentlich wenn es das sogenannte große Genre
0172repräsentiren soll; und ganz richtig hat dagegen die Große
0173Oper in Paris (wie auch in Berlin) blos drei- bis viermal
0174die Woche zu spielen, wobei das Gesangspersonal immer noch
0175mit dem Balletpersonal für ganze Vorstellungen abwechselt.“


0176Das Hofoperntheater thäte wohl daran, nach diesem
0177Beispiel auch nur vier, höchstens fünf Vorstellungen (worunter
0178zwei Ballete) wöchentlich zu geben. Der voraussichtlich
0179viel größere Besuch bei verminderten Tageskosten würde
0180kaum einen finanziellen Nachtheil aufkommen lassen, denn
0181leere Häuser, wie wir sie jetzt so oft erleben, bringen der
0182Kasse keinen Segen. Die trefflichen Vorschläge R. Wagner’s
0183unterschreiben wir vollständig, nur mit dem Hintergedanken,
0184daß die Sänger die dadurch reichlich gewonnene freie Zeit
0185nicht blos zum Studium Wagner’scher Partituren, sondern
0186zur Mitwirkung in der Komischen Oper zu verwenden hätten.
0187Wir denken uns die Vorstellungen in der großen und in
0188der Komischen Oper alternirend; nur an den erfahrungs-
0189mäßig einträglichsten Theatertagen (Sonntag, Samstag,
0190allenfalls auch Donnerstag) könnte auf beiden Bühnen zu-
0191gleich gespielt werden, was bei dem großen Personal und
0192mit Hilfe der Balletvorstellungen erreichbar ist.


0193Und die Kosten? Ein so schwacher Rechenkünstler wie
0194ich vermag die finanzielle Seite dieses Vorschlages aller
0195dings nicht hinreichend zu beleuchten; auch berührt nur die
0196künstlerische die Tendenz dieser Zeiten. Ueber die Haupt-
0197sache wird glücklicherweise kein Streit möglich sein: daß zu
0198keiner Zeit ein neues, schönes und wohleingerichtetes Theater
0199mit so geringen Opfern zu erwerben war, als gegenwärtig
0200die durch die Zeitverhältnisse hartbedrängte Komische Oper.
0201Wird diese vom Hof-Aerar übernommen und mit dem Hof-
0202operntheater unter gemeinsame Oberleitung gestellt (Herbeck’s
0203Energie und Arbeitskraft reicht wol für beide aus), so kann
0204der Vortheil einer viel besseren Verwerthung der engagirten
0205Künstler bei nur unbedeutend vermehrten Directionskosten
0206nicht ausbleiben. Was ich hier den Freunden der
0207Oper in Kürze vorgetragen, ist kein fertiger Plan,
0208sondern nur eine Anregung, welche von praktischen Theater- 
0209und Finanzmännern in Erwägung gezogen und weiter aus-
0210geführt werden möge. In engeren Kreisen hat der Ge-
0211danke eine überraschend beifällige Zustimmung gefunden.
0212Wir wollen nicht verschweigen, daß ein in allerjüngster Zeit
0213aufgetauchtes Gerücht unseren Vorschlag zu durchkreuzen
0214scheint: die Nachricht, es sei die Komische Oper zur pro-
0215visorischen Stätte des Hofschauspieles ausersehen, bis zur
0216Vollendung des neuen Burgtheaters. Dem Wiener Theater-
0217Publicum wäre allerdings auch mit dieser Uebersiedlung ein
0218erfreuliches Geschenk dargebracht, denn der Gedanke, noch
0219einige Jahre an das finstere, enge und feuergefährliche Ver-
0220ließ am Michaelerplatz gebannt zu sein, wirkt niederdrückend.
0221Vom Standpunkte des Hof-Aerars mag es sich empfehlen,
0222durch diesen Ankauf unter allen Umständen Ein Theater
0223außer Concurrenz zu stellen. Aber die Benützung der
0224Komischen Oper für das Schauspiel wäre doch nur eine
0225vorübergehende und kann unser im Interesse der Oper ge-
0226hegtes Project nur aufschieben, nicht aufheben. Mit dem
0227Eröffnungsabend des neuen Burgtheaters stünde das Haus
0228der Komischen Oper wieder frei, und dann wüßten wir
0229demselben keine schönere Bestimmung, keinen besseren Wunsch,
0230als daß es unter gemeinsamer Leitung mit dem Hofopern-
0231theater seiner ursprünglichen Mission zurückgegeben und
0232wieder das werde, was es von Anfang gewesen: die Ko-
0233mische Oper.