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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3847. Wien, Mittwoch, den 12. Mai 1875

[1]

Musikalische Briefe aus Paris. II.

(Opéra Comique. — Verdi’s Requiem. — Die Oper „Carmen“.)

Paris, im Mai 1875.


0004Ed. H. Noch früher als ins neue Opernhaus eilte ich
0005zu meinem alten Liebling, der Opéra Comique. Aeußerlich
0006fand ich Alles unverändert, nur zu sehr. Die Fauteuils sind
0007seit meinem ersten Besuch (1860) gewiß nicht neu überzogen
0008worden, das rothe Tuch hängt schmutzig und zerrissen herab.
0009Wie fast in allen Pariser Theatern, sind diese Sitze nicht zum
0010Aufschlagen und die Reihen sehr eng aneinandergerückt. Da
0011gibt es denn ein Uebereinandersteigen der Späterkommen-
0012den über die bereits Ansässigen, und in den Zwischenacten
0013ein Voltigiren, Kneten und Wälzen ohne Ende. Wie wir in
0014Wien durch den unvergleichlichen Comfort des neuen Opern-
0015hauses verwöhnt worden sind, so dürften die Pariser gleicher-
0016weise durch ihre so bequem eingerichtete Große Oper bald
0017empfindlicher werden gegen die barbarische Einpferchung in
0018den übrigen Theatern. Noch immer strecken in der Opéra
0019Comique die sechs Contrabässe ihre Giraffenhälse dicht vor
0020der ersten Sitzreihe in die Luft und hindern uns die Aus-
0021sicht auf die Bühne: eine Freiheit, die sich in Wien doch
0022nur die neumodischen, an Wallenstein’s Lager erinnernden
0023Damenhüte herausnehmen. Letztere geniren hier nicht, denn
0024Damen werden in Paris nicht zugelassen in den Parterre-
0025raum, was mit Rücksicht auf die erwähnte Kletterei ganz
0026vernünftig ist. Für Musiker sei noch bemerkt, daß auch die
0027Zusammensetzung des Orchesters die alte geblieben ist: nur
0028Naturhörner und Zugposaunen, die Ventile sind noch nicht
0029erfunden für die französischen Orchester. Blos die Große
0030Oper benützt jetzt neben zwei Naturhörnern zwei Ventil-
0031hörner. Ist die Komische Oper äußerlich unverändert ge-
0032blieben seit Decennien, so ist sie es doch leider nicht in ihrem
0033künstlerischen Gehalt. Ich fand sie entschieden gesunken so-
0034wol in Betreff des Repertoires als der Sänger und schließ-
0035lich der Theilnahme des Publicums. Dasselbe gilt von allen
0036Pariser Theatern, in welchen Musik gemacht wird, in Be-
0037zug auf diese Musik. Von der Großen Oper angefangen 
0038(über welche ich Ihnen demnächst berichte) bis zu den klei-
0039nen Musentempeln, welche Offenbach und Strauß spielen,
0040überall dieselbe betrübende Wahrnehmung. Sie wird von
0041allen Pariser Musikern und Kunstfreunden unbedingt getheilt,
0042mit denen ich davon gesprochen.


0043Die Opéra Comique gibt, ihrem alten Princip getreu,
0044die Woche hindurch ihre Novitäten und Sonntags „le
0045repertoire“, das heißt ältere Opern. Die Novitäten, welche
0046seit vierzehn Tagen sich in die Abende der Opéra Comique
0047theilen, sind: eine vieractige Oper: „Carmen“, von G.
0048Bizet, und — Verdi’s Requiem. Seltsame Zusammenstel-
0049lung! Praktische Erwägungen haben sie veranlaßt. Das
0050Requiem“ hat, trotz wiederholter Aufführungen im vorigen
0051Winter, sich jetzt noch so zugkräftig erwiesen, daß es in den
0052letzten vierzehn Tagen siebenmal bei stark besuchtem Hause
0053gegeben werden konnte. Chor und Orchester sind von der
0054Opéra Comique, das Soloquartett bilden die italienischen
0055(oder richtiger aus Italien kommenden) Sängerinnen Stolz 
0056und Waldmann, der Tenor Masini, der Bassist
0057Medini; Verdi dirigirt persönlich mit großer Würde und
0058Entschiedenheit. Der Director der Komischen Oper („Päch-
0059ter“ nach unserem Begriff), Mr. Delocle, macht nicht
0060nur positiv ein gutes Geschäft mit diesen Requiem-Abenden,
0061sondern auch negativ, indem er drei Opernvorstellungen in
0062der Woche erspart. Sein Theater theilt nämlich jetzt mit
0063manchem Wiener Theater das Schicksal schwachen Besuches
0064und soll (was bisher nie geschehen war) für zwei volle
0065Monate geschlossen werden. Während dieser Monate, Juni
0066und Juli, will das Personale der Opéra Comique in Wien 
0067gastiren. Diese Maßregel erfährt mannichfache Opposition in
0068der Pariser Presse, wie im Publicum; man findet sie eines
0069ersten Pariser Theaters nicht würdig. Trotzdem dürften die
0070finanziellen Gründe den Ausschlag geben, und wir können
0071nur wünschen, daß die französische Gesellschaft in Wien 
0072eine bessere Ernte erziele, als die heißen Monate in der
0073Regel gewähren. Auch Verdi kommt schon zu etwas später
0074Jahreszeit nach Wien, doch wird ihm das Publicum gewiß
0075nicht fehlen für zwei bis drei Aufführungen seines Requiems.
0076Das Werk ist effectvoll und interessant, es ist vor Allem
0077(wie „Aïda“) merkwürdig als Markstein in der Entwicklungs-
0078geschichte Verdi’s. Mag man es nun höher oder tiefer stel-
0079len, mehr oder weniger daraus wegwünschen, der Ausruf: 
0080„Das hätten wir von Verdi nie erwartet!“ wird nirgends
0081ausbleiben. Es enthält Stücke von ungewöhnlicher Klangschön-
0082heit, von ergreifendem Ausdrucke, von grandiosem Effecte; dabei
0083gehört es vollständig ihm an, ist unverkennbarer Verdi,
0084wenn auch weit entfernt von dem des „Ernani“. Das
0085Studium der älteren römischen Kirchenmusik und der deut-
0086schen Meister leuchtet hindurch, aber nur als Schimmer,
0087nicht als Vorbild. Es berührte mich doch eigenthümlich, als
0088ich hier auf Verdi’s Pianino das „Deutsche Requiem“ von
0089Brahms erblickte (Pariser Ausgabe mit französischem
0090Text); kein anderes Notenheft. Eine Aeußerung darüber
0091konnte ich dem Maestro nicht entlocken, er hatte das Werk
0092„eben erst bekommen“. Die Liebe und Ausdauer, mit wel-
0093cher Verdi an seinem Requiem gearbeitet, sind nicht ver-
0094loren; aber offen gestanden, wir hätten sie doch auch lieber
0095auf eine Oper verwendet gesehen. Das Theater hat diesen
0096Componisten lieber und nöthiger als die Kirche. Diese
0097braucht im Grunde gar keine Novitäten. Moderne Compo-
0098nisten, dramatische zumal, welche ausnahmsweise ein geist-
0099liches Werk liefern, denken dabei auch wirklich weniger an
0100die Kirche, als an den Concertsaal. Verdi wollte mit seinem
0101Requiem offenbar mehr den Menschen zeigen, was er kann,
0102als dem lieben Gott, was er glaubt. Das bisher ganz un-
0103gewöhnliche Unternehmen, die Hauptstädte Europas mit
0104einem Requiem zu bereisen, verstärkt den Eindruck des
0105Weltlichen an dieser Composition. Eine eingehende Bespre-
0106chung derselben darf ich mir für Wien versparen, wo Verdi 
0107demnächst das Requiem aufführt mit denselben Solosängern
0108und einem besseren Chor als dem der Opéra Comique,
0109welchem es, bei der eigenthümlich vorschlagenden Schärfe
0110der französischen Frauenstimmen, an Klangschönheit fehlt.
0111Gelungen war die hiesige Anordnung von Chor und Orchester
0112auf der Bühne. Die Choristinnen erschienen sämmtlich in
0113faltenreich herabwallenden weißen Gewändern und langen
0114schwarzen Schleiern. Es war wie eine Procession von Nonnen
0115und stimmte vortrefflich zu dem Inhalte der Production.


0116Gehen wir von dieser geistlichen Novität der Opéra
0117Comique zu der weltlichen über: „Carmen“, von Georges
0118Bizet, welche hier einen nicht gewöhnlichen und ziemlich
0119andauernden Erfolg behauptet. Carmen (ein in Spanien 
0120häufiger Taufname, wörtlich Garten bedeutend, im Diminu-
0121tiv Carmentia, Gärtchen) ist die Heldin einer spannenden, [2]
0122an psychologischen Feinheiten reichen Novelle von Prosper Méri-
0123mée
. Das gewandte, unermüdlich thätige Dioskurenpaar
0124Meilhac und Halévy hat diese Erzählung zu einem Libretto
0125von unleugbarem Reize und Interesse bearbeitet. Der In-
0126halt ist in zwei Worten folgender: Ein junger Brigadier,
0127José, soll eine Zigeunerin wegen einer blutigen Rauferei
0128ins Gefängniß escortiren. Von ihrer koketten, wilden Schön-
0129heit berückt, läßt er sie entschlüpfen. Für dieses Vergehen
0130degradirt und eingesperrt, eilt er nach überstandener Strafe
0131gleich zu der leichtfertigen Carmen, wird ihr Liebhaber und
0132auf ihr Drängen Schleichhändler. Immer wieder von ihr
0133betrogen und verrathen, folgt er ihr doch treulich auf ihren
0134gefahrvollen Schmugglerzügen. Endlich übermannt ihn die
0135Eifersucht gegen einen von Carmen begünstigten Torreador.
0136Er will seine Ehre, sein Lebensglück nicht vergebens hin-
0137geopfert haben; sie soll ihrem Torreador, soll ihrer
0138Schmugglerbande entsagen und mit ihm fliehen. Da sie sich
0139weigert und José höhnisch abweist, ersticht er sie. Die
0140Handlung entfaltet sich in vier Tableaux von national spa-
0141nischer Färbung: eine Straße in Sevilla mit einer Haupt-
0142wache, an der die Posten einander ablösen; eine abgelegene
0143Schänke für Schleichhändler und Dirnen; eine Bergschlucht,
0144in welcher die Zigeunerbande Halt macht; endlich ein Platz
0145in Cordova mit dem Circus der Stiergefechte als Hinter-
0146grund. Auf diesen Platz eilt Carmen als Zeugin des
0147Triumphes ihres Torreador, hier durchbohrt sie der rächende
0148Stahl des unglückseligen José. Man kann sich leicht vorstel-
0149len, welche dankbaren Situationen diese vier Acte einem
0150dramatischen Componisten bieten. Aber gewagt bleibt es
0151immerhin, einen Charakter wie Carmen auf die Bühne zu
0152bringen, eine Art zerlumpter, verwilderter Manon Lescaut,
0153ohne den versöhnend empfindsamen Zug der Letzteren. Zu-
0154mal auf die Bühne der Opéra Comique, welche Scenen
0155wie das Messerduell der beiden Nebenbuhler und einen so
0156tragischen Ausgang nie zuvor gesehen — ein neuer, stärkster
0157Beleg, wie die Bezeichnung „Komische Oper“ nur mehr
0158eine rein traditionelle und technische geworden, für irgend
0159ein Singspiel mit gesprochenem Dialog. Wenn man von
0160diesem Schlußtableau, der Ermordung Carmen’s, aufblickt
0161und ober dem Vorhang in goldenen Lettern die Devise liest:
0162Ridendo castigat mores“, so empfindet man den
0163Contrast beinahe wie einen elektrischen Schlag. Er wird
0164kaum gemildert durch den Gedanken, wie dürftige Berechti
0165gung jener Spruch und wie wenig die Musik die moralische
0166Macht und Mission habe, irgend etwas zu „züchtigen“.


0167Die Oper „Carmen“ bringt originelle Charaktere und
0168wohlvorbereitete, wirksame Situationen auf die Bühne. Sie
0169bietet in drei Rollen lohnende Aufgaben für das Talent der
0170Darsteller. Wird die Novität im Wiener Hofoperntheater
0171gegeben, wie es heißt, so dürften diese drei Charaktere
0172(Carmen, José, der Torreador) in Frau Ehnn, Herrn
0173Walter und Herrn Bignio gute Repräsentanten finden. Leicht
0174möglich, daß „Carmen“ schon früher durch die französische
0175Operngesellschaft dort gespielt wird. In beiden Fällen er-
0176wartet mich daheim die Pflicht, ausführlich über die Musik
0177zu sprechen, und ich brauche dem Urtheil der Wiener heute
0178nicht vorzugreifen. Von dem Componisten Georges Bizet 
0179sei nur erwähnt, daß er zwar ein junger Mann, aber kein
0180Neuling in der Operncomposition ist, kein Tondichter von
0181origineller und reicher Erfindung, aber ein geschickter Musiker,
0182der pikant schreibt, nicht ohne Geist und nicht ohne Empfin-
0183dung, sorgfältig in der Instrumentirung und glücklich in der
0184Benützung spanischer National-Melodien. Er ist im Leben
0185ein Schwiegersohn Halévy’s und in der Kunst ein Adoptiv-
0186sohn von Ambroise Thomas. Die Partitur von „Car-
0187men“ enthält neben vielem Unbedeutenden (was leicht zu
0188kürzen ist) manche gefällige, echt dramatische Nummer. Mit
0189Rücksicht auf das interessante Textbuch und die dankbaren
0190Rollen wäre Bizet’s Oper auch deutschen Bühnen zu em-
0191pfehlen — nicht als ein Meisterwerk, aber als eine jener
0192erfolgreichen Opern, die man bei der gegenwärtigen Novi-
0193täten-Armuth unbedenklich aufführen darf, ja beinahe auf-
0194führen muß, will man überhaupt ab und zu Neues bringen.
0195An den drei letzten Sonntagen spielte man in der
0196Opéra Comique aus dem alten Repertoire „Joconde“ und
0197Richard Löwenherz“ (an Einem Abend), dann die „Weiße
0198Frau“ und „Mignon“. Die beiden letztgenannten Opern ließ ich
0199beiseite; ich wollte mir die Erinnerung an frühere vor-
0200treffliche Aufführungen nicht trüben. Wie stark gelichtet ist
0201der ehemalige Künstlerverein dieses Theaters, und wie
0202schwach ersetzt sind die Verlornen! Von Roger nicht zu
0203reden, diesem unvergeßlichen Helden der Opéra Comique,
0204wie trefflich sang noch sein Nachfolger Montaubry den
0205Fra Diavolo, den Postillon! Ganz stimmlos geworden,
0206spielt jetzt derselbe Montaubry in Possen wie Offenbach’s
0207Geneviève de Brabant“ kleinste Partien, wahre Statisten
0208rollen. Von den hellleuchtenden Sternen der Opéra Comique
0209sind heute fast alle erloschen, bis auf die Galli-Marié,
0210die geistvolle Schöpferin der Mignon-Rolle. Ihre Stimme
0211habe ich nicht ganz unversehrt wiedergefunden, ihre Gestalt
0212breiter, behäbiger, die Gesichtszüge derber. Doch wirken ihre
0213Leistungen noch immer durch Geist und energische Frische.
0214Als Carmen leiht sie selbst der Frechheit eine gewisse An-
0215muth, sei es auch nur die Anmuth des Leichtsinns.
0216Couderc, der köstliche Komiker dieser Bühne, ist todt;
0217Marie Cabel, die virtuose Philine, hat sich für immer
0218zurückgezogen, Achard, ihr liebenswürdiger Wilhelm Meister,
0219zeitweilig. Marie Rose, ein werthvoller Schatz an Stimme
0220und Schönheit, singt nicht mehr, desgleichen Demoiselle
0221Cico, die wenigstens schön war. Capoul ist zu den Ita-
0222lienern übergegangen und die Coloratur-Sängerin Miolan-
0223Carvalho
zur Großen Oper. Was an die Stelle dieser
0224Künstler getreten, ist eben hinreichend, anständig, mitunter
0225recht gefällig (wie der Tenorist Lhérie und der
0226Bariton Bouhy in „Carmen“), aber Künstler ersten
0227Ranges sind sie nicht. Die älteren Opern pflegen
0228noch schwächer besetzt zu werden; man spart die ersten
0229Kräfte für die Novitäten. So waren in Grétry’s „Richard
0230Löwenherz“ und Isouard’s „Joconde“ nur die Rollen des
0231Blondel (Melchissédec) und des Joconde (Barré)
0232gut gegeben, alle übrigen ganz unbedeutend, die Damen an
0233Stimmlosigkeit das Maß des Erlaubten überschreitend. Was
0234dennoch an diesen Vorstellungen erfreulich berührt, nament-
0235lich im Vergleich mit der Großen Oper, ist das gute schau-
0236spielerische Ensemble, die Tradition des natürlichen, fließen-
0237den, sich nirgends vordrängenden Sprechens und Agirens.
0238Es herrscht in der Opéra Comique im Ganzen wie im Ein-
0239zelnen doch mehr künstlerischer Geist, als in der Großen
0240Oper, mehr Geist überhaupt. Das ist der gute Genius die-
0241ses Hauses, er hat es nicht verlassen und wird es hoffent-
0242lich niemals. Wenn Börne das „Publicum“ einmal eine
0243Versammlung von Menschen nannte, in welcher jeder Ein-
0244zelne ein Schwachkopf sein kann. Alle zusammen aber Ver-
0245stand haben, so darf man Aehnliches, nur etwas artiger,
0246auch von der französischen Opéra Comique behaupten. Ihre
0247Sänger können, jeder für sich, wenig Stimme und wenig
0248Gesangskunst besitzen — zusammen bilden sie doch ein ge-
0249rundetes, künstlerisch erfreuliches Ensemble.