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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3844. Wien, Sonntag, den 9. Mai 1875

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Musikalische Briefe aus Paris.

1. Die letzten Tage Auber’s

Paris, im Mai 1875.


0004Ed. H. Der Fremde, der nach mehrjähriger Abwesen-
0005heit eine ihm liebgewordene Stadt wieder besucht, empfindet
0006lebhafter als der Einheimische selbst die Abwesenheit heim-
0007gegangener theurer und bedeutender Menschen. An Ort und
0008Stelle berührt ihn, und nur ihn allein, ihr Tod wie eine
0009schmerzliche Neuigkeit. In dem verschlingenden Lebenswirbel
0010von Paris, wer spricht da noch viel von Auber, Rossini,
0011Berlioz? Nicht zu gedenken so mancher minder berühmter,
0012liebenswürdiger Künstler, die in dem glänzenden Ausstel-
0013lungsjahr 1867 hier mit uns sich fröhlich tummelten.


0014Dans ce pays-ci, quinze jours, je le sais, /
0015Font d’une mort récente une vieille nouvelle. /


0016Alfred de Musset spricht nur zu wahr mit diesem
0017traurigen Verse. Mir aber war’s vor den leeren Wohnungen
0018jener drei Meister, als stünde ich vor frisch aufgeworfenen
0019Gräbern; zähle ich doch meinen Verkehr mit ihnen dankbar
0020zu meinen schönsten Erlebnissen.


0021Um die letzten Lebenstage Auber’s erkundigte ich
0022mich angelegentlich, hatten wir doch in Deutschland so spär-
0023liche und unsichere Nachrichten darüber erhalten. Sogar in
0024der Angabe des Todestages stimmten die Blätter nicht
0025überein. Auber starb in der Nacht vom 12. auf den 13. Mai
00261871, eine halbe Stunde nach Mitternacht. Unter den politischen
0027Donnerschlägen jener Zeit blieb sein Tod fast unbeachtet, beinahe
0028wie das Ableben Donizetti’s im April 1848. Die Nachricht vom
0029Tode Donizetti’s verhallte in Deutschland und Frankreich 
0030inmitten des neuen Freiheitsjubels; wer kümmerte sich in
0031dem allgemeinen Rausch jenes Völkerfrühlings um einen
0032einzelnen Sarg, der unten still vorübergetragen wurde?
0033Und doch lag ein Mann darin, der, hoch gefeiert und geliebt,
0034durch seine Melodien Tausende in allen Ländern tausendmal
0035erfreut hatte. Donizetti starb zu unrechter Zeit. Ebenso
0036Auber, nur mit dem Unterschied, daß seine letzten Athem-
0037züge nicht von allgemeinem Völkerjubel, sondern von den
0038Gräueln einer entsetzlichen politischen Katastrophe verschlun-
0039gen wurden. „Toute éxageration est une faute,“ sagte er
0040in seiner letzten Krankheit, „man muß nichts übertreiben, 
0041auch nicht, wie ich, das lange Leben.“ Es ist übrigens ein
0042vielverbreiteter Irrthum, daß Auber allein und verlassen ge-
0043storben sei; Ambroise Thomas, sein treuer Freund und
0044Schüler, der während der Belagerung und der Commune
0045Paris keinen Augenblick verlassen hatte, war täglich um ihn
0046und hat ihm die Augen zugedrückt.


0047Aus dem Munde Ambroise Thomas’ erfuhr ich nach-
0048stehende Einzelheiten: Auber’s größter Luxus bestand in
0049schönen Wagen und Pferden. So recht geliebt hat er
0050eigentlich außer seinen Pferden kein lebendes Wesen. Da
0051kam die böse Hungersnoth über das eingeschlossene Paris,
0052und die Communards requirirten überall gegen eine unbe-
0053deutende Entschädigung Pferde aller Art, um sie zu schlach-
0054ten. Von vier kostbaren Pferden, welche Auber damals im
0055Stalle hatte, nahm man ihm vorläufig drei weg; er empfand
0056tiefen Schmerz darüber, ohne sich zu beklagen oder
0057die mindeste Einwendung zu erheben. Nun kam man auch,
0058sein letztes Pferd zu holen, einen englischen Rappen von hohem
0059Werthe. Ambroise Thomas wollte sofort Schritte thun,
0060damit die Behörde aus Achtung für den berühmten, greisen
0061Meister eine Ausnahme mache und ihm das letzte Pferd,
0062seinen Liebling, lasse. Allein Auber ließ es nicht zu. „C’est
0063la loi!“ wiederholte er unerschütterlich, obwol der Schmerz,
0064das edle Thier geschlachtet zu sehen, ihn fast übermannte.
0065Da fand Thomas einen glücklichen Ausweg. Er bat einen
0066einflußreichen Beamten der Commune um die Erlaubniß,
0067ein anderes Pferd an Stelle des Auber’schen ausliefern zu
0068dürfen, und erhielt sie. Der ihm nahe befreundete Chef der
0069berühmten Clavierfabrik Pleyel und Wolf, August Wolf,
0070hatte von seinen zehn bis fünfzehn Pferden noch drei zum
0071nothdürftigsten Betriebe seiner Fabrik in Saint-Denis 
0072zurückbehalten dürfen. Eines davon wurde heimlich in den
0073Hofraum von Auber’s Haus gebracht und der Commune
0074ausgeliefert, während Auber’s Lieblingsroß, vor einen mit
0075Brettern beladenen Karren gespannt, nach Wolf’s Fabrik
0076trabte. Genau wie in so vielen menschlichen Rettungsge-
0077schichten! Täglich erkundigte sich der von immer heftigeren
0078Schmerzen gefolterte Auber, ob sein Pferd am Leben und
0079gut versorgt sei. Noch am Vorabend seines Todes. Der
0080Geist des fast Neunzigjährigen war während seines letzten
0081schmerzlichen Krankenlagers merkwürdig hell geblieben. Er
0082versuchte ein Stück für Kammermusik zu schreiben und ließ
0083sich Quartette von Mozart und Beethoven aus seiner Bibliothek 
0084holen. „Ein Blick auf diese Werke,“ sagte er lächelnd, „wird mich
0085hoffentlich bestimmen, zu verbrennen, was ich eben geschrie-
0086ben habe.“ Wenigen Sterblichen war ein so ununterbrochen
0087glückliches Leben beschieden gewesen, wie unserem Meister;
0088aber der Tag kam doch, wo er seine Schuld abzahlen
0089mußte. Das Schicksal Frankreichs erfüllte ihn mit Angst
0090und Kummer, die Herrschaft der Communards mit grenzen-
0091losem Abscheu. Einen politischen Trost vermochte ihm zur
0092Stunde Niemand zu geben, nach religiösem verlangte er
0093nicht. So endete der Componist des „Fra Diavolo“, der
0094Ewig-Junge, Uralte — zermartert von körperlichen Schmer-
0095zen, erdrückt von Kummer über seine Landsleute und von
0096Angst für Paris, das er über Alles geliebt und zeitlebens,
0097Sommer und Winter, nicht verlassen hat. Die Communards
0098wollten den Tod des berühmten Meisters zu einer dema-
0099gogischen Manifestation benützen, mit rothen Fahnen und
0100greller Militärmusik die Leiche zur Bestattung abholen. Die
0101Demagogen haßten Auber, den sie „le musicien
0102aristocratique“ nannten, und hätten die Gelegenheit zu
0103häßlichen Demonstrationen nicht unbenützt gelassen. Ambroise
0104Thomas, dem diese Leute ebenso verhaßt waren wie seinem
0105verstorbenen Meister, beschloß, eine solche Demonstration um
0106jeden Preis zu verhindern und die Leiche für eine fried-
0107lichere Zeit und ein ehrbareres Geleite aufzubewahren. Er
0108machte geltend, daß man mit der Bestattung Auber’s war-
0109ten müsse, bis dessen einzige Verwandten, zwei Nichten
0110in der Provinz, nach Paris gelangen könnten. Auf
0111diesen Vorwand hin erwirkte er die Erlaubniß, Auber’s
0112Leiche aus dessen Hotel, Rue St. Georges, in aller Stille
0113fortschaffen und in einem Gewölbe der Kirche St. Trinité
0114beisetzen zu dürfen. Hier lag der Leichnam drei Monate
0115lang. Erst nach dem Einrücken der französischen Armee in
0116Paris fand (am 15. Juli 1871) die feierliche Uebertragung
0117desselben nach dem Père-Lachaise statt, und Ambroise Thomas,
0118Alexander Dumas und Andere sprachen warme, erhebende
0119Worte an dem offenen Grabe. Es ist dies jedoch nur eine
0120provisorische Grube, in welcher die Gebeine Auber’s noch
0121immer nicht zur Ruhe kommen sollen. Erst kürzlich haben
0122die Freunde und Collegen Auber’s ein eigenes Grab ange-
0123kauft und sammeln jetzt für ein würdiges Denkmal. Ambroise
0124Thomas und der hochgeachtete Chef der Musikhandlung
0125Brandus stellten sich an die Spitze einer Subscription und
0126veranlaßten einen öffentlichen Aufruf. Aus Dankbarkeit für [2]
0127die Monumente, welche Auber durch seine Werke der Nation
0128gesetzt, soll diese nun dem Meister das gebührende Denkmal
0129setzen. Ich sah bei Herrn Brandus den Subscriptionsbogen,
0130auf welchem die Namen fast aller renommirten Tonkünstler
0131sich finden. Rührend erschien es mir, daß zuerst und mit den
0132größten Beträgen die Witwen der verstorbenen Freunde
0133Auber’s (veuve Scribe, veure Halévy, veuve Meyer-
0134beer
, veuve G. Kastner etc.) sich eingestellt hatten. Die
0135echte Pietät des Frauenherzens!


0136Es erregte anfangs allgemeines Befremden, daß man
0137die Kosten des Grabsteins durch öffentliche Subscription
0138decken müsse. Wie? rief man, ein Grand-Seigneur von dem
0139Einkommen Auber’s, der für Niemanden zu sorgen hatte
0140sollte nicht einmal so viel hinterlassen haben? Die Erklä-
0141rung lautet fürs erste, daß Auber seine Einnahmen fast voll-
0142ständig für sich und seine verschiedenen Liebhabereien ver-
0143brauchte; sodann daß dieses Einkommen nicht so beträchtlich
0144war, wie man glaubt. Zur Zeit seiner größten Theater-
0145Erfolge standen Honorare und Tantièmen keineswegs auf
0146ihrer gegenwärtigen Höhe; Auber hat mitunter in vier bis
0147fünf Jahren nicht so viel eingenommen, wie Offenbach in
0148manchem Monat. Obendrein hatte er bei herannahendem
0149Alter sein Autorrecht ein- für allemal gegen eine billige
0150Jahresrente veräußert. So hinterließ er nur ein bescheidenes
0151Vermögen, welches zwei im Leben ihm ziemlich fremd ge-
0152bliebene Nichten, alte Betschwestern in der Provinz, geerbt
0153haben. In nicht ferner Zeit wird auf dem Père-Lachaise ein
0154Denkstein die Ruhestätte des Meisters bezeichnen, dessen
0155glänzendes Talent nur von seiner unverwüstlichen Arbeits-
0156kraft noch übertroffen wurde. Frankreich, das seine großen
0157Männer im Leben wie im Tode zu ehren weiß, hat damit
0158seine Schuldigkeit gethan. Aber trotzdem kann man sich des
0159Eindrucks hier nicht erwehren, daß die egoistische Kaltherzig-
0160keit, welche Auber als Menschen charakterisirt, sich noch in
0161seinen letzten Tagen und nach seinem Tode an ihm gerächt
0162habe. Mit Rührung und Herzlichkeit habe ich Niemanden
0163von Auber sprechen hören. An seinem Grabe flossen Ströme
0164bewundernder und bewunderungswürdiger Beredsamkeit —
0165aber es floß keine Thräne. Seine Gleichgiltigkeit gegen die
0166Mitmenschen wird ihm nun von diesen nachträglich zurück-
0167gezahlt, und der Tod Auber’s scheint keine Lücke zurückgelassen
0168zu haben in dem Herzen von Paris.