Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3819. Wien, Mittwoch, den 14. April 1875

[1]

Musik.

(Adelina Patti. — Dessoff.)


0003Ed. H. „La Patti nous est revenue, plus Patti que
0004jamais!“ So begrüßte jüngst W. v. Lenz, der ewig junge
0005Doyen der Patti-Schwärmer, die Ankunft Adelina’s in
0006Petersburg. Dergleichen stylistische Putzwaare, die einem
0007französischen Feuilletonisten so reichlich zu Gebote und so
0008kleidsam zu Gesicht steht, ist kaum übersetzbar, und wäre sie
0009es, sie würde im Deutschen einen etwas thörichten Eindruck
0010machen. Ein Wiener Kritiker, der mit jedem jungen Jahre
0011die Patti wiederkehren sieht, empfindet bei aller Freude im
0012Herzen doch zugleich eine seltsame Verlegenheit im Federkiel.
0013Was läßt sich denn noch Neues sagen über die Patti?
0014Was gibt es überhaupt Unergiebigeres für den Kritiker,
0015als die absolute Vollendung? Anders wenn wir die Künst-
0016lerin alljährlich in neuen Rollen zu hören bekämen. Mit
0017gespannter Erwartung zu verfolgen, wie ein glänzendes
0018Talent eine neue dramatische Aufgabe erfaßt und durchführt,
0019gehört ja zu den schönsten Festen unseres Berufs. Die
0020bekannteste Individualität wird uns neu in jeder neuen
0021Rolle. Man wiederholte aber auch in dieser Saison bisher
0022nur das ältere, längst bekannte Repertoire der Patti. Das
0023Monopol des Hofoperntheaters einerseits, die Beschränkung
0024eines kurzen, von einem nur kleinen Personale bestrittenen
0025Gastspieles andererseits versagen unserer Komischen Oper
0026die Aufführung jener größeren musikalischen Dramen, welche
0027die Patti neuester Zeit mit besonderer Vorliebe und Wir-
0028kung singt, wie „Romeo und Julie“, „Hugenotten,“ „Nord-
0029stern,“ „Mireille“. Auch ältere Lieblingsopern dieser Sän-
0030gerin, wie „Gazza ladra“, „Die Krondiamanten“ und an-
0031dere, wollen in Wien nicht zu Stande kommen — leider, denn
0032jede neue Rolle der Patti, sei es auch in geringeren Wer-
0033ken, erschiene uns wie ein Festgeschenk. Also „Lucia“,
0034Sonnambula“ etc. Die Opern selbst sind bis zur Langweile
0035abgespielt, ohne Frage. Aber was die Patti darin leistet,
0036entzückt es uns heute weniger, als vor zwei oder
0037drei oder vor zwölf Jahren? Gewiß nicht. Und 
0038für die gleiche Freude ziemt sich auch der gleiche Dank. Wir
0039sollen und dürfen nicht müde werden, diesen geradezu einzi-
0040gen Verein von reizendsten Naturgaben und außerordent-
0041licher Kunstvollendung zu preisen, dem Publicum und ganz
0042besonders unseren Sängern zuzurufen: Geht hin und genießt,
0043geht hin und lernt ! Wenn Adelina in Wien immer wieder
0044dasselbe singt, warum sollten wir nicht auch wieder dasselbe
0045schreiben, und wäre es nur, daß sich nichts mehr über sie
0046schreiben läßt? Die fast kindlich anmuthige Erscheinung, der
0047bezaubernde Silberklang der Stimme, die mühelose Leichtig-
0048keit der Bravour — das Alles ist ihr unberührt geblieben
0049von der Zeit. Was uns aber neben und über diesen Vor-
0050zügen der Patti jedesmal neu entzückt, ist ihr unvergleich-
0051licher musikalischer Schönheitssinn. Nicht immer erblüht die
0052Virtuosität aus einer tief und wahrhaft musikalischen Natur,
0053und der Virtuose, der länger als ein Decennium von
0054Triumph zu Triumphen eilt, büßt in der Regel die Einfalt
0055der musikalischen Empfindung ein. Er wird raffinirt, gekün-
0056stelt und trachtet durch gesuchte Effecte, überscharfen Accent
0057und gehäuften Schmuck die verlorene Unschuld des Schö-
0058nen zu ersetzen. Wie oft haben wir diese Verzerrung an
0059den glänzendsten Bühnentalenten erlebt, deren „Reisen um
0060die Welt in achtzig Tagen“ sie um den stillen künstlerischen
0061Erwerb von Jahren brachten! Bei Adelina Patti keine Spur
0062eines solchen Einflusses. Wer hat sie je auf einem unmo-
0063tivirten Effect betreten? Wer hat sie, auch im höchsten
0064Affecte, die Linie des Musikalisch-Schönen überschreiten
0065sehen? Sie singt immer rein, immer im Tact, sie respectirt
0066die Note des Componisten, sie tremolirt weder, noch über-
0067treibt sie. Das fast verloren gegangene Geheimniß guter ita-
0068lienischer Sänger: den Ton weit und stark auszuschicken,
0069ohne zu schreien, sie besitzt es vollständig. Ebenso ist ihrem
0070Spiele die volle Einfachheit und liebenswürdige Natur treu
0071geblieben; die Uebersättigung an alten Rollen hat sie nie-
0072mals dem falschen Geist des Geistreichen und Neuen um
0073jeden Preis in die Arme getrieben. Einfache Partien wie
0074Sonnambula singt und spielt sie durchaus einfach, und
0075raffinirten Rollen wie Dinorah weiß sie noch einen Hauch
0076von Wahrheit und Herzlichkeit einzuathmen, welcher uns fast
0077mehr überzeugt, als der Componist verdient hat.


0078In „Lucia“ und „Sonnambula“ mußte man sich an
0079die Patti ganz allein halten; die Herren waren ihren Auf-
0080gaben nicht gewachsen, Aufgaben, in welchen uns heutzutage
0081schon langweilig erscheint, wer nicht ausgezeichnet ist. Besser
0082gestaltete sich der Total-Eindruck der Oper „Dinorah“,
0083deren Männer-Rollen in jedem Betracht hinreichend hinter
0084Dinorah zurückstehen, um den vollen Glanz dieser ganz
0085unvergleichlichen Leistung der Patti nicht zu trüben. Signor
0086Rota, welcher am ersten Abend den Enrico in der „Lucia“
0087als einen sehr heiseren Tyrannen hingestellt und dadurch
0088unserem Mitleid näher gebracht hatte, war als Hoël besser
0089bei Stimme und sang diese affectirte Partie möglichst schlicht
0090und bescheiden. Die jugendliche und hinreichend kräftige
0091Tenorstimme des Signors Gayarre hat einen unedlen
0092Timbre, wird leicht kreischend, paßt somit schlecht für die
0093ideale Lyrik eines Elvino oder Edgardo. Besser verträgt
0094sich der tölpische Bauernjunge Correntin mit dem scharfen
0095Zinkenton dieser Naturburschenstimme. Leider ließ er auch
0096hier diese Stimme rücksichtslos ausströmen und deckte die
0097Patti in dem Glockenterzett, dessen Schlußsatz er durch seine
0098kukuksmäßig herausgeschrienen kleinen Terzen um das schöne
0099Ebenmaß des Klanges brachte. Schade, daß so viele Sänger,
0100welche das Glück haben, monatlang mit der Patti zu
0101singen, in diesem Hauptpunkte nichts von ihr lernen — heuer
0102so wenig wie in den vorigen Jahren. Einen Vorzug be-
0103merkten wir übrigens an allen italienischen Sängern bis
0104zum geringsten herab: die deutliche Aussprache. Hier könnten
0105wieder unsere deutschen Sänger viel lernen.


0106Die beiden in ihrem Ensemble gelungensten Vorstellun-
0107gen der italienischen Operngesellschaft waren diejenigen, in
0108denen der Tenorist Capoul mitwirkte: „La Traviata“ und
0109Don Pasquale“. Ich kenne Capoul noch von der Pariser
0110Opéra Comique her, wo er (1867) in Spielopern wie
0111Mignon“, „Der Zweikampf“, „Marie“ und anderen durch ele-
0112gante Haltung, graziösen Vortrag und glückliche Behandlung
0113des Wortes vielen Beifall fand. Die Vorzüge, welche diesen
0114Spieltenor so werthvoll machten für die französische komische
0115Oper, kann er allerdings in der italienischen Oper nicht im
0116gleichen Maße entfalten; für manche Aufgaben seiner
0117jetzigen Laufbahn fehlt es seiner Stimme auch an Fülle und [2]
0118Kraft. Dennoch erfreuen auch hier seine Leistungen durch
0119Feinheit und Anmuth der Form, wie durch Zartheit
0120der Empfindung. Letztere ist echt bei Capoul, nur treibt
0121ihr Uebermaß ihn oft zur Uebertreibung, insbeson-
0122dere durch Tremoliren und Schleppen des Tempos.
0123Die Liebeserklärung am Schlusse des ersten Actes der
0124Traviata“ zeigte das am auffallendsten. Im Finale des
0125zweiten Actes war sein Spiel voll Feuer und Ausdruck, und
0126im dritten Acte der „Traviata“ hatten wir ganz specielle
0127Freude darüber, daß Capoul nicht à la Nicolini die
0128erste Sylbe von „Parigi, o cara, lasciaremo!“ wie einen
0129Kanonenschuß abfeuerte. An sinnlicher Frische und Unmittel-
0130barkeit steht Capoul hinter den besseren seiner italienischen
0131Collegen zurück, dafür hat er den großen Vorzug, daß
0132Wort, Ton und Geberde bei ihm Eins sind. Einige Ge-
0133ziertheit wird man mitunter an ihm bemerken, aber nie
0134eine Rohheit. Auch der Ernesto im „Don Pasquale“, eine
0135kleinere, meist stiefmütterlich besetzte Tenorpartie, fand in
0136Herrn Capoul einen sehr gewinnenden Repräsentanten.
0137Rota gab als Doctor Malatesta sein Bestes; er verwen-
0138det seine bedeckte und ziemlich reizlose Baritonstimme wenig-
0139stens mit Maß und Geschmack, auch mit anerkennenswerther
0140Kehlengeläufigkeit. Als Don Pasquale begrüßten wir mit
0141Freuden unseren altbewährten Liebling Zucchini, dem die
0142Zeit zwar Einiges an Stimme, aber nichts an komischer
0143Kraft genommen hat. Er ist prädestinirt für Buffopartien
0144wie Don Pasquale oder Dulcamara. Nur ein alter Ita-
0145liener kann ein zugleich so intelligentes und so komi-
0146sches Gesicht haben. Und vollends die Gesichter, die
0147er mit diesem Gesichte zu schneiden weiß! Dabei
0148welche abenteuerliche Zungengeläufigkeit, welche musikalische
0149Sicherheit und welch discretes, echt dramatisches Einfügen
0150ins Ensemble! Die Vorstellung des „Don Pasquale“, dieser
0151unwiderstehlich fröhlichen, von Laune und Wohlklang über-
0152strömenden Musik, gewährte einen seltenen Genuß. Wie die
0153Traviata“ die bedeutendste ernste Partie der Patti ist, so
0154steht ihre Norina obenan unter den heiteren. Da herrscht so
0155viel Anmuth und kindliche Munterkeit, daß man dieser im
0156Grunde recht gewissenlosen Kokette (Goldoni’s „Listige
0157Witwe“) nicht gram werden kann. In der Scene, wo der 
0158alte Pasquale über die erlittene Demüthigung wehklagt,
0159brachte die Patti einen sehr hübschen, versöhnenden Zug an,
0160der ihr allein gehört: die mitleidig theilnehmende Miene,
0161mit welcher sie, unbemerkt von Don Pasquale, auf ihr
0162Opfer herüberblickt. Sie schämt sich doch einen Moment,
0163Pasquale dauert sie. Aber es gilt, rasch in den Besitz des
0164geliebten Ernesto zu kommen, und so rafft sie sich denn gleich
0165mit einem grausam entschlossenen Lächeln wieder auf, welches
0166ungefähr sagen will: „Es muß sein! Crepa!“


0167Und nun von der Komischen Oper zu einem weh-
0168müthigen Lebewohl! Es war Dessoff’s Abschiedsconcert
0169im großen Musikvereinssaale. Auf die „Euryanthe“-Ouvertüre,
0170die Florestan-Arie (Walter), das Quintett aus „Così fan
0171tutte“ (Ehnn, Materna, Müller, Mayerhofer,
0172Rokitansky) folgte Beethoven’s Neunte Symphonie.
0173Es war eine vollendete Aufführung, an welcher, dem schei-
0174denden Dirigenten zu Ehren, das gesammte Personal des
0175Hofoperntheaters, Chor und Solosänger, sich betheiligte.
0176Der Klang so vieler schöner Solostimmen (Ehnn, Dust-
0177mann, Dillner, Materna, Tagliana, Siegstädt, Tremel,
0178Wanda etc.) hob die „Freudenhymne“ zu ungewöhnlicher
0179Wirkung. Meisterhaft sang Rokitansky das einleitende
0180Recitativ, und Dessoff dirigirte mit einer Kraft und Be-
0181geisterung, als wollte er uns den Abschied noch schwerer machen.
0182Der stürmische Applaus und Zuruf, mit welchen Dessoff das
0183ganze Concert hindurch ausgezeichnet wurde; die vielen Kränze,
0184die fast wie ein kleiner Lorbeerhain das Dirigentenpult umgrün-
0185ten, schließlich die Ovationen und Ehrengeschenke nach been-
0186digtem Concert — dies Alles bildete wol die herzlichste und
0187imposanteste Demonstration, die je ein Capellmeister in Wien 
0188erlebt hat. Hätte für Dessoff’s rühmliches, zur Stunde un-
0189ersetzliches Wirken auch in anderen Kreisen dasselbe aner-
0190kennende Verständniß gewaltet, wie in dem gesammten Publi-
0191cum, der Mann wäre für Wien erhalten geblieben. Hoffen
0192wir, daß er eines Tages zurückkehrt. Wie heißt es doch in
0193dem schönen Liede von Mendelssohn: „Wenn Menschen aus-
0194einandergeh’n, so sagen sie: Auf Wiederseh’n!“ Schade nur,
0195daß das leichter gesagt als erlebt wird. Auch mit diesem
0196Troste ist es ein traurig Ding, „wenn Menschen auseinander-
0197geh’n“!